Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Borderline – Sucht nach Risiko

Allgemein

Borderline – Sucht nach Risiko
Die Krankheit ist überwiegend weiblich und auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Über Selbstverletzungen und riskantes Verhalten wird dabei innerer Druck abgebaut. Jetzt gibt es Hilfsangebote.

Die Abiturientin fällt zwar durch ihre krassen Stimmungswechsel auf und weil sie bis an die Schmerzgrenze Ausdauersport treibt. Aber niemand findet das weiter bedenklich. Auch nicht, dass sie immer viel zu schnell Auto fährt. Erst als sie beginnt, bewusst rote Ampeln zu ignorieren und wahllos Medikamente schluckt, um die Reaktionen ihres Körpers zu beobachten, kommen ihrer Familie und Freunden Bedenken. Den Sinn dieses eigenartigen Verhaltens versteht keiner so recht. Erst auf den zweiten Blick verraten sich Zusammenhänge: Die Suche nach Risiko, Gefahr und Schmerz ist der Versuch, innere Spannungen abzubauen, die sich anders nicht mehr kanalisieren lassen. Solch extreme Aktionen können Zeichen für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung sein, die wegen ihrer vielfältigen Symptome oft unerkannt bleibt. Noch bis vor kurzem galt sie praktisch als unbehandelbar. Rasantes Fahren, Börsenspekulationen mit hohem Risiko, S-Bahn-Surfen, Alkohol- und Drogenexzesse, Selbstverletzungen – viele Verhaltensweisen von „ Borderlinern“ werden als jugendlicher Leichtsinn oder Impulsivität fehlgedeutet. „Aber wenn einer zweimal im Jahr mit dem Motorrad stürzt oder mit seinem Risikoverhalten ein ganzes Unternehmen in den Ruin treibt, hat das oft tiefere Ursachen“, erklärt Ulrich Schweiger, leitender Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Lübeck. Experten schätzen, dass ein Prozent der Bevölkerung an dieser Persönlichkeitsstörung leidet. Der amerikanische Psychiater Otto Kernberg, einer der bekanntesten Borderline-Forscher, vermutet entsprechende Symptome sogar bei zehn Prozent der Bevölkerung in den Industrieländern. Die Diagnoserate ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen – auch weil das Wissen über die Störung zugenommen hat. Etwa ein Fünftel aller Aufnahmen in die Psychiatrie hat mit Borderline-typischem Verhalten zu tun. Borderliner galten lange als Wandler auf der Grenzlinie zwischen Neurose und Psychose. Heute geht man von einem eigenständigen Krankheitsbild mit vielen unterschiedlichen Gesichtern aus. Gemeinsam sind allen Betroffenen ihre instabilen Gefühle: heute apathisch, morgen Gefühlsausbrüche, Aggressionen und extremes Verhalten. Sie sind Prototypen des Russisch-Roulette-Spielers, stürzen sich in Aktionen, die sie später selbst als irrational und gefährlich einschätzen. Die Welt eines Borderliners ist entweder schwarz oder weiß. Mitmenschen werden idealisiert oder verteufelt, sind mal Gott, mal Schwein. Auch das Selbstbild schwankt zwischen maßloser Überschätzung und Selbsthass. Einen Sinn für Nuancen hat der Borderliner nicht. Allerdings müsste man eher sagen: die Borderlinerin, denn die Betroffenen sind vor allem weiblich – und jung. Rund 75 Prozent sind Frauen zwischen 15 und 25 Jahren. Sie richten die Aggressionen meist gegen sich selbst. Manche werden mit über 1000 Schnittverletzungen in die Klinik eingeliefert. Sie drücken Zigaretten auf ihrer Haut aus, essen absichtlich verdorbene Nahrungsmittel oder duschen zu heiß. Mit Masochismus hat das freilich nichts zu tun, denn das Schmerzempfinden ist in dieser Phase reduziert. „Die Selbstverletzung bringt seelische Erleichterung. Es ist ein Ventil, wenn ich nichts anderes finde, um den Leidensdruck zu verändern“, erzählt eine 21-jährige Patientin. Was bringt Menschen dazu, Schmerz und Todesgefahr als psychische Überlebensstrategie zu entwickeln? „Es sind meist traumatisierende Erlebnisse in der Kindheit wie sexueller Missbrauch, Gewalt, Trennungen und emotionale Vernachlässigung“, erklärt Ulrich Schweiger. Auch übertriebene Strenge gehört dazu, wie beim Vater der Abiturientin, der sie als Kind barfuß im Wald aussetzte, weil sie nicht schlafen wollte. Neuerdings sehen Psychologen auch gegenläufige Extreme als Risikofaktoren: eine überbehütende und leistungsfixierte Erziehung, die es Kindern unmöglich macht, sich zu distanzieren und ein stabiles unabhängiges Ich zu entwickeln. „Aber Borderliner können lernen, die schier unerträglichen Spannungen auszuhalten“, sagt Ulrich Schweiger, der ein neues Programm für Borderliner aufgebaut hat, die auch noch an Pharmakasucht, Ess- oder Angststörungen leiden. Grundlage des Lübecker Programms ist der dialektisch-behaviorale Ansatz der amerikanischen Psychologin Marsha Linehan. Er stammt aus der Verhaltenstherapie und wurde in den neunziger Jahren entwickelt. Auch das Universitätsklinikum Benjamin Franklin (UKBF) der FU Berlin und die Psychiatrische Abteilung der Uniklinik Freiburg therapieren nach dieser Methode. „In der ersten Phase lernen die Patienten, ihre Spannungen mit anderen als selbstschädigenden Methoden abzubauen“, erklärt Ulrich Schweiger. Weiter lernen sie, mit ihrer Angst oder Wut besser umzugehen. Die emotionale Belastbarkeit soll damit allgemein erhöht werden und der Umgang mit Stress geübt werden. Die Patienten lernen zu verstehen, warum sie sich manchmal extrem verhalten und welche Folgen das für sie hat. Um dauerhaft auf die Selbstschädigungen und den Risiko-Kick verzichten zu können, üben die Patienten neue Verhaltensweisen: „Sie trainieren soziale Kompetenzen, beispielsweise sich den Forderungen anderer selbstbewusst entgegenzustellen, anstatt wütend oder unterwürfig zu reagieren“, sagt Ulrich Schweiger. Entspannungs- und Meditationsübungen helfen, sich besser auf Aufgaben konzentrieren zu können. In der letzten Therapiephase wird das Erlernte in den Alltag übertragen und erprobt. 140 Patienten hat Ulrich Schweiger mit der neuen Methode behandelt. Die zwölf Wochen dauernde stationäre Therapie bringt zwar keine endgültige Heilung, aber sie reduziert die Symptome erheblich, im Mittel um 35 Prozent, so das Zwischenergebnis der Lübecker Wissenschaftler. „Das ist schon viel, denn es bedeutet weniger Klinikaufenthalte, mehr Kraft für Arbeit, Ausbildung, Freunde und Partnerschaft“, fasst Schweiger die Perspektiven zusammen. Was der Heilung in vielen Fällen offensichtlich zu Hilfe kommt, ist schlicht das Älterwerden. Neuere Untersuchungen zeigen, dass sich das Risikoverhalten „ auswächst“, denn es gibt kaum Patienten, die älter sind als 40 Jahre. Psychologen vermuten, dass Borderliner mit dem Erwachsenwerden bessere Methoden entwickeln, um die inneren Spannungen abzubauen. Sprich: Mehr Lebensroutine könnte den Umgang mit den extremen Stimmungsschwankungen erleichtern.

Kompakt

Junge Frauen zwischen 15 und 25 sind für Borderline besonders anfällig. Ein wankendes Selbstbild ist meist der Auslöser für diese Persönlichkeitsstörung. Lebensroutine scheint in vielen Fällen zu helfen.

Eva Tenzer

Anzeige
Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

auffah|ren  〈V. 130〉 I 〈V. i.; ist〉 1 aufeinanderfahren, zusammenstoßen 2 mit (zu) geringem Abstand hinter einem anderen Fahrzeug herfahren … mehr

Au|gen|trost  〈m. 1; unz.; Bot.〉 Angehöriger einer Gattung der Rachenblütler, kleines, halbparasitisches Kraut: Euphrasia ● du bist mein ~ 〈fig.; poet.〉 mein Liebstes, meine ganze, einzige Freude … mehr

Gold|lack  〈m. 1; unz.; Bot.〉 in Südeuropa heimischer Kreuzblütler mit wohlriechenden, hellgelben bis dunkelbraunen Blüten: Cheiranthus cheiri

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige