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Laufende Krücken

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Laufende Krücken
Ein Gehroboter automatisiert das Lauftraining für Querschnittsgelähmte. Auch halbseitig gelähmte Menschen können mit dem „Lokomat” gezielter als bisher trainieren.

„Es geschah aus heiterem Himmel”, erinnert sich Karin Dorn (Name geändert). „Am Mittag war ich noch im Wald joggen, wenig später bekam ich plötzlich heftige Schmerzen im Brustkorb und später Lähmungserscheinungen im linken Bein.” Die nächsten fünf Wochen verbrachte sie in der Neurologischen Universitätsklinik in Zürich und anschließend in einer Rehaklinik. Danach konnte sie wenigstens mit Hilfe eines Stocks wieder gehen. „Entzündung im Rückenmark” lautete die Diagnose der Ärzte. Nach einigen Wochen folgte ein zweiter Schub – und diesmal war es schlimmer: Karin Dorn hatte zunächst nur heftige Schmerzen und ein Gefühl, als ob ihre Beine absterben würden. „Sie waren eiskalt”, berichtet die Ärztin aus Zürich. Der richtige Schock kam jedoch am nächsten Morgen in der Neurologischen Klinik: „Als ich aufwachte, konnte ich beide Beine nicht mehr bewegen”, erinnert sie sich.

Hilfe bekam Karin Dorn in der Züricher Universitätsklinik Balgrist. Dort begann sie – betreut von Prof. Volker Dietz, dem Chefarzt am Paraplegikerzentrum, dem Behandlungs- und Forschungszentrum der Universitätsklinik – auf einem automatisch betriebenen Laufband zu trainieren: dem „Lokomat”. Dieser durch Motoren angetriebene Laufroboter ermöglicht es erstmals, das Führen der Beine von gehbehinderten Menschen auf dem Laufband zu automatisieren – und erlaubt es den Patienten so, regelmäßiger und länger zu trainieren. Bisher hat sich die manuell geführte Lokomotionstherapie am Laufband bei zahlreichen motorischen Erkrankungen und Verletzungsfolgen als die effektivste Methode erwiesen: Mit ihr wird das Rückenmark so aufgebaut, dass der Gelähmte Schritt für Schritt wieder zu laufen lernt – ohne Hilfe des Gehirns.

Der Entwicklung des Laufroboters ging eine sechsjährige intensive Zusammenarbeit zwischen dem schweizerischen Medizintechnik-Unternehmen Hocoma und der Uniklinik Balgrist voraus. Das Resultat: ein Automat, der im Wesentlichen aus einer Hüft- und zwei Beinstützvorrichtungen (Orthesen) besteht, die mit Klettbändern in speziellen Manschetten am Körper fixiert werden können. Um die Beine des Patienten zu bewegen, sind computergesteuerte Miniaturmotoren in den Knie- und Hüftgelenken des Laufroboters eingebaut, die den Patienten zum Gehen stimulieren. Die Motoren laufen mit der Geschwindigkeit des Laufbandes synchron und garantieren so, dass die Bewegungen von Laufgerät und Laufband präzise übereinstimmen. Die Steuerung der Gelenke übernimmt eine eigens dafür entwickelte Software.

Kraftsensoren, die direkt in den Antrieben eingebaut sind, ermöglichen die Messung der Kraft, die der Patient beim Training aufbringt und stellen die Daten für das so genannte Biofeedback-System bereit. Bildschirme zeigen den Krafteinsatz während der Therapie an. Dadurch kann der Therapeut die Trainingsstrategie für den Patienten optimieren, zusätzlich wird der querschnittsgelähmte Mensch durch diese Anzeige beim Training motiviert. „Um die Handhabung des Systems weiter zu verbessern, werden wir künftig neben der visuellen Veranschaulichung auch akustische Signale und taktile Reize sowie Virtual-Reality-Technologie einsetzen”, sagt Gary Colombo, Geschäftsführer der Hocoma AG. „Unser zentrales Stichwort lautet: instrumentiertes Training. Das heißt, das Trainingsgerät soll objektive Messwerte zur Bewertung der Leistung von Patient und Therapie liefern.” Das Biofeedback-System wird künftig diese Werte während der Rehabilitation ausgeben. Daraus wird ein Schlüsselwert bestimmt, der einen Vergleich mit funktionellen klinischen Tests zulässt.

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Geplant ist, den Lokomat so zu verbessern, dass er ein seitliches Verschieben von Hüfte und Oberkörper gestattet. Dadurch wird das Bewegungsmuster natürlicher – in der bisherigen Form lässt der Lokomat das Bewegen der Beine nur parallel zur Laufbandrichtung zu. Daraus resultiert ein relativ breitbeiniges Gehen und ein starkes Hin- und Herkippen von Becken und Oberkörper. Künftig sollen die Motoren kontrollierte Bewegungen mit einem Gangmuster oder das Festhalten in einer bestimmten Stellung erlauben. „Mit dieser Möglichkeit kann man die Balance trainieren”, erklärt Colombo. „Außerdem untersuchen wir, ob der Patient dadurch tatsächlich mit einem physiologischeren Gangmuster gehen kann und ob er von diesem Training profitiert.”

Ein physiologisches Gangmuster ist wichtig, um möglichst nahe an das normale Gehen heranzukommen. Um das zu erreichen, gingen zuerst gesunde Menschen im Laufroboter, wobei die Winkelverläufe ihrer Beinbewegungen aufge-zeichnet wurden. Diese Verläufe dienen als Referenz für die so genannten Positionsregler. Sie werden von der Software so synchronisiert, dass in allen Positionen wie Anlaufen, Gehen, Beschleunigen und Anhalten die Beine entsprechend geregelt – also koordiniert bewegt – werden können. Für Karin Dorn waren die ersten Schritte im Lokomat ein sehr schönes Gefühl: „Der Erfolg zu gehen, obwohl man eigentlich gar nicht gehen kann, ist etwas Grandioses”, sagt sie.

Bei der Therapie von halbseitig gelähmten Menschen kann jedes Gelenk nicht nur so bewegt werden, dass seine Position einem vorgegebenem Verlauf folgt, sondern auch in einem Modus, bei dem der Kraftaufwand geregelt wird. Der Patient kann so mit seinem gesunden Bein mit wenig Kraftaufwand eine Seite der Orthese aktiv bewegen und damit die Gangkurve für das gelähmte Bein vorgeben. „ Eine Form der Kraftregelung ist die Freilaufregelung: Sobald in den Kraftsensoren der Antriebe durch eine Beinbewegung eine Kraft auftritt, wird diese auf Null geregelt”, erläutert Colombo. Dadurch ist es möglich, dass ein halbseitig gelähmter Mensch durch das freie Bewegen eines Beines sein eigenes, individuelles Gangmuster geht. Die Steuerung erfolgt dabei phasenverschoben: Per Elektronik wird die Gangkurve des gesunden Beines gemessen, und der Antrieb für das gelähmte Bein wird symmetrisch dazu geregelt. Dafür sind zusätzliche Sensoren und Steuermodule erforderlich, die Gewichtsbelastung, Geschwindigkeit und Gangmuster optimal anpassen.

Für eine erfolgreiche Rehabilitation muss der Patient über möglichst lange Zeit Gehversuche unternehmen. Und das sollte am besten sofort nach dem Einsetzen der Lähmung geschehen. „Denn besonders bei hochgradig gelähmten Patienten wissen wir inzwischen, dass es bei fehlender Bewegung über einen längeren Zeitraum – ab etwa einem Jahr – zu einer Verödung der für die Gehfähigkeit verantwortlichen Nervenzellen im Rückenmark kommt. Sie können dann nicht mehr reaktiviert werden”, erklärt der Züricher Uni-Arzt Dietz. „Deshalb ist es üblich, die Beine des Patienten ab Beginn der Rehabilitation auf einem Laufband zu führen.”

Beim bisherigen manuellen Laufbandtraining mussten das Physiotherapeuten tun. Das hat sich zwar in der Praxis gut bewährt, aber der Therapie waren dennoch Grenzen gesetzt: Während der ersten Trainingseinheiten auf dem Laufband konnte ein Patient seine Beine in der Regel noch nicht selber bewegen und die Arbeit der Therapeuten war dementsprechend anstrengend. Die saßen für das manuell assistierte Training neben dem Patienten in einer ergonomisch ungünstigen und unbequemen Position. Die Therapeuten ermüdeten schnell und manche klagten über körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen. „So dauerte eine Therapieeinheit in der Anfangsphase der Rehabilitation oft nur 20 Minuten, während es beim Training mit dem Lokomat keine zeitliche Begrenzung gibt”, sagt Dietz.

Entscheidend für den Erfolg des Lokomotionstrainings ist die Existenz von neuronalen Zentren im Rückenmark, die für das Gehen verantwortlich sind. Gerade Querschnittsgelähmte mit nur teilweise beschädigtem Rückenmark erhalten durch die Therapie mit dem Lokomat eine echte Chance, wieder irgendwann laufen zu können. „Es gelingt aber nur Patienten, die nicht vollständig gelähmt sind, wieder gehen zu lernen”, erklärt Dietz. „Sie dürfen außerdem keine schweren Verletzungen an Armen oder Beinen haben, beispielsweise durch einen Unfall.” Die motorischen Zentren, die für die Gehbewegung verantwortlich sind, sollten also noch autonom arbeiten können.

Karin Dorn trainiert nun auf dem manuellen Laufband. „Der Lokomat brachte mich langsam so in einen Rhythmus hinein, dass ich einfach loslaufen musste, als ich auf das manuelle Laufband wechselte.” ■

Klaus Schöffler

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