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Abschied vom Egoisten

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Abschied vom Egoisten
Mit einfachen Spielregeln versuchen Wissenschaftler, die Interaktion von Menschen zu berechnen. Doch neue Forschungen zeigen, dass die bisherigen Ansätze der konventionellen Spieltheorie nicht ausreichen, um menschliches Verhalten zu verstehen.

„Jeder denkt nur an sich – nur ich denke an mich”, lautet der Leitsatz der Egozentriker. Dabei ist Leben in der Regel nicht nur von ständigem Kampf geprägt, sondern noch stärker von erstaunlichen Formen der Kooperation: Jede Zelle ist eine symbiotische Gemeinschaft aus Organismen, die in früheren Zeiten der Evolution unabhängig voneinander existiert haben. Bienen, Ameisen und auch einige andere Insekten der Hautflüglergattung haben sich zu komplexen Superorganismen zusammengeschlossen, in denen die Mehrzahl der Mitglieder auf eigene Nachkommen verzichtet. Gemeinschaften bei Menschen und Tieren basieren auf Austausch und Kooperation. Mit Spielen versuchen Mathematiker, Biologen und Wirtschaftswissenschaftler am Computer zu modellieren, wie es unter lauter eigennützigen Mitspielern zu stabilen Formen der Kooperation kommen kann. Schon mit wenigen Spielregeln entstehen in Computermodellen komplizierte Strukturen, die sich als Ausbreitung von Kooperation deuten lassen. Ob solche Computermodelle die versteckten Motive hinter uneigennützigem Verhalten bloßlegen, ist heute umstrittener denn je. Wenigstens beim Menschen kommen psychologische und kulturelle Faktoren dazu, die bisher in solchen Modellen keine Rolle gespielt haben. Den Grundstein für die Spieltheorie legten in den vierziger Jahren der Mathematiker John von Neumann und der Wirtschaftstheoretiker Oskar Morgenstern. John von Neumann war ein leidenschaftlicher Pokerspieler, hatte aber dabei weitaus weniger Erfolg als in der Wissenschaft. Wann ist es am besten zu bluffen, und wann sollte man passen, fragte er sich. Er bewies, dass für ein stark vereinfachtes Pokerspiel mit nur zwei Spielkarten eine optimale Strategie existiert und begann zusammen mit Morgenstern, Interessenkonflikte zwischen zwei Spielern allgemeiner zu formulieren. Die Annahmen der beiden Forscher waren zunächst sehr einfach: Was der eine gewann, verlor der andere, die Interessen standen sich also diametral gegenüber. Außerdem waren beide Spieler rational und allwissend und konnten die Überlegungen des anderen durchschauen. Dies führte jedoch, wie Morgenstern feststellte, zu Endlosschleifen, denn der eine Spieler weiß ja, dass der andere weiß, was er denken wird, und kann seine Entscheidung danach richten. Leider wird auch dies vom Gegner mitgedacht. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma: Die beiden Forscher mussten ihre Annahmen dahingehend ändern, dass sich ein Spieler nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit für eine der Optionen entscheidet. Wenig später konnte der junge Mathematiker John Nash (bekannt aus dem Kinofilm „A Beautiful Mind”) das Konzept entscheidend erweitern, indem er nicht danach fragte, was in einer gegebenen Situation die beste Entscheidung wäre, sondern das Problem von der anderen Seite betrachtete: Er nahm an, dass es eine Strategie gibt, bei der sich keiner der Spieler weiter verbessern kann und untersuchte deren Eigenschaften. „Das ist ja trivial, bloß ein Fixpunkttheorem”, fertigte von Neumann den 20-jährigen Nash zunächst ab. Aber die so genannten Nash-Gleichgewichte waren viel allgemeiner als die Lösungen, die von Neumann und Morgenstern proklamiert hatten und fanden sich auch in Spielen, die keine „Nullsummenspiele” mehr waren. Erst so wurde das Phänomen der Kooperation mathematisch greifbar. Denn natürlich zeichnen sich Kooperationen dadurch aus, dass jeder der Beteiligten dabei das maximal Mögliche herausholt. Allerdings steht der Eigennutz der Beteiligten oft ihren eigenen Interessen im Weg. Das belegt das vor fast fünf Jahrzehnten erdachte Gefangenendilemma, in dem die Komplizen Hans und Kurt unabhängig voneinander verhört werden. „Wollen Sie auspacken, oder leugnen Sie?” wird jeder gefragt. Wenn Hans leugnet, Kurt aber auspackt und ihn belastet, bekommt er fünf Jahre Gefängnis und Kurt ist frei. Packt Hans dagegen aus, während Kurt dichthält, bekommt der unglückliche Kurt fünf Jahre, und Hans kann nach Hause gehen. Packen beide aus, dann kriegen sie jeder vier Jahre. Und leugnen beide, dann bekommen sie beide jeweils nur zwei Jahre. Für Hans wäre das Beste, wenn Kurt dicht hielte und er ihm die Schuld geben könnte. Aber Kurt ist ja auch nicht dumm und überlegt sich, dass Hans solche Gedanken hegt. Er wird natürlich auspacken. So wandern am Ende beide für vier Jahre hinter Gitter. Hätten sie dagegen kooperiert, wären sie nach zwei Jahren wieder draußen gewesen. Doch das Gefangenendilemma endet im Nash-Gleichgewicht unausweichlich damit, dass beide gestehen. In Wirklichkeit spielen zwischen-menschliche Erfahrungen, soziale Intelligenz, Emotionen und moralische Werte eine große Rolle. Aber auch die Tatsache ist wichtig, dass man sich nach solch einem „Spiel” wieder treffen könnte. Die Möglichkeit, das Gefangenendilemma zu wiederholen, verändert die Situation: Wenn die Spieler wissen, wie sich der andere im letzten Spiel verhalten hat, können sie sich in der neuen Runde darauf einstellen. Hat der andere kooperiert, könnte man ihm auch für diesmal vertrauen – oder ihn eben deshalb ausnutzen. Der Politologe Robert Axelrod von der Universität von Michigan in Ann Arbor veranstaltete 1981 ein Turnier, in dem 62 Computerprogramme mit unterschiedlichen Spielstrategien gegeneinander antraten. Die erfolgreichste Strategie war das schlichte „Tit for Tat” (Wie du mir, so ich dir), das Anatol Rapoport, ein Psychologe der kanadischen Universität Toronto, eingereicht hatte. Bei Tit for Tat beginnt jeder Spieler grundsätzlich mit Kooperation, hört damit aber auf, sobald der andere mogelt. Allerdings nimmt der Spieler die Kooperation wieder auf, wenn der Partner aufs Mogeln verzichtet. Die Strategie vergilt Vertrauen mit Vertrauen, verzeiht aber keine Tricksereien. Turniere zwischen verschiedenen Spielstrategien können zeigen, welche Strategien sich im Lauf der Generationen in einer virtuellen Population durchsetzen werden. Denn die Punktzahl jedes Spielers kann in Form von virtuellen Nachkommen ausgezahlt werden, die die gleiche Strategie verfolgen, während der Spieler selbst nach einer Anzahl von Runden stirbt. So wird der Prozess der Evolution nachgebildet, und auch in solchen künstlichen Populationen setzen sich Tit-for-Tat-Spieler langfristig durch, obwohl sie niemals mehr Punkte machen als Spieler, die andere ausnutzen. Doch von Kooperationsverweigerern lassen sie sich höchstens einmal über den Tisch ziehen, während sie mit anderen Tit-for-Tatlern dauerhaft gewinnbringend kooperieren und dabei stetigen Gewinn einfahren. Spieltheoretiker sprechen von einem „gegenseitigen Altruismus”, der aber voraussetzt, dass man Gelegenheit hat, sich wieder zu treffen. Menschen leben jedoch mehrheitlich in großen Gruppen – in Städten oder Wohnsiedlungen – und kooperieren täglich ganz selbstverständlich mit völlig Fremden, denen sie oft nicht mehr begegnen werden. Dennoch funktioniert die Kooperation, weil sich die Mehrzahl der Menschen fair verhält. Ein sehr vereinfachtes Spiel, um diese Fairness zu messen, ist das so genannte Ultimatum-Spiel (siehe vorherigen Beitrag „Unnatürlich fair”). Ein Schlüssel, um die Resultate dieses Spiels zu verstehen, könnte die Fähigkeit sein, übereinander zu reden und etwas über Handlungen zu erfahren, die man selbst nicht miterlebt hat. Um diese Vermutung zu testen, entwarfen Martin Nowak und Karen Page vom Institute for Advanced Study in Princeton zusammen mit dem Spieltheoretiker Karl Sigmund von der Universität Wien ein neues Modell, das eine virtuelle Bevölkerung im Computer simuliert, in der immer neue Partner aufeinander treffen und das Ultimatum-Spiel spielen. Nach jeder Runde bekamen die Spieler entsprechend ihrem Einkommen Nachwuchs, der ihr Verhalten erbte – mit zufälligen Mutationen. Es gab in diesem evolutionären Spiel vier Verhaltensweisen, die die Spieler ihren Nachkommen vererben konnten: Hohe Angebote machen und niedrige ablehnen (fair und anspruchsvoll), hohe Angebote machen und niedrige akzeptieren (fair und anspruchslos), niedrige Angebote machen und niedrige ablehnen (unfair und anspruchsvoll), niedrige Angebote machen und niedrige akzeptieren (rational). Nach mehreren Generationen setzte sich die „rationale” Verhaltensweise durch. Aber dann führten Nowak, Page und Sigmund für jeden virtuellen Spieler einen neuen Parameter ein, der den Partnern Informationen über vergangenes Verhalten gab. Dadurch setzte sich allmählich die faire und anspruchsvolle Verhaltensweise durch. Kurzfristig bedeutete es zwar einen Verlust, ein niedriges Angebot auszuschlagen, aber langfristig sichert man sich dadurch den Ruf, auf fairen Angeboten zu bestehen. Der Spieltheoretiker Karl Sigmund untersucht zurzeit ein Computermodell, bei dem jeder nur mit seinen nächsten Nachbarn an einem Spiel um ein gemeinsames Gut teilnehmen kann – und dabei entweder wirklich kooperiert, als Trittbrettfahrer die Anstrengungen der andern ausnutzt oder sogar gleich aussteigt. „Diese Begrenzung auf eng benachbarte potenzielle Spielpartner erzeugt unvorhergesehene Effekte, und die Option auszusteigen, erhöht den Nutzen der Kooperation insgesamt”, erklärt Sigmund. Man könnte sich eine Gruppe von Urmenschen denken, die zusammen eine Treibjagd planen. Dieses Vorhaben ist zwar anstrengend und riskant (Kosten), verspricht aber auch hohen Gewinn. Einige scheren gleich aus und sammeln stattdessen lieber Pilze (Einzelgänger – kleiner Gewinn, kleine Kosten), andere tun so, als ob sie an der gemeinsamen Jagd teilnehmen, in Wirklichkeit aber bleiben sie abseits und kommen erst beim Teilen der Beute wieder hervor (Trittbrettfahrer – großer Gewinn, keine Kosten). Einige setzen sich wirklich ein, müssen aber den Gewinn mit den Schmarotzern teilen. Das Computermodell rechnet mit einer Population aus etwa 5000 Spielern, denen zufällig Eigenschaften zugeordnet werden. Jeder Spieler beobachtet aber, wie viel Gewinn der Nachbar einstreicht und kann danach seine Strategie verändern. Spontan entstehen Inseln der Kooperation, sie wachsen, breiten sich aus, verschwinden aber auch wieder, da sich bei vielen Kooperatoren das Trittbrettfahren wieder lohnt. Bei Sigmunds Spiel ist es besser zu verweigern, wenn schon die meisten in der Nachbarschaft kooperieren. Verweigern jedoch die meisten, ist es besser, gar nicht mitzumachen. Machen allerdings die meisten nicht mit, ist es besser, zu kooperieren. Spieltheoretiker wie Karl Sigmund zeigen, dass Kooperation auch zustande kommen kann, wenn alle Protagonisten nur durch die Sorge um ihr eigenes Wohl motiviert sind. Die Notwendigkeit, sein Gesicht vor den anderen zu wahren, nicht in schlechten Ruf zu kommen und die Fähigkeit, auch den Ruf anderer zu erkunden, mag ein Übriges dazu beitragen. Doch lässt sich das Leben von Albert Schweitzer, Mutter Teresa oder anderen moralischen Vorbildern tatsächlich auf langfristig kalkulierten Eigennutz oder pure Eitelkeit reduzieren? In den letzten Jahren haben große Studien gezeigt, dass die meisten Menschen eine starke Neigung zu Kooperation und Fairness haben. Der Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr vom Institut für Empirische Wirtschaftsforschung in Zürich ließ Menschen in aller Welt einfache Spiele miteinander spielen. Sie spielten in zufällig kombinierten Vierergrüppchen unter künstlichen Bedingungen, die alle Faktoren ausschlossen, auf die Kooperation bisher zurückgeführt wird: Sie kannten sich nicht, hatten keine Gelegenheit, sich wieder zu begegnen und keine Möglichkeit, einen „guten Ruf” zu erwerben oder etwas über die früheren Handlungen ihrer Spielpartner zu erfahren. Jeder Teilnehmer spielte mehrmals in wechselnd zusammengesetzten Gruppen mit. Der Experimentator gab jedem Spieler 20 Schweizer Franken und forderte sie auf, nach eigenem Gutdünken einen Teil davon in einen Gemeinschaftstopf zu spenden. Für jeden Franken im Topf sollte jeder der vier Teilnehmer – aus dem Topf und durch eine zusätzliche Dreingabe – 0,4 Franken zurückbekommen. Wenn alle vier ihre 20 Franken spenden, würde jeder am Ende 32 Franken bekommen. Ein Schlaumeier würde aber vielleicht lieber die andern drei spenden lassen und seine 20 Franken behalten. Aus dem gemeinsamen Topf mit 60 Franken bekäme er zusätzlich 24 Franken und würde damit viel besser fahren. Und das geschah: Zu Beginn spendeten viele Teilnehmer einen Betrag, doch in den folgenden Runden gingen die Spenden schnell zurück, bis der Gemeinschaftstopf leer blieb. In der klassischen Spieltheorie enden Spiele um gemeinsame Güter automatisch in solch einer „Tragödie der Allmende”: Das gemeinsame Gut wird schnell heruntergewirtschaftet, weil die Beteiligten kurzfristig mehr davon haben, es auszubeuten. In einer zweiten Versuchsreihe gab Ernst Fehr den Spielern am Ende die Gelegenheit, anderen Mitspielern etwas von ihrem Geld abzuziehen. Allerdings mussten sie dafür eine Gebühr bezahlen. Rational rechnende Spieler würden dies nicht tun, denn sie haben durch die Strafaktion weder selbst mehr Geld noch können sie hoffen, den bestraften Spieler dadurch zu kooperativerem Verhalten zu zwingen. Zumindest würden sie selbst nicht davon profitieren, da sie ja in der nächsten Runde mit anderen Personen spielen. Doch in Wirklichkeit war die Bestrafung ein großer Erfolg: Viele Spieler bestraften – trotz eigener Kosten – jene, die nichts in den Gemeinschaftstopf gegeben hatten. In der Folge veränderten diese ihr Verhalten, was dann zwar nicht direkt den Bestrafern zugute kam, aber dennoch in den nächsten Runden zu insgesamt wieder höheren Auszahlungen aus dem Gemeinschaftsgut führte und eine „Kultur der Kooperation” aufrechterhielt. Wie solche Versuche zeigen, sind Menschen keineswegs allwissende und weit in die Zukunft rechnende Profitmaximierer, wie sie im „Homo oeconomicus”-Konzept der traditionellen Wirtschaftswissenschaften beschrieben sind. Als hyperrationale Egoisten, unfähig zu echter Kooperation und zur Schaffung von Gemeinschaftsgütern, säßen wir vermutlich heute noch in Höhlen und er-nährten uns von Wurzeln, Aas und kleinen Nagetieren. Im Gegenzug zeigen jedoch überfischte Ozeane, vergiftete Böden und schwindende Grundwasserreserven, dass wir bis heute kein Patentrezept für funktionierende Gemeinschaftsgüter gefunden haben. Andererseits gibt es zahlreiche öffentliche Einrichtungen, die gut funktionieren. Die neuen Modelle der Spieltheorie können vielleicht aufdecken, von welchen Faktoren die begrenzt vorhandene Kooperationsbereitschaft abhängig ist.

Kompakt

Forscher entwickeln neue Modelle von Spielen, bei denen Menschen aus aller Welt gegeneinander antreten. In Computersimulationen spielen mehrere tausend virtuelle Personen mit zufällig zugeordneten Eigenschaften miteinander. Die Resultate zeigen, dass Kooperation aus Sorge um das eigene Wohl entsteht.

Antonia Rötger

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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