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Alle Menschen sind Mischlinge

Allgemein

Alle Menschen sind Mischlinge
Etwa wie die Papuas auf Neuguinea könnten die Einwanderer in Europa vor 40000 Jahren ausgesehen haben. Ein Molekulargenetiker liest aus seinen Daten: Die Neuen vermischten sich mit der Urbevölkerung – eine überraschende Wende.

Ob wir aus Nagasaki stammen oder aus Nairobi, ob aus Lima oder Limburg: „In unseren Genen sind wir alle Afrikaner”, bringt der Frankfurter Paläobiologe Prof. Friedemann Schrenk das Thema Menschwerdung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. „Afrika war die Wiege für sämtliche Entwicklungsstufen der Menschheitsgeschichte.” Durch anatomische Untersuchungen an fossilen Schädeln kommt auch der Hamburger Paläoanthropologe Prof. Günter Bräuer zu dem Schluss: Die modernen Menschen haben sich in Afrika entwickelt und nicht parallel auf mehreren Kontinenten. Vor rund 40000 Jahren sind sie in Europa eingewandert – aus Südosten, entlang der Donau und ihrer Nebentäler, postuliert der Tübinger Archäologe Prof. Nicholas Conard (siehe „Durch Mutation in die Moderne”). Hier trafen sie auf die archaische, alteingesessene Bevölkerung Europas, die vermutlich hellhäutigen Neandertaler. Die Haut der Einwanderer war höchstwahrscheinlich dunkel getönt, da die intensive Sonnenstrahlung Afrikas und des Nahen Ostens die Pigmentierung begünstigt. Körper inklusive Schädel der Einwanderer waren „ anatomisch modern” gebaut – wie bei den Menschen der Gegenwart. Wie kann man sich diese afrikanischen Neu-Europäer vorstellen, jenseits der reichlich belanglosen Frage nach der Hautfarbe? Folgt man dem Genetiker Dr. Peter Forster von der Universität Cambridge und dem Mathematiker Dr. Arne Röhl von der Universität Hamburg, müsste man wohl – mit gebührender Vorsicht – schlussfolgern: etwa wie die auf Neuguinea lebenden heutigen Papuas. Forster und Röhl stellten Rechnungen mit „ phylogenetischen Netzwerken” an: Ein von den beiden Forschern erstelltes Computerprogramm bewertete die relative Nähe und Ferne genetischer Merkmale von heute lebenden Menschen und destillierte daraus Aussagen über die menschliche Entwicklungsgeschichte. Die Studie erschien 2001 im Fachblatt „Molecular Biology and Evolution” und erbrachte unter anderem die Aussage: Die Papuas sind den afrikanischen „Frühmodernen” vor zehntausenden von Jahren genetisch am ähnlichsten. Die afrikanischen Auswanderer drangen auf einer durch Südostasien und die Sundainseln führenden Route bis auf die pazifischen Inseln vor. In den abgeschiedenen Bergtälern im Inneren Neuguineas könnten sie derartig isoliert vom Rest der Welt gewesen sein, dass nur wenig Genfluss aus anderen Bevölkerungen stattfand. „Molekulargenetik” heißt die Disziplin, die aus den Informationen in der Erbsubstanz DNA von heute lebenden Menschen entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge ableitet – und letztlich Stammbäume. Doch diese genetischen Analysen leiden noch an Kinderkrankheiten. Das gilt auch für die molekulargenetische Studie von Forster und Röhl. Zum einen ist die zugrunde liegende Mathematik selbst für stammesgeschichtlich arbeitende Kollegen kaum zu durchschauen. Zum anderen weicht die aus den DNA-Rechnungen abgeleitete Besiedlungsgeschichte einzelner Erdregionen erheblich von dem ab, was die Fossilfunde sagen. So datierten Forster und Kollegen den afrikanischen Auszug auf 54000 Jahre vor heute. Aber in Australien wurden menschliche Fossilien gefunden, die 60000 Jahre alt zu sein scheinen. Seit Mitte der achtziger Jahre haben die molekulargenetischen Studien lawinenartig zugenommen. Eine der aufsehenerregendsten Arbeiten veröffentlichten die kalifornischen Molekulargenetiker Dr. Rebecca Cann, Dr. Mark Stoneking und Prof. Allan Wilson im September 1987 im renommierten Fachmagazin „nature”. Sie schlugen darin die Existenz einer „mitochondrialen Eva” vor – einer afrikanischen „Urmutter”. In ihrer richtungweisenden Arbeit hatten die Forscher aus Berkeley die Erbsubstanz der Mitochondrien von 147 Menschen aus verschiedenen Weltregionen analysiert. Die Mitochondrien sorgen für den Energiestoffwechsel im Gewebe und werden deswegen oft als „Kraftwerke der Zelle” bezeichnet. Ihre DNA („mt-DNA”) ist unabhängig von der im Zellkern gelagerten Erbsubstanz. Anders als die Zellkern-DNA, die bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle auf komplizierte Weise stets neu rekombiniert wird – wodurch sich genetische Spuren wieder verwischen –, stammt mt-DNA allein von der Mutter. Da sie auch noch etwa zehnmal schneller mutiert, lässt sich durch die Analyse der mitochondrialen Sequenzunterschiede ein Stammbaum rekonstruieren. Das Team um Wilson kam zu dem Schluss: Die genetischen Wurzeln der gesamten Menschheit liegen in Afrika, und eine Menschengruppe um die „mitochondriale Eva” verließ vor etwas mehr als 100000 Jahren die Savannen Ostafrikas, um die Welt zu erobern. Forciert durch diese Studie galt ein grandioser Siegeszug des anatomisch modernen Menschen vor rund 100000 Jahren, in dem er sich die Welt und ihre archaischen Bewohner unterwarf, als Standardszenario. Überall dort, wo er auftauchte, verschwanden ältere Menschenformen wie der Peking- und Javamensch in Asien und der Neandertaler in Europa – Opfer der Eroberung „ out of Africa”? Dieser fast zur Lehrmeinung gereiften Eroberungsthese widerspricht seit Jahren eine kleine Forschergruppe um Milford Wolpoff von der University of Michigan. Wolpoff favorisiert die Vorstellung einer „multiregionalen” Entstehung des modernen Menschen. Demnach wäre der heutige Homo sapiens an verschiedenen Orten der Erde mehrfach unabhängig aus Homo-erectus-ähnlichen Vorfahren hervorgegangen. Ebenso wie der Neandertaler seine genetischen Spuren im Europäer hinterlassen hätte, müssten dann Ostasiaten und australische Aborigines auch den Peking- beziehungsweise den Javamenschen zu ihren Vorfahren zählen. „Die heute so vielgestaltigen Menschen stammen nicht sämtlich nur von einer einzigen afrikanischen Menschengruppe ab”, ist Wolpoff überzeugt. Diesen Grundsatzstreit konnten die Genetiker mit ihren DNA-Analysen bislang nicht beilegen. Sie hatten selbst zu kämpfen: Viele der molekulargenetischen Studien zogen wegen methodischer Probleme heftige Kritik auf sich – vor allem die zugrunde liegenden mathematischen Verfahren. Dies blieb auch dem Wilson-Team mit seiner „Eva”-Studie nicht erspart. Von unzureichender Stichprobenmenge bis zu fehlerhaftem Einsatz von Computersoftware und Statistik mussten die Molekulargenetiker sich vieles vorhalten lassen. Mit diesen Ungereimtheiten in der Molekulargenetik muss Schluss sein, hat sich der Amerikaner Alan Templeton vorgenommen. Der Biologe an der Washington University in St. Louis will die Ausbreitungsgeschichte des Menschen verlässlich rekonstruieren – in einer wahren Materialschlacht. Der Verlauf des ersten Feldzugs war in „nature” Anfang März 2002 zu lesen. Templeton hat mit dem von ihm entwickelten Computerprogramm „Geodis” elf verschiedene genetische Stammbäume des Menschen – basierend auf unterschiedlichen Datensätzen von mitochondrialer DNA, den Y-Chromosomen und anderen Genorten – miteinander verrechnet. In diese Analyse flossen die genetischen Daten von etwa 6000 heute lebenden Menschen aus allen Regionen der Erde ein. Sein Ergebnis: In der Geschichte der Menschwerdung hat es mindestens drei Ausbreitungswellen aus Afrika gegeben – die letzten beiden vor rund 600000 und vor etwa 95000 Jahren. Damit können sich die Befürworter der „Out of Africa”-These einmal mehr bestätigt sehen. Doch Templeton hat gleichzeitig Hinweise gefunden, dass es zu lokalen Vermischungen des modernen Menschen mit den Nachfahren der ersten Wanderwelle kam – des Frühmenschen Homo erectus nämlich, der bereits vor über 1,7 Millionen Jahren Afrika verlassen hatte. So haben Wolpoffs „ Multiregionalisten” überraschend Schützenhilfe erhalten. Denn vor allem für die jüngste Migrationswelle vor 95000 Jahren liest Templeton aus seinen Daten in Europa und Asien ein wiederholtes Einschmelzen regionaler Eigenentwicklungen in einen gemeinsamen Genpool. Also hätten sich die Afrikaner, die in Europa einsickerten, tatsächlich mit den alteingesessenen Neandertalern gepaart. Das steht in direktem Widerspruch zum 1997 veröffentlichten Befund einer Genetikergruppe um Svante Pääbo: Danach soll der Neandertaler angeblich nicht zu den Vorfahren des heutigen Menschen zählen. Templeton ist jedenfalls das Kunststück gelungen, die beiden bislang konträren Ansichten zur Menschheitsgeschichte elegant zu versöhnen. „Was er vorschlägt, ist so etwas wie eine ,multiregionale Out-of-Africa-Hypothese‘”, deutet Friedemann Schrenk die Arbeit des US-Kollegen, „mit mehreren Wanderwellen aus dem Ursprungskontinent Afrika und danach separaten Weiterentwicklungen in den neuen Heimatregionen.” Die verschiedenen Menschenformen wären mithin in langen Phasen ihrer Geschichte nicht nur Zeit-, sondern auch Bettgenossen gewesen. „Ich denke, solche Vermischungen waren eher die Regel als die Ausnahme”, stimmt Schrenk zu. Auch Günter Bräuer hält Kreuzungen für wahrscheinlich: „Wir tragen Spuren der genetischen Information der Urmenschen noch immer in uns”, ist er seit langem überzeugt – auch wenn er den Löwenanteil den afrikanischen Einwanderern zuweist. Zu Templetons Arbeit wird jetzt Widerspruch vernehmbar. Zum einen bemängeln – einmal mehr – die Kritiker, dass kaum jemand in der Lage ist, die Mathematik hinter der Studie zu durchdringen. Zum anderen hält beispielsweise Rebecca Cann es für allzu ehrgeizig, gleich den gewaltigen Datensatz der ganzen Menschheit anzugehen: „Templeton hätte sich erst ein kleineres Ziel vornehmen sollen, um seine neue Methode zu testen – etwa die Besiedlungsgeschichte pazifischer Inseln.”

Kompakt

Molekulargenetische Untersuchungen weisen, genauso wie die Fossilien-Fundlage, auf einen afrikanischen Ursprung der Menschheit. Doch eine neue Studie besagt: Vermischungen der afrikanischen Auswanderer mit regionalen, archaischen Bevölkerungen – beispielsweise Neandertalern – haben stattgefunden.

Matthias Glaubrecht

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