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„Es geht immer noch abwärts“

Allgemein

„Es geht immer noch abwärts“
Prof. Nikolai S. Dikansky, Rektor der Staatsuniversität Novosibirsk, über den harten Überlebenskampf russischer Universitäten nach der Perestroika.

bild der wissenschaft: In Deutschland, insbesondere im Osten, ist die Zeitrechnung zweigeteilt: vor der Wende und nach der Wende. Es gibt viele, die meinen, vor der Wende sei es besser gewesen. Wie sieht Ihre Zeitrechnung aus?

Dikansky: Bei uns heißt es: „vor Perestroika“ und „nach Perestroika“. Und auch hier klagen viele, nicht ohne Grund. Schwer getroffen hat es die wissenschaftlichen Institute und Universitäten. Wir erhalten heute nur noch ein Fünftel der Gelder vom Staat wie vor der Perestroika. Seit zehn Jahren kämpfen wir ums Überleben. Natürlich haben die Reformatoren gewarnt, daß es eine Schocktherapie sein würde und daß es einige Zeit dauert, bis es wieder aufwärtsgeht. Doch bislang geht es immer noch abwärts.

bdw: Wie wirkt sich der drastische Rückgang an staatlichen Mitteln auf Ihre Universität aus?

Dikansky: Löhne und Gehälter sind stark gesunken. Wir haben kaum Geld, um den Universitätsbetrieb aufrechtzuerhalten. Strom, Wasser und Heizung zahlen wir derzeit nicht. Wir machen statt dessen einen Tauschhandel, bei dem wir Schulden verkaufen. Das läuft so: Das Versorgungsunternehmen hat für Strom und Heizung eine bestimmte Summe Geld von uns zu erhalten. Diese Forderung leiten wir weiter an das Erziehungsministerium. Das wendet sich an das Finanzministerium, das wiederum dem Unternehmen Steuern erläßt. Es ist ein sehr schlechtes Verfahren, denn natürlich leidet der Haushalt an diesen vorgetäuschten Zahlungen.

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bdw: Wie sind die Gehälter gesunken?

Dikansky: Früher verdiente ein Universitätsangestellter etwa 500 Rubel. Heute sind es 2000 Rubel – umgerechnet etwa 70 Dollar. Die Kaufkraft entspricht aber nur einem Fünftel des ursprünglichen Gehalts.

bdw: Wie ist der Zustand der Universität?

Dikansky: Die Gebäude müßten grundlegend erneuert werden. Farbe allein reicht nicht aus. Seit über zehn Jahren haben wir kaum etwas für den Erhalt der Bauten tun können. Dafür brauchen wir Geld, das wir derzeit nicht haben.

bdw: Immerhin scheint Ihre Universität mit Computern gut ausgerüstet zu sein.

Dikansky: Wir besitzen heute etwa 1000 Computer. Einige sind alt, doch die Hälfte dürfte recht neu sein – Pentium-Rechner. Diese Computer wurden uns gestiftet, zum Teil von dem berühmten Börsenspekulanten George Soros. Seine Stiftung hat etwa 100 Millionen Dollar ausgegeben, mit denen an 33 russischen Universitäten Internet-Zentren eingerichtet wurden. In der Universität besitzen wir ein lokales Netz. Außerdem stehen in den Studentenwohnheimen etwa 200 Computer, die an das universitäre Netz angeschlossen sind und Zugang zum Internet ermöglichen.

bdw: Wie Sie es schildern, hat sich nach Perestroika die Lage drastisch verschlechtert. Was ist besser geworden?

Dikansky: Tja …

bdw: Etwas Positives muß doch herausgekommen sein?

Dikansky: Ein paar positive Dinge sollten schon da sein (lacht). Dazu zähle ich einmal die grundlegenden Änderungen in Fächern wie Geschichte, Philosophie oder Ökonomie. Natürlich haben die Studenten heute auch größere Freiheiten und mehr Möglichkeiten. Doch hier sehe ich auch Nachteile: Die soziale Kontrolle ist schwächer als früher – und damit haben auch Drogenmißbrauch, Alkohol und Kriminalität unter den Studenten zugenommen. Wir haben eine Studentengewerkschaft, doch die ist klein, und ich weiß nicht, ob sie tatsächlich die Meinung der Studenten repräsentiert. Es fehlt eine Art von Studentenkomitee, das alle Studenten vertritt und an das wir uns wenden können.

bdw: Wie ist es um die Qualität der Universitätsausbildung bestellt?

Dikansky: Unsere Universität hat früher vor allem Naturwissenschaftler ausgebildet und ist eng mit den vielen naturwissenschaftlichen Instituten verbunden, die die Akademie der Wissenschaften hier in Akademgorodok unterhält. Etwa die Hälfte unserer Professoren und Dozenten arbeitet in diesen Instituten. Die Universität war schon immer recht klein und hat heute etwa 4500 Studenten. Aufgrund der gekürzten Mittel haben wir vor einigen Jahren Gebühren für das Studium eingeführt, die von etwa 500 Studenten gezahlt werden müssen. Der Rest studiert weiterhin frei. Wir zählen übrigens zu den wenigen Universitäten, an denen der Anteil der zahlenden Studenten gering ist. Viele russische Universitäten „verkaufen“ ihre Bildung fast ausschließlich.

bdw: Wie entscheiden Sie, wer zahlt und wer nicht?

Dikansky: Die Universität von Novosibirsk hat einen sehr guten Ruf, so daß der Wettbewerb um die verfügbaren Studienplätze hart ist. Deshalb führen wir Aufnahmeprüfungen durch. Für Bewerber, die an dieser Prüfung scheitern, aber trotzdem hier studieren wollen, haben wir spezielle Gruppen eingerichtet. Voraussetzung ist, daß die Prüfungsnoten des Bewerbers nicht schlechter als drei oder vier sind, und er in der Lage ist, für das Studium zu bezahlen.

bdw: Wieviel tragen diese Gebühren zum gesamten Haushalt bei?

Dikansky: Etwa zehn bis zwölf Prozent. Wir verwenden das Geld für Reparaturen. Das ist übrigens der einzige Weg, um die Gebäude instand zu halten. Denn das andere Geld, das wir haben, ist „ gefärbt“, wie wir das nennen. Es sind staatliche Gelder, die wir nur für genau festgelegte Zwecke verwenden dürfen.

bdw: Hat sich der Schwerpunkt Ihrer Universität in den letzten Jahren geändert?

Dikansky: In der früheren Sowjetunion zählte unsere Universität zu den drei Spitzenuniversitäten, die vor allem „ richtige“ Wissenschaftler – Naturwissenschaftler – ausbildeten: Physiker, Chemiker, Mathematiker, Biologen, Geologen. Diese Gebiete waren und sind unsere Stärke. Eine geringere Rolle spielten damals Ökonomie, Geisteswissenschaften, Psychologie und ähnliche Fächer. Inzwischen haben wir einen recht guten Studiengang für Wirtschaftswissenschaftler, zum Teil in Zusammenarbeit mit der Universität Oldenburg entwickelt. Im kommenden Jahr werden wir voraussichtlich eine juristische Fakultät eröffnen. Dort wollen wir nicht nur gute Rechtsanwälte ausbilden, sondern vor allem Juristen, die Gesetze für Rußland ausarbeiten sollen. Psychologie, medizinische Biologie und Journalismus sind weitere Studiengänge, die wir neu eingerichtet haben.

bdw: Wie finden sich die Studenten mit der gegenwärtigen Situation ab? Akzeptieren sie die Veränderungen?

Dikansky: Vor einigen Jahren ging die Zahl der Studienanfänger, insbesondere in den Naturwissenschaften, an den russischen Universitäten zurück – plötzlich gab es Überkapazitäten. Die schweren Aufnahmeprüfungen und die teure Vorbereitung darauf haben sicherlich viele Eltern und Schüler abgeschreckt. Das niedrige Gehalt, das Wissenschaftler erhalten, hat ebenfalls wenig Anreiz zum Studium geboten. Als Geschäftsmann oder Geschäftsfrau ließ sich offenbar weit mehr Geld auch ohne Universitätsstudium verdienen. Aufgrund unseres Renommees hatten wir meist annähernd so viele Bewerber wie Studienplätze.

bdw: Das hat sich geändert?

Dikansky: Vor zwei, drei Jahren stieg die Zahl der Studienanfänger wieder an. Im vergangenen Jahr kamen an unserer Universität auf einen Studienplatz in Physik oder Mathematik fünf Bewerber. Noch größer war der Andrang bei den Wirtschaftswissenschaften, und in diesem Jahr war der Studiengang Journalismus der große Renner. Anders als in Europa oder den USA haben Schüler mit Abitur nicht automatisch Zugang zu einer Universität. Sie müssen schon sehr gut sein, um sich gegen die vielen Mitbewerber durchzusetzen und einen der Studienplätze zu erhalten. Viele Schüler zahlen deshalb für Privatunterricht, um sich auf die Aufnahmeprüfung vorzubereiten. Haben Eltern das nötige Geld nicht, stehen die Chancen ihrer Tochter oder ihres Sohnes auf einen Studienplatz schlecht.

bdw: Weshalb zieht es wieder mehr Studenten an die Universitäten?

Dikansky: Inzwischen denken viele Schulabgänger, daß sie in der Wirtschaft nur Zukunft haben, wenn sie über eine gute Ausbildung verfügen. Das hat wieder mehr Studenten an die Universität gebracht, ebenso wie die Modernisierung der wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge.

bdw: Sehen Sie zuversichtlich in die Zukunft?

Dikansky: Von Natur aus bin ich Optimist, und ich bin mir sicher, daß wir zum Erfolg verdammt sind. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es noch viel schlechter wird.

Nikolai Sergeevich Dikansky (Jahrgang 1940) ist Kernphysiker. Sein Spezialgebiet ist die Hochenergiephysik an Beschleunigern, wozu er über 140 wissenschaftliche Arbeiten und Bücher veröffentlicht hat. Er ist Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften und seit 1997 Rektor der Staatsuniversität Novosibirsk.

Heinz Horeis / Nikolai S. Dikansky

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