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Durch Mutation in die Moderne

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Durch Mutation in die Moderne
Vor 40000 Jahren lösten Einwanderer aus Afrika in Europa die Neandertaler ab. Die Neuen glänzten mit heute noch beeindruckenden Kunstwerken. Ein US-Forscher sagt: Eine Mutation hatte ihre Gehirne schlagartig in die Moderne katapultiert.

„Das ist schon merkwürdig“, sagt Nicholas Conard. „Die Neandertaler waren zweifellos weit entwickelte Menschen – gescheite Leute, die gute Jäger waren, Werkzeuge fertigten und ihren Feuerstein teils aus 100 Kilometer Entfernung zu ihren Wohnplätzen holten. Das zeugt von Planung, Wissen und Mobilität. Aber Schmuck ist bei ihnen nur selten nachweisbar“, wundert sich der in Cincinnati geborene Archäologie-Professor. „Und Kunst überhaupt nicht.“ Der 40-jährige Lehrstuhlinhaber für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie an der Tübinger Universität ist Fachmann für eine der spannendsten Epochen der Menschheitsgeschichte. Etwa 40000 bis 30000 Jahre ist sie in Mitteleuropa her. Da geschah etwas, was manche Forscher, in Anlehnung an den Urknall am Beginn des Universums, „kreativer Big Bang“ nennen. Aus Süddeutschland – von der Schwäbischen Alb, zwischen Tübingen und Ulm – stammen die weltweit ältesten Kunstwerke als Zeugnisse dieser Explosion. Europa inklusive Westasien war mehr als 100000 Jahre lang die Domäne der Neandertaler gewesen. Untersetzt und starkknochig, waren sie Überlebenskünstler in der damaligen Eiszeitwelt unserer Breiten: vergletscherte Berge und Moränengeröll, offene, baumlose Landschaft mit Rentier, Mammut, Pferd und Bison, etwas Wald in geschützten Talauen. In dieser Umwelt kamen sie offensichtlich glänzend zurecht. Aber dann, jenseits der Zeitmarke von 40000 Jahren, werden die typischen Steinwerkzeuge („Moustérien-Kultur“) der Neandertaler in Mitteleuropa immer seltener und sind schon zirka 35000 Jahre vor heute kaum mehr nachweisbar. Das Fundspektrum in den Höhlen der Schwäbischen Alb, vor allem in den Tälern der Donau-Nebenflüsschen Ach und Lone, wandelt sich gewaltig. In den Sedimentschichten, die jünger sind als 40000 Jahre, treten nicht nur gehäuft feine Steinklingen und Werkzeuge aus Knochen, Elfenbein und Geweih auf. Jetzt sind auch elfenbeinerne Anhänger dabei, durchbohrte Knochenperlen und Tierzähne: Schmuck. Und Kunstwerke. Da sind aus Elfenbein geschnitzte Figuren von Wildpferd und Löwe, Mammut und Wisent, Bär und Leopard. Noch beeindruckender: Mischwesen aus Tier und Mensch, vielleicht für schamanistische Praktiken – am faszinierendsten wohl der „Löwenmensch“ aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle, eine 32000 Jahre alte Elfenbeinfigur. Beleg für den kreativen Urknall ist auch eine 34000 bis 35000 Jahre alte Flöte aus Schwanenknochen – das älteste Musikinstrument der Welt. „Aurignacien“ nennen die Urgeschichtler die Epoche dieses krassen Neubeginns. Zu gleicher Zeit treten, in Fossilien nachgewiesen, neue Herren des Landes auf den Plan: Einwanderer mit Wurzeln in Afrika – graziler gebaut als die robusten Neandertaler. Sie könnten aus Südosten die Donau heraufgekommen sein, schließt Nicholas Conard aus der Kette von Fundplätzen in Bulgarien, Österreich und Süddeutschland, die sich nach Burgund und Südwestfrankreich fortsetzt. Er nennt das die „ Donaukorridor-Hypothese“. Aber nirgendwo im Donaukorridor finden sich ältere Kunstwerke als ausgerechnet in der Mitte Mitteleuropas – der Schwäbischen Alb. „Das ist wirklich schwer zu deuten“, sagt Conard kopfschüttelnd. „Wenn die Zuwanderer ihre Kunstfertigkeit mitgebracht haben – warum findet man dann in Südosteuropa, im Nahen Osten und in Afrika keine gleich alten oder älteren Kunstwerke?“ Und er scheut sich nicht vor vorsichtiger Spekulation: „Ich bin sicher, dass es Begegnungen zwischen den Alteingesessenen und den Zuwanderern gegeben hat. Diese Begegnungen könnten mal von Angst und Aggression, mal aber auch von positiver Neugier und gegenseitigem Lernen geprägt gewesen sein. Warum kann nicht gerade der biologische und kulturelle Austausch zwischen Neandertalern und Zuwanderern diesen Ausbruch von Kulturleistungen in Mitteleuropa verursacht haben? Oder kulturelle Konkurrenz?“ „Anatomisch moderne Menschen“ heißen die Zuwanderer bei den Anthropologen, da sie denselben Körper- und Schädelbau aufweisen wie die Menschen heute. Diese „ Modernen“ sind, nach Lage der Dinge, die Ursache des Umbruchs vor 30000 bis 40000 Jahren in Mitteleuropa. Ihre Kunstfertigkeit hat ihnen keinen direkten Wettbewerbsvorteil gegenüber den Neandertalern verschafft, glaubt Conard. Er sieht das „ Kunst-Können“ vielmehr als Nebenprodukt der geistigen Fähigkeiten der Modernen. Doch – welcher genau? Forscher wie beispielsweise der Brite Stephen Mithen vergleichen das Gehirn des archaischen Menschen, etwa des Neandertalers oder des noch älteren Pekingmenschen, mit einem Schweizer Messer. Es habe über mehrere Module verfügt, von denen jedoch stets nur eines aktiviert werden konnte: Soziales Wissensmodul – wie man mit anderen auskommt. Linguistisches Wissensmodul – wie man bedeutungsvolle Laute erkennt und selbst erzeugt. Technisches Wissensmodul – wie Dinge behauen, gebogen und geworfen werden, wie man Feuer macht. Natur-Wissensmodul – über essbare Pflanzen, das Verhalten von Tieren, Wetter und Tag-Nacht-Wechsel. Erst beim „Modernen“, so die Hypothese weiter, sei „Fluidität“ im Schubladen-Gehirn möglich geworden: Durchgängigkeit zwischen den Modulen, Repräsentation von Wissen in neuen Zusammenhängen. Jetzt wurden Quellen, Bäume und Berge (Natur-Modul) belebt, emotionale Beziehungen zu Pflanzen und Tieren aufgebaut (soziales Modul), anderen davon erzählt (linguistisches Modul). Fantasie, Mythen und Religion entstanden – symbolisches Denken und Handeln. Und eben die Kunst, die symbolträchtigste Verhaltensvariante von allen. Stephen Mithen zieht Parallelen zur frühkindlichen Entwicklung. Er verweist auf die Arbeiten von Prof. Annette Karmiloff-Smith vom Institute of Child Health in London. Die Forscherin hat ein weithin akzeptiertes Modell erarbeitet, wie sich, beginnend im Säuglingsalter, aus einem zunächst generalisierten „Allzweck-Computer“ ein modularisiertes Gehirn entwickelt und schließlich eines, in dem die Module durchgängig werden. Vielleicht spiegelt sich darin ein Stück Menschheitsentwicklung. Gefragt, was aus ihrer Sicht die allererste Motivation ist, sich in Form von Kunst zu äußern – beim Kleinkind ist das ab etwa zweieinhalb Jahren der Fall –, sagt Karmiloff-Smith: „Nach meinen Beobachtungen ist sein ursprünglichster Antrieb: Das Kind will eine Spur hinterlassen.“ Eine Spur, die das Kind auch noch eine Woche später mit Stolz als seine persönliche wiedererkennt: „Das bin ICH gewesen“. Spuren treiben auch Lyn Wadley um – die Spuren der Zuwanderer, die vor 40000 Jahren in Europa auftauchten, in deren Urheimat Afrika. Wadley ist Professorin für Archäologie an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, Südafrika. In Afrika haben spätestens vor 100000 Jahren anatomisch moderne Menschen – Menschen desselben Körper- und Schädelbaus inklusive Gehirngröße wie heute – die älteren archaischen Menschenformen abgelöst. Seit mindestens 100000 Jahren ist Afrika durchgängig von anatomisch Modernen besiedelt. Aber waren sie auch seit 100000 Jahren in Gehirnleistung und Verhalten „kulturell modern“? Unter „kulturell modern“ versteht Lyn Wadley „über Symbole organisiertes Verhalten“ – den Gebrauch von Symbolen, um das Zusammenleben zu organisieren. Vier materielle Indizien lässt sie als Nachweise dafür zu: Kunst – als Zeugnis für symbolische Gedanken, Schmuck – als Symbol für individuelle Repräsentation, lokale, rasch sich wandelnde Werkzeugstile – sozusagen örtliche technische Modetrends, Wohnplätze mit erkennbaren Anlageprinzipien. Die Fundlage ist mager. Die ältesten figürlichen Darstellungen vom Schwarzen Kontinent zieren bemalte Steinplatten aus Namibia. Sie zeigen eine Katze mit Menschenbeinen und sind rund 27000 Jahre alt. Die ältesten datierbaren Schmuckstücke sind Straußenei-Perlen aus Süd- und Ostafrika, 37000 bis 40000 Jahre alt. Lyn Wadleys Fazit: „Kulturelle Modernität ist hier erst vor 40000 Jahren entstanden“ – genau wie in Europa. Und das trotz Modernität in Schädelform, Gehirngröße und Gehirnbau seit mindestens 100000 Jahren. Falls – ja, falls die Fundlage nicht trügt. Nicholas Conard in Tübingen warnt: „Vorsicht vor dem Schöningen-Effekt!“ Bevor 1994 im niedersächsischen Schöningen bei Erdarbeiten der erste von inzwischen acht fantastisch erhaltenen, 400000 Jahre alten Holzspeeren ans Licht kam, hätte kaum einer dem damals lebenden Homo erectus so exzellente Jagdwaffen zugetraut – mitsamt dem Schluss auf organisierte Großwildjagd und eine fortgeschrittenere Entwicklung als bisher geahnt. „Organisches Material bleibt nur extrem selten erhalten“, sagt Conard. „Wir wissen fast nichts darüber, was die Menschen aus Holz, Rinde, Leder, Pflanzenfasern und Pigmentfarben vor zehntausenden von Jahren an Objekten geschaffen haben könnten.“ Aber nur das Nachgewiesene zählt. Einige auf Modernität verweisende Objekte aus dem steinzeitlichen Afrika sind älter als 40000 Jahre. Doch sie sind zu vereinzelt, um daraus einen generellen Trend ableiten zu können. Schlagzeilen machte Anfang 2002 der Fund von 70000 Jahre alten Ockerpigment-Brocken in der Blombos-Höhle nahe Kapstadt: Sie tragen Ritzungen von Menschenhand und wurden rasch zu den „ältesten Kunstwerken der Menschheit“ hochgejubelt. Conard winkt ab: „Das sind verzierte Objekte – keine Kunst.“ Allerdings gehört der Tübinger Urgeschichtler zu denen, die von einer länger dauernden Annäherung an die kulturelle Modernität ausgehen, nicht von einem plötzlichen Umschwung. Doch genau dies behauptet Richard G. Klein, Professor für Archäologie an der Stanford University in Kalifornien. Seine These: Es war eine genetische Spontan-Mutation im Erbgut der anatomisch modernen Afrikaner, die rasch zu einem Selektionsvorteil führte. Wie Lyn Wadley blickt auch Klein auf langjährige Grabungserfahrungen in Südafrika zurück. Und auch er siedelt den großen Umschwung im Zeitraum von 50000 bis 40000 Jahren vor heute an: „Hier verändern sich die archäologischen Befunde innerhalb weniger Jahrtausende stärker als in der ganzen Million Jahre vorher.“ Von anatomischen Veränderungen ist bei den spärlichen Fossilien jener Umbruchszeit nichts zu sehen. Aber die materiellen Relikte diesseits der Zeitmarke „40000 vor heute“ tragen die untrüglichen Zeichen der Moderne: ein viel breiteres, variierendes Werkzeugspektrum, ritualisierte Bestattungen, Schmuck und Kunst. Daher, so die Folgerung des Kaliforniers, müsse der Grund für einen solch radikalen Verhaltenswandel in einer Reorganisation des Gehirns zu suchen sein: als Folge einer spontanen Mutation. Der Stanforder Archäologe verweist auf das Nichtvorhandensein plausibler Gegenthesen. Außerdem würde seine Version erklären, warum schon seit etwa 100000 Jahren vor heute im Vorhof Afrikas, im Nahen Osten, sowohl Neandertaler als auch anatomisch moderne Menschen in derselben Großregion lebten – rund 50000 Jahre lang. Das lässt die Schlussfolgerung zu: Keiner von beiden war dem anderen deutlich genug überlegen, um ihn zu assimilieren oder zu verdrängen. Die anatomische Modernität vor 100000 Jahren wurde anscheinend noch nicht von kultureller Modernität begleitet. Daher nennen die Forscher diese Menschen „ Frühmoderne“. Das Werkzeug-Repertoire der nahöstlichen „ Frühmodernen“ ist selbst von Spezialisten kaum von dem der Neandertaler in dieser Region zu unterscheiden. Erst die anatomisch modernen Menschen der Epoche ab etwa 40000 vor heute verfügten offenbar über etwas, das sie den Neandertalern überlegen machte – im Nahen Osten wie in Europa, das erst jetzt von den Modernen besiedelt wurde. Wenn Klein Recht hat, sind somit sämtliche heute lebenden Menschen die Abkömmlinge von Gehirnmutanten. Für Horrorfilm-Freaks, die bei „Mutant“ an ein Monster denken, muss das eine ungemütliche Vorstellung sein. Doch das Wechselspiel von Mutation und Selektion ist nun mal der Motor der biologischen Evolution. Kleins Idee lässt sich mit keinem Laborexperiment der Welt beweisen oder widerlegen. Was allerdings der britische Psychiater Dr. Timothy Crow an der Universität Oxford herausgefunden hat, scheint die so kühn erscheinende Mutations-Hypothese zu stützen. Crow leuchtet seit Jahren den genetischen Hintergrund von Gehirnleistungen aus. Dabei stellte er aufgrund von DNA-Studien an Menschen, Menschenaffen und anderen Säugetieren fest: Nachdem sich vor mehr als fünf Millionen Jahren die Entwicklungslinien von Schimpanse und Mensch getrennt hatten, trat im Erbgut der Hominiden-Linie ein „Störfall“ auf: Vom X-Chromosom wurde ein DNA-Stück fälschlicherweise auf das Y-Chromosom hinüberkopiert. In einem zweiten Schritt folgte eine „parazentrische Inversion“: Die DNA-Kopie spaltete sich auf, und ein Teil der neuen Sequenz auf dem Y-Chromosom kehrte seine Leserichtung um. Beispiele solcher folgenreichen Umlagerungen sind in der Genetik aus dem Bakterien-, Pflanzen- und Tierreich bekannt. Dabei entsteht aus der alten Bausteinabfolge der DNA unter Umständen ein neuer genetischer Befehl, der von der Zelle verstanden und ausgeführt wird. Ausgerechnet innerhalb dieser Störfall-Strecke wurde Anfang 2000 das so genannte Protocadherin-Gen identifiziert. Es ist ausschließlich im Gehirn des Menschen aktiv und enthält die Bauanleitungen für eine Reihe von „Pfadfinder-Molekülen“. Das sind Stoffe, die wachsenden Nervenzellen den Weg weisen und deren Verschaltung regulieren – eine Schlüsselfunktion in der Gehirnentwicklung. Das ist natürlich Wasser auf Timothy Crows Mühle: Als Konsequenz der Mutation könnten sich damals die kognitiven Leistungen des Hominiden-Gehirns rapide verbessert haben, einschließlich der Sprachfähigkeit. Weder Menschenaffen noch andere Säuger besitzen diese mutierte Genregion. Auch auf dem X-Chromosom des heutigen Menschen ist – in leicht veränderter Version – diese DNA-Passage zu finden. Wann die Mutation stattfand, sagen die Gen-Analysen nicht aus. Das kann ebenso gut vor 50000 wie vor 5000000 Jahren, direkt nach der Trennung von Hominiden- und Schimpansen-Linie, gewesen sein. Ob Vincent van Goghs Sonnenblumen und Gustav Mahlers Symphonien die Ausläufer eines genetischen Störfalls sind – das bleibt vorerst offen.

Kompakt

Kunst zu erschaffen, ist das einzige eindeutige Merkmal, durch das sich der moderne Mensch vor 40000 Jahren von früheren, archaischen Menschenformen unterschied. In Süddeutschland stießen Archäologen auf die ältesten Kunstwerke der Welt. Vor etwa 50 Jahrtausenden scheint sich das geistige Potenzial des modernen Menschen drastisch erhöht zu haben.

Das Répertoire des Modernen Mit der Zuwanderung des anatomisch und kulturell modernen Menschen wandelt sich zwischen Donau und Garonne vor 40000 bis 30000 Jahren das Fundspektrum: Jetzt treten feine Stichel und Klingen aus Stein auf, Spitzen und Nadeln aus Knochen und Elfenbein – und erstmals Schmuck und Kunst.

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Neandertaler: Keine Spur von Kunst Die robusten Eiszeitjäger waren Meister der Levallois-Technik, bei der in geplanter Abfolge aus einem vorgeformten Kernstein scharfkantige Abschläge erzeugt wurden. Doch als die Träger der Moustérien-Kultur zirka 30000 Jahre vor heute verschwunden waren, hatten sie eines nicht hinterlassen: Kunstobjekte.

Die Geburt des Irrationalen Kunst – das ist gewolltes Auslagern von symbolischer Information aus der Gedanken- in die physische Welt. Nach dem „kulturellen Urknall“ suchte symbolisches Denken überall nach Ausdruck. Der Löwenmensch ist mit 32000 Jahren das älteste Kunstwerk der Welt, der Adorant (Anbetender) nur wenig jünger.

Wisent, Flöte, Höhlenlöwe Ausgerechnet im Zentrum Mitteleuropas, in den Höhlen der Schwäbischen Alb, stießen Archäologen auf die frühesten Belege kultureller Modernität. Elfenbeinfiguren wie der Wisent (oben) und der Höhlenlöwe (rechts) aus der Vogelherdhöhle beweisen Kreativität – nicht anders als die 35000 Jahre alte Schwanenknochenflöte (oben rechts) aus dem Geißenklösterle.

Die Rolle des Materials Man kann nur aus dem Schlüsse ziehen, was man hat. Schmuck- und Kunstobjekte, die von den anatomisch modernen Zuwanderern gefertigt wurden – Bilder oben – sind erhalten geblieben, weil sie aus Elfenbein oder Knochen bestehen. Hätten die Neandertaler etwa Sandbilder oder Bastfiguren geschaffen, wären derartige Zeugnisse symbolischen Denkens längst zerstört. So ist auch unwiederbringlich dahin, was an Malereien einst die süddeutschen Höhlen schmückte: Die Kalkwände sind eingestürzt. Nur einige bemalte Brocken der einstigen Pracht sind erhalten (oben links).

Tanzender Schamane „Gehörntes Wesen“ nannten die Entdecker diese Wandzeichnung in der französischen Trois-Frères-Höhle – vielleicht die Darstellung eines Schamanen in Rentier-Maskierung. Bilder wie dieses sind klare Indizien für Fantasie und Spiritualität.

An der Schwelle zur Geisterwelt Der „Saal der Stiere“ in der Höhle von Lascaux in Südwestfrankreich, zirka 15000 Jahre alt, verzaubert seine Betrachter noch heute. Anthropologen deuten solche Malereien inzwischen als Verarbeiten und Ausleben von Trance-Erfahrungen.

Unsichere C-14-Datierung

„Mit den Radiokohlenstoff-Datierungen aus der Zeitspanne zwischen 50000 und 30000 Jahren vor heute stimmt einiges nicht“, urteilt Prof. Nicholas Conard von der Universität Tübingen. „Aus den Höhlen der Schwäbischen Alb mit ihren vielen Funden in ungestörten Sedimentschichten haben wir sehr dichte Daten. Daher sehen wir hier in aller Deutlichkeit die methodischen Probleme.“ Per Beschleuniger-Massenspektrometrie kann man das Verhältnis der Kohlenstoff-Isotopen C-14 und C-12 in kohlenstoffhaltigen Materialien messen – beispielsweise in fossilem Knochen oder im verkohlten Holz einer Feuerstelle. Lebende Organismen nehmen C-14 aus der Atmosphäre auf und bauen es in ihre Körper ein. Diese Kohlenstoff-Form ist radioaktiv und zerfällt mit einer Halbwertszeit von 5730 Jahren. Nach dem Tod des Lebewesens kommt kein neuer Kohlenstoff-14 durch Atmung und Nahrung hinzu. Also gibt von da an das Verhältnis C-14 : C-12 Auskunft über das Alter der Reste. Indes: Während der Eiszeit schwankten nicht nur die globalen Jahresdurchschnittstemperaturen massiv – auch die Konzentration an C-14 und damit das C-14 : C-12-Verhältnis in der Atmosphäre durchliefen eine wilde Achterbahnfahrt. Die Konsequenz daraus erleben die Tübinger Forscher bei ihren Grabungen: Funde aus tieferen und daher zweifelsfrei älteren Grabungsschichten weisen in der Radiokohlenstoff-Datierung absurderweise ein jüngeres Alter aus als die darüber liegenden. „Bei Radiokohlenstoff-Datierungen, die älter sind als 30000 Jahre, ist dieses Problem besonders ernst“, sagt Conard. Nach den Radiokohlenstoff-Daten scheinen in einigen Regionen Europas Neandertaler und Zuwanderer noch 10000 Jahre lang nebeneinander gelebt haben, woraus einige Urgeschichtler umfangreiche Überlegungen und Schlussfolgerungen ableiten. Doch, so Conard: „ Unter Umständen ist die angeblich lange Koexistenz von Neandertalern und modernen Menschen in Europa nur ein Ergebnis der Datierungs-Anomalien.“

Thorwald Ewe

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Kunst|stein  〈m. 1〉 1 aus Beton hergestellter Baustein 2 aus Steinbrocken u. einem Bindemittel hergestellter Stein, der das Aussehen eines Natursteines hat … mehr

Ba|ry|on  〈n.; –s, –o|nen; Phys.〉 schweres Elementarteilchen, z. B. Neutron, Protron, Hyperon; →a. Meson … mehr

ver|kehrs|tüch|tig  〈Adj.〉 tauglich, sich ohne Gefährdung der Verkehrssicherheit im Straßenverkehr zu bewegen; Sy verkehrstauglich … mehr

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