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Die Macht der grausamen Bilder

Gesellschaft|Psychologie

Die Macht der grausamen Bilder
Fünf Jahre nach dem 11. September 2001 sind die Bilder des Terroranschlags in New York unvergessen. Mit Bildern von erschreckenden Szenen haben die Mächtigen schon immer versucht, Stimmung zu machen und zu manipulieren. Die große Gefahr heute ist: Die neue Digitaltechnik lässt die Bilderschlacht völlig außer Kontrolle geraten.

Mehr als eine peinliche PR-Panne: Als US-Außenminister Colin Powell im Februar 2003 der versammelten Presse in der New Yorker UN-Zentrale seine Position zu einem möglichen Irakkrieg erläuterte, war im Vorraum des Sitzungssaals das Picasso-Gemälde „ Guernica” – das die Gräuel eines Luftangriffs zeigt – mit blauem Tuch verhüllt. Das Bild sei kein angemessener Hintergrund, wenn der Minister über die Notwendigkeit von Bomben über Bagdad reden wolle, hatte ein UN-Diplomat gewarnt. Die Journalisten waren über diese Doppelmoral empört – und druckten erst recht Abbildungen des Gemäldes. Der Pressestab von Powell hatte ein Eigentor geschossen.

Dass Kriege nicht nur mit Bomben und Panzern, sondern auch mit Bildern geführt werden, ist nicht neu. Schon den Krimkrieg (1853 bis 1856) versuchten die Verantwortlichen der britischen Regierung zu verharmlosen, indem sie Bilder von Schlachtfeldern ohne Leichen veröffentlichen ließen. Das Dritte Reich baute die Propaganda-Maschinerie mit Bildern weiter aus.

„Mit dem Vietnamkrieg in den Sechzigern und Siebzigern kam dann ein Wendepunkt bei der Geschichte der Visualisierung des Kriegs”, sagt Gerhard Paul, Historiker an der Universität Flensburg. 100 Millionen Fernsehgeräte in den USA (statt 10 000 wie im Zweiten Weltkrieg), die beginnende Satellitenkommunikation, der Ausbau der Luftfahrt und mobile Fernsehkameras schufen die technischen Voraussetzungen für eine schnelle Produktion und Verbreitung von Bildern. Journalisten sendeten Nahaufnahmen vom schmutzigen und blutigen Gesicht des Kriegs. Zum Inbegriff der Schrecken des Vietnamkrieges wurde eine Aufnahme des AP-Korrespondenten Nick Ut aus dem Jahr 1972. Sie zeigt das neunjährige Mädchen Kim Phúc aus dem Dorf Trang Bang, das sich nach einem Napalm-Angriff die brennenden Kleider vom Leib gerissen hatte und nackt und brüllend vor Schmerz und Todesangst mit hochgerissenen Armen flüchtete. Bilder wie dieses heizten die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg an.

„Die Erfahrung, wie stark Bilder wirken, ließ die Kriegsherrn fotoscheu werden. Seither versuchen sie sich in Zensur und Inszenierung”, sagt Paul. Da die freie Presse im Westen eigentlich keine Zensur zuließ, wurde nach Möglichkeit bereits die Produktion und Übermittlung der Bilder gesteuert. So wurde 1982 der Falklandkrieg geführt, ohne dass die Öffentlichkeit viel davon zu sehen bekam. Die zur besten Sendezeit ausgestrahlten Bilder des ersten Golfkriegs 1991 schienen nicht real zu sein, sondern wirkten wie ein Videogame. In Erinnerung geblieben sind bloß Aufnahmen von leeren Wüsten und grünen Leuchtspuren am Nachthimmel. Andere Bilder ließen die britischen Zensoren nicht passieren.

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Heute, über zehn Jahre später, ist die visuelle Inszenierung wesentlich schwieriger – wenn nicht sogar unmöglich – geworden. Georg W. Bush gelang sie im Zweiten Irak-Konflikt nur in den ersten Kriegstagen, als die mit den US-Truppen reisenden TV-Teams nichts als endlose Bombenfeuerwerke, Panzervormärsche und kapitulierende irakische Truppen präsentierten. Doch selbst die Mächtigen dieser Welt können die Bilder inzwischen nicht mehr unter Verschluss halten. Bald zeigte der arabische Sender Aljazeera die Verwundbarkeit der amerikanischen Armee: verängstigte US-Soldaten, die von irakischem Militär verhört werden; einen Iraker, der lächelnd die Leichen von sechs Amerikanern präsentiert, während das Zoom eines der blutüberströmten Gesichter sucht. Erstmals gelang es Terroristen, die Kamera selbst in die Hand zu nehmen.

Die Digitaltechnik erleichtert nicht nur die Produktion, sondern auch die Verbreitung von Fotos und Filmen. Fotografen können ihre Schnappschüsse via Satellitenhandy direkt in die Heimatredaktion senden, TV-Teams berichten in Echtzeit aus den letzten Ecken der Welt, Privatleute verbreiten via Internet Dateien rund um den Globus. Gleichzeitig sinkt die Hemmschwelle der Bildproduzenten. „Die Digicam verführt – so wie im Folterkeller von Abu Graib, wo Iraker gedemütigt wurden – zu schamlosen Aufnahmen, weil die Fotoentwicklung und dadurch auch die soziale Kontrolle entfällt. Schließlich muss man nicht mehr befürchten, dass eine fremde Person bei der Entwicklung im Labor die Bilder sieht”, sagt Martin Schuster, Fotopsychologe und Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Köln.

Was das für den Irak-Krieg bedeutet, erklärt der Flensburger Historiker Paul: „Weil die USA die Bedeutung und Wirkung der neuen digitalen Techniken vollständig unterschätzten, haben sie den Kampf an der Bilderfront verloren.” Auf die Zurschaustellung der US-Soldaten reagierten die Amerikaner mit der öffentlichen Präsentation der geschändeten Leichen der Hussein-Söhne. Die wiederum wurden übertrumpft durch die Videomitschnitte der Enthauptungen des WallStreet-Journalisten Daniel Pearl, des Italieners Fabrizio Quattrocchi und des Amerikaners Nicholas Berg. „Sie alle mussten sterben, um Bilder zu liefern. Es gibt eine Spirale der Bildgewalt, die zu Angst, Abstumpfung und schließlich zu Gegengewalt führt”, sagt die Medienwissenschaftlerin Marion G. Müller von der International University Bremen. „Es mag zynisch klingen, aber auch den Terroristen des 11. September 2001 kam es vor allem auf die Bilder an: Der Terror kommuniziert visuell.”

Die Botschaften, die die Medien vom Anschlag in New York vermittelten, waren sehr unterschiedlich. Während in der westlichen Welt fast alle Zeitungen – selbst die fotoscheue Frankfurter Allgemeine Zeitung – am Tag nach dem Anschlag die brennenden Twin Towers auf der Titelseite zeigten, stellte eine der größten panarabischen Tageszeitungen, die Al-Quds-al-Arabi, die Terroristen im Farbfoto als Märtyrer dar. Ebenfalls in Farbe erschienen dort Demonstrationsbilder einer anti-amerikanischen Fahnenverbrennung und gegen Israel gerichtete Hakenkreuze. Ground Zero, den eigentlichen Ort des Terrors, präsentierte das Blatt erst am Tag danach in distanzierten Schwarz-Weiß-Bildern, auf denen weder die Opfer noch der Schmerz oder die Trauer der Überlebenden und Hinterbliebenen zu sehen waren.

Das Bild der einstürzenden Twin Towers wird in die Geschichtsbücher eingehen. Auch der gefolterte Kapuzenmann von Abu Graib und der nach seiner Festnahme mit irrem Blick um sich schauende Saddam Hussein haben sich ins Gedächtnis eingebrannt. Doch warum haben gerade diese Bilder so schockiert?

Die Antwort darauf gibt es im Hamburger Warburg-Haus. Dort lagern in dicht gedrängten Regalen und mannshohen Karteikästen 450 000 auf Karton geklebte Bilder. Der Kunsthistoriker Aby Warburg hatte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts damit begonnen, Motive, die auf Briefmarken, Reklamegrafiken oder einem Werk von Michelangelo dargestellt waren, miteinander zu vergleichen.

Diese Tradition setzt heute der Kunsthistoriker Joachim Buttler fort. Aus der Regalreihe 255 – wo Kästen mit der Aufschrift „Krieg”, „Schlachten” und „Propaganda” lagern – zieht er verschiedene Blätter hervor, die er nebeneinander legt: einen etwas vergilbten Zeitungsausschnitt mit einem Bild der brennenden New Yorker Wolkenkratzer, die Kopie eines Stichs einer gotischen Kathedrale und eine aufgeklebte US-Briefmarke aus den Fünfzigern, auf der ein Flugzeug an der Freiheitsstatue vorbei über die Skyline von New York zieht. „Das sind alles Türme der Macht”, sagt Buttler. „Sie zu zerstören – und damit die Hybris, die sie verkörpern – ist ein Topos, der ebenso lange Tradition hat, wie die Menschheit Türme errichtet. Die Terroristen haben den Kern der christlichen Ikonografie getroffen.”

Bilder, die im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind, berühren uns besonders, meint der Anglist und Kunstgeschichtler William J.T. Mitchell von der University of Chicago. Der Kapuzenmann von Abu Graib, der mit Stromkabeln an den Händen und ausgebreiteten Armen auf einer Kiste balancieren muss, erinnert ihn an Jesus. „Die Ruhe und das Gleichgewicht des Mannes auf der Kiste lassen an die frommen Bilder von Christus denken, der der Demütigung standhält, Würde zeigt und seinen Folterern vergibt.”

Selbst die vermeintlich traditionsbefreiten Studenten der 68er-Generation konnten sich dem christlichen Bilderbe nicht entziehen, ist die Bremer Medienwissenschaftlerin Müller überzeugt. Sie verweist auf ein Schlüsselbild dieser Zeit: das Foto vom Studenten Benno Ohnesorg, der am 2. Juni 1967 bei einer Anti-Schah-Demonstration in Berlin von einem Polizisten erschossen wurde. Ohnesorg liegt leblos auf dem Asphalt. Eine junge Frau kniet neben ihm und bettet behutsam seinen blutigen Kopf auf ein Tuch. „Das Foto wurde zur Initialzündung der 68er-Studentenbewegung – nicht zuletzt deshalb, weil es in der Tradition einer jahrhundertealten Opfer-Ikonografie steht: der Beweinung Christi”, sagt Müller.

Bilder wirken in verschiedenen Kulturen unterschiedlich. „Die pornografischen Sado-Maso-Bilder aus Abu Graib, auf denen US-Soldaten nackte irakische Häftlinge zwingen, aneinander sexuelle Handlungen vorzunehmen, werden in den westlichen Staaten vor allem als ekelhaft empfunden”, erklärt der Flensburger Historiker Paul. Für Muslime stellen sie die größtmögliche Demütigung dar, weil Nacktheit und Homosexualität als besonders schändliche Verletzungen religiöser Prinzipien gelten.

„Zwar unterscheiden sich Kulturen in ihrer Bildrezeption. Es gibt allerdings auch so etwas wie eine interkulturelle politische Ikonografie – eine Bildwahrnehmung, die bei allen Menschen ähnlich ist”, sagt Paul. Generell gilt: Menschen reagieren auf Darstellungen von Tod und Leid umso stärker, je individueller und grausamer die gezeigten Szenen sind. Allerdings: Weil der Dauerbeschuss mit Bildern abstumpft, müssen immer drastischere Aufnahmen her, um die Aufmerksamkeitsschwelle zu überwinden.

Die Medien stecken in einem Dilemma. Was dürfen sie zeigen? Was sollen sie zeigen? Wo ist die Grenze zwischen Wahrheitsfindung und Voyeurismus? „Man muss abwägen”, sagt Justus Demmer, Pressesprecher der Deutschen Presseagentur (dpa) in Hamburg. „Dient das Foto noch der Nachricht oder transportiert es nur Sensation?” Die dpa entschied sich, aus dem Video über die Enthauptung des Amerikaners Nicholas Berg nur ein Standbild des Opfers zu verbreiten, bevor der Säbel fiel. „Wer die Bilder zeigt, wird zwangsläufig zum Instrument der Täter”, schrieb hingegen die taz – und zeigte nach der Hinrichtung von Nicholas Berg einen leeren Bilderrahmen.

Völlig auf Kriegsbilder zu verzichten, hilft keinem – am wenigsten den Opfern. Denn es scheint, als bewegten sich Politik und Öffentlichkeit oft nur dann, wenn die Konflikte sichtbar werden. Die Bürgerkriege und Genozide im Kongo, in Liberia oder im Sudan schwelen auch deshalb weiter, weil sie die meiste Zeit unsichtbar ausgeblendet sind.

Die Folter in Abu Graib hatte das Rote Kreuz in einem Bericht an die US-Regierung bereits im August 2003 angeprangert. Zum Skandal wurde die Nachricht erst, als Ende April 2004 die ersten Fotos auftauchten. ■

Andrea Schuhmacher ist freie Wissenschaftsjournalistin in München. Beeindruckt hat sie, dass manche Bilder offenbar Menschen überall auf der Welt berühren.

Andrea Schuhmacher

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Informationen rund um das

Warburg-Haus Hamburg unter:

www.warburg-haus.hamburg.de/texte/stiftung.html

Ohne Titel

• Bilder sind eine starke Kriegswaffe.

• Digitalkameras haben die Hemmschwelle bei der Produktion von Fotos und Filmen wesentlich gesenkt.

• Christliche Motive in Kriegsbildern – zum Beispiel Szenen, die an Jesus erinnern – berühren die Menschen der westlichen Welt besonders.

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