Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Büro-Nomaden

Allgemein

Büro-Nomaden
Die Schreibstube der Zukunft wird ganz anders aussehen. Arbeitslandschaften, die sich amöbengleich verändern, sollen die normierten Büros von heute ablösen. Berührungsempfindliche Bildschirmtapeten oder sensorengespickte Räume zeigen, worauf sich kreative Köpfe freuen können.

Mit einer ausladenden Geste streicht Teamleiter Torsten Holmer über die grünschimmernde Wand. Wie durch Zauberei erscheint an dieser Stelle ein Rahmen, fast einen Quadratmeter groß. Die Hand seines Kollegen Jörg Geißler huscht über die Fläche, wie ein Schatten folgen Schriftzeichen seinen Bewegungen. Kollegin Petra Rexroth hat eine bessere Idee: In ihrem bequemen Sessel schreibt sie auf einen Flachbildschirm ein paar Notizen, die sie neben die Ausführungen von Jörg Geißler auf die Wand dirigiert.

Arbeiten wir so in zehn Jahren? Ja, sagt Dr. Dr. Norbert Streitz vom Institut für Integrierte Publikations- und Informationssysteme (IPSI) des Forschungszentrums Informationstechnik (GMD) in Darmstadt. Der Physiker und Psychologe ist Vater des Informationsland-Projekts, kurz i-Land. Dieses soll nicht nur zeigen, wie wir in Zukunft arbeiten, sondern vor allem, wie wir zusammenarbeiten: „Kooperatives Arbeiten in kreativen Teams“ ist das Ziel des Darmstädter Forscherteams, das aus Informatikern, Elektrotechnikern, Produkt- und Grafikdesignern, Soziologen und Psychologen bunt gemixt ist.

Die Spielszene, bei der Streitz und seine Mitarbeiter verblüfften Besuchern die Gestaltung eines fiktiven Freizeitparks demonstrieren, ist eine Demo und noch an einen vorgefertigten Ablauf gebunden. Doch noch in diesem Jahr sollen alle Komponenten des i-Land-Prototyps frei bedienbar sein. Dazu gehören:

DynaWall, eine Kreuzung aus Tapete, Schreibtafel und Bildschirm. Sie ist 4,5 Meter breit und 1,1 Meter hoch und gibt ein grünlich schimmerndes Bild von 3000 mal 1000 Pixeln wieder, das auf der Rückseite von drei Videoprojektoren erzeugt wird. Die Vorderseite ist berührungsempfindlich: Ein Fingerdruck – und Fenster öffnen und verschieben sich, wie von Geisterhand erscheinen Buchstaben oder Bilder auf der Riesenleinwand. Nur wenn die Präsentation zu Ende ist, offenbart die DynaWall, welches Herz in ihr schlägt: Dann erscheint die Oberfläche des wohlbekannten PC- Betriebssystems Windows.

Anzeige

Stehpult mit Mattscheibe:Am Interac- Table lassen sich Fenster öffnen, Texte schreiben und Daten „aufsaugen“ – alles per Fingerzeig.

Was die i-Land-Programmierer über Windows gestülpt haben, hat mit dem Massenprodukt von Microsoft nur noch wenig gemeinsam: Die Gestaltung der Programmfenster mit ihrem ungewöhnlichen transparenten Hintergrund, der auch darunterliegende Informationen durchscheinen läßt, ist völlig neu. Selbst Laien kapieren sofort, wie man Fenster öffnet und bewegt, weil sie die Objekte mit den Händen im Sinne des Wortes „begreifen“ können. CommChairs sind futuristisch gestylte Sessel mit integriertem Computer, der ausgeklappt werden kann. Ein Sessel besitzt einen Anschluß für einen Laptop, ein anderer einen integrierten berührungsempfindlichen Bildschirm, der mit einem Schreibstift bedient wird. Rückt man die Sessel nahe zusammen, bauen sie eine Funkverbindung auf, und die Kollegen können Daten austauschen oder mit der DynaWall kommunizieren.

InteracTable ist ein überdimensionaler Stehpult, mit einem eingebauten liegenden Bildschirm. Mitglieder eines Arbeitsteams können sich um den Tisch versammeln und auf Fingerdruck Fenster bewegen, rotieren und Texte schreiben. Mit einer Handbewegung läßt sich ein Objektfenster vom InteracTable „aufsaugen“ und zur DynaWall „tragen“, wo es durch Handauflegen wieder angezeigt wird.

„Nach Hardware und Software kommt jetzt die Roomware“, prophezeit Streitz. Darunter versteht er die Fähigkeit eines Büros, aufmerksam, aktiv und anpassungsfähig zu sein. In diesen im Forscherjargon „A3-Umgebungen“ genannten Räumen sind die Möglichkeiten der Telekommunikation oder EDV nicht an einzelne Geräte gebunden, sondern im ganzen Raum auf Schritt und Tritt verfügbar.

Geplant ist, daß „Active Badges“ – elektronische Ausweise – an die Sensoren im Raum melden, welche Mitarbeiter das Konferenzzimmer betreten. Der Computer sucht in seiner Datenbank, an welchem Projekt dieses Team gerade arbeitet und holt die Ergebnisse des letzten Meetings auf die DynaWall. Der CommChair erkennt, welche Person darin Platz nimmt, und lädt die im Zentralrechner gespeicherten Unterlagen des Mitarbeiters auf den Monitor.

An und in solchen intelligenten Räumen arbeiten Forscher der Carnegie-Mellon University in Pittsburgh, USA. Unter der Leitung des deutschen Architekten Prof. Volker Hartkopf entwickeln sie intelligente Steuerungen für die Büros der Zukunft. Weil nach Meinung aller Experten künftig immer mehr Arbeit unterwegs oder zu Hause erledigt wird, müssen sich mehrere Personen einen Schreibtisch teilen. Damit es beim Schichtwechsel keine Reibungsverluste gibt, bereitet der zentrale Computer das Büro so vor, wie es der Mitarbeiter das letzte Mal verlassen hat: Heizung und Klimaanlage werden individuell eingestellt, die Beleuchtung paßt sich an, und auf dem Bildschirm erscheinen die gewohnten Menüs. Welche Person das Büro betritt, verraten die Active Badges, später vielleicht auch Fingerabdrucksensoren in der Türklinke oder Kameras mit Gesichtserkennung – der Phantasie der Ingenieure sind keine Grenzen gesetzt.

Die IPSI-Visionäre, die mit Prof. Hartkopf kooperieren, beabsichtigen diese intelligente Gebäudesteuerung zwar auch zu nutzen, ansonsten beschäftigen sich die Darmstädter lieber mit der Frage, wie Menschen mit Hilfe des Computers produktiver arbeiten können.

Dazu hat die Arbeitsgruppe bei namhaften Firmen wie Daimler-Benz, Audi und Aral Umfragen gemacht, wie man sich dort die kreative Teamarbeit vorstellt.

Streitz‘ eigentliches Interesse geht noch tiefer: Wie gehen Menschen überhaupt mit Information um, und welche Hilfestellung könnte der Computer bieten? Ein konkretes Beispiel: Wer vergeßlich ist, sich aber unbedingt etwas merken muß, bekommt häufig den scherzhaften, aber dennoch wirksamen Rat: „Mach dir einen Knoten ins Taschentuch.“ Reale Objekte helfen, so folgert Streitz, wichtige Informationen zu assoziieren.

Ergebnis dieser Gedanken ist das Passage-Konzept: Anstatt in den Ordnern des Computers nach der Studie über das Umweltkonzept eines Golfplatzes zu suchen, könnte der Mitarbeiter diese Datei mit einem realen Gegenstand, zum Beispiel einem Golfball, koppeln. Eine Armbanduhr würde aus dem Speicher vielleicht die Agenda der morgigen Besprechung abrufen.

Wie geht das technisch? Weil Computer noch nicht in der Lage sind, beliebige Gegenstände zu erkennen, behelfen sich die IPSI-Forscher mit bunten Bauklötzen verschiedenen Gewichts. Am InteracTable und an der DynaWall befinden sich kleine Waagen, die das Gewicht des Bauklötzchens messen. Mit einem Fingerstrich werden Fenster vom Bildschirm der DynaWall auf das Klötzchen gezogen. Wohlgemerkt: Die Daten befinden sich nicht wirklich in dem Würfel, sondern werden lediglich vom Computer diesem Gegenstand – in diesem Fall seinem Gewicht – zugeordnet. Weil alle Komponenten im i-Land vernetzt sind, erkennt der InteracTable, wenn ein schon mal benutztes Klötzchen auf die Waage gelegt wird und holt sofort die passenden Daten auf den Schirm. Informationen lassen sich so auch hin und her tragen und anderen Kollegen in die Hand drücken.

Ob das auf den ersten Blick umständliche Passage-Konzept wirklich hält, was es verspricht, wird sich zeigen – vor allem wenn Computer beliebige Gegenstände endlich besser identifizieren können. Vielleicht stellt sich auch heraus, daß der Mensch in der heutigen Zeit so vom Computer „versaut“ wurde, daß der Knoten im Taschentuch als unlogisch abgelehnt wird.

Wer i-Land selbst einmal ausprobieren möchte, kann am 30. Oktober das Institut besuchen, wenn die IPSI-Forscher die funktionsfähigen Komponenten der Roomware an einem Tag der offenen Tür demonstrieren.

Massenhafte Verbreitung werden die i-Land-Komponenten zunächst nicht finden, das verhindern die gesalzenen Preise der als Einzelstücke gefertigten Möbel: Ein DynaWall-Segment kostet 50000 Mark – in Darmstadt sind drei aneinander gebaut. Ein CommChair schlägt mit 15000 Mark zu Buche, der InteracTable mit 40000 Mark. Norbert Streitz ist aber bereits mit Büromöbelherstellern im Gespräch, die Kleinserien der i-Land-Komponenten zu deutlich niedrigeren Preisen auflegen wollen.

Verhandlungen gibt es ebenfalls mit großen Unternehmen, zum Beispiel mit einem großen Software-Haus. Das möchte seinen Designern einen Kreativraum mit i-Land-Komponenten spendieren, in dem sie neue Benutzeroberflächen entwerfen. Weitere Kunden könnten Banken sein, die CommChairs für Kontoabfragen, Überweisungen oder Kundenberatung nutzen.

Ein Stück von diesem Kuchen möchte sich auch das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart abschneiden. Gemeinsam mit einem Büromöbelhersteller präsentiert man auf der Orgatec Möbel und Raumteiler, die sich mit wenigen Handgriffen flexibel umbauen lassen. Zugrunde liegt die Erkenntnis, daß es „das Büro“ in Zukunft nicht mehr geben wird.

Der moderne „Büronomade“ arbeitet wann, wo und mit wem er will – eine Vision, die schon länger propagiert, aber noch kaum konsequent in der Praxis umgesetzt wurde, wie Stephan Zinser gesteht. Zinser ist Ingenieur und Kaufmann und organisiert am IAO das Zukunftsprojekt „Office 21“, ein vom Forschungsministerium ins Leben gerufenes und von 16 Firmen unterstütztes Pilotprojekt, das Arbeitsabläufe in künftigen Büros untersuchen soll.

Wenn alles glatt geht, werden noch in diesem Jahr im Mediaforum in Stuttgart Räume angemietet, wo verschiedene Szenarien durchgespielt werden. Klar ist schon heute, daß Büros – und damit die Nutzer – extrem flexibel sein müssen. Da ist vom „Morphing Office“ die Rede, das „ein Knotenpunkt im Netzwerk der Arbeitsprozesse“ ist, wie es die Fraunhofer-Forscher ausdrücken. Im Klartext: Das Arbeitsumfeld paßt sich an, je nachdem, ob Einzel- oder Gruppenarbeit, Kommunikation oder Konzentration angesagt sind. Einige Varianten:

Nomadic Office: Von jedem Ort der Welt kann sich der Mitarbeiter dank PC mit Mobiltelefonanschluß ins Firmennetz einklinken – eine Technik, die einige Firmen schon anwenden.

Market Office: In großen Arbeitslandschaften nach dem Vorbild einer Einkaufsstraße werden Bürodienstleistungen zentral angeboten. Jeder Mitarbeiter kann die Dienste des Personals in Anspruch nehmen.

Just-in-Time Office: Mehrere Mitarbeiter teilen sich ein relativ großzügiges Büro. Computernetze mit intelligenten Verteil- und Reservierungssystemen organisieren den Schichtwechsel von Außendienstmitarbeitern oder Teilzeitangestellten.

Project Office: Das Büro wird für bestimmte Projekte aus Empfang, Sekretariat, Meeting- und Archivräumen sowie Arbeitszellen immer wieder neu zusammengestellt.

Mit Office 21 will Stephan Zinser Bauherren für das Thema sensibilisieren. Schon im Jahr 2000 werden rund dreiviertel aller Büromieter aus den TIME-Branchen (Telekommunikation, Informationstechnologie, Medien und Entertainment) stammen, die Wert auf flexible und kreative Arbeitsumgebung legen. „Die meisten der derzeit gebauten Büros erfüllen die genannten Anforderungen nicht“, sagt Zinser. Gleiches gelte für die Inneneinrichtung von Eisenbahnwaggons, die Zinsers Team arbeitsfreundlicher gestalten will.

Was heute schon möglich ist, zeigt das Beispiel der Firma Andersen Consulting in Paris: Jedem Mitarbeiter wird beim Betreten des Gebäudes per Chipkarte ein Arbeitsplatz zugewiesen. Alle persönlichen Utensilien sind in einem Rollcontainer verstaut.

Daß es eines Tages einmal gar keine Büros mehr geben könnte, glaubt Stephan Zinser nicht: „Das Büro als zentrale Anlaufstelle für die Modem-Cowboys ist für die Identifikation mit dem Unternehmen unerläßlich.“

Bernd Müller

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

En|gel|süß  〈n.; –; unz.; Bot.〉 = Tüpfelfarn [<spätmhd. engelsüeze; … mehr

all’ot|ta|va  〈[–va] Mus.; Abk.: all’ott. od. 8va〉 1 eine Oktave höher (zu spielen) 2 ~ bassa eine Oktave tiefer (zu spielen) … mehr

Ve|ge|ta|ri|e|rin  〈[ve–] f. 22〉 weibl. Vegetarier

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige