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Die Zitrone im Gehirn

Allgemein

Die Zitrone im Gehirn
Wie die Welt im Kopf entsteht. Einige Lichtquanten auf der Netzhaut, ein Schwanken des Luftdrucks im Ohr, das Andocken weniger Moleküle in den Zellen der Nase – und aus ein paar physikalischen Reizen baut unser Gehirn ein buntes Abbild der Welt. Wie macht es das?

Gemeinhin hoffen wir, unsere „fünf Sinne“ beisammenzuhaben, damit sie unser Gehirn davon in Kenntnis setzen können, was um uns herum vorgeht: Das Auge vermittelt Licht- und Farbwahrnehmung, das Ohr befähigt uns zur Laut- und Tonwahrnehmung, die Nase dient dem Geruchs-, die Zunge dem Geschmacks- und die Haut dem Tastempfinden.

Aber das, was uns die Sinnesorgane vermitteln, sind – genaugenommen – keine direkten Informationen über unsere Umwelt, sondern nur Informationen über die Zustände und Vorgänge in den Sinnesorganen selbst, über das Auftreffen eines Photons auf der Netzhaut oder die Verformung eines Sinneshaares durch den Schalldruck im Ohr. Erst in unserem Gehirn entsteht aus diesen Vorgängen die Wahrnehmung von Farbe, Ton, Temperatur, Druck, Geschmack und Geruch. Und aus diesen Informationen komponiert das Gehirn dann ein Bild der Welt.

Unsere Wahrnehmung ist also zunächst eine Mixtur aus vielen Sinnesempfindungen. Doch damit ist die Komplexität des Wahrnehmungsprozesses noch nicht hinreichend beschrieben. Wenn wir in einer belebten Fußgängerzone ein Gesicht sehen und denken, daß das doch wohl unser alter Schulfreund ist, wenn wir etwas riechen, was uns an die Küche unserer Mutter zurückdenken läßt, oder im Getümmel eine Stimme hören und sofort wissen, wer da spricht, dann hat unser Gehirn nur Sekundenbruchteile nach der Reizung von Augen, Nase und Ohr eine erstaunliche Leistung erbracht: Es hat aus dem Wirrwarr von Sinneseindrücken etwas herausgefiltert – und es dabei erkannt. Dieses Erkennen ist nur mit Hilfe eines riesigen Speichers in unserem Gehirn möglich: dem Gedächtnis. Letztlich ist die Wahrnehmung also ein Produkt unserer Sinne und unseres Gedächtnisses: Die neuen Eindrücke der Außenwelt werden mit den alten Eindrücken der Innenwelt zu einem „festen Gedanken“ zusammengefaßt.

Wie aber verbindet das Gehirn die Sinneseindrücke, verarbeitet sie mit Vorwissen und formt daraus die aktuelle Wahrnehmung der Umwelt? Wie läßt es uns beispielsweise wahrnehmen, daß etwas nicht nur riecht, sondern nach Zitrone riecht, wobei es uns gleichzeitig noch ein Bild der Frucht im Inneren des Gehirns entstehen läßt. Dazu muß die Zitrone nicht einmal materiell da sein, es reicht, wenn jemand „Zitrone“ sagt, um sie sehen und riechen zu können. An die Beantwortung solcher Fragen tastet sich die Forschung erst langsam heran. „Zum Schwierigsten, was dem menschlichen Verstande dabei aufgegeben ist“, meint der Neurophysiologe Prof. Ernst Florey von der Universität Konstanz, „gehört die Erforschung des Gedächtnisses“ – ein zentraler Punkt der Wissenschaft von der Wahrnehmung.

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Vergebens haben die Forscher immer wieder versucht, den Sitz des Gedächtnisses in den Furchen des Großhirns auszumachen. Die einhellige Meinung der Neurowissenschaftler ist heute, daß man das Gedächtnis nicht lokalisieren kann. Es sei vielmehr überall und nirgends im Gehirn angesiedelt.

Um etwa einen alten Bekannten unter lauter Fremden zu erkennen, arbeiten Myriaden spezialisierter Nervenzellen einander zu. Neuronen werden aktiv, die für optische Eindrükke zuständig sind, andere werden durch den Klang der Stimme sensibilisiert, die irgendwann früher schon einmal gehört wurde. Weitere Nervenzellen erkennen eine charakteristische Geste oder ein besonderes Mienenspiel. Langsam kommt Licht ins Dunkel, es „dämmert“ uns, woher wir das Gesicht kennen.

Wie die einzelnen Instrumente eines Orchesters stimmen offenbar auch die Nervenzellen nacheinander in ein Musikstück ein, das „Erinnerung“ heißt. Die Rolle des Konzertmeisters scheint dabei eine eigentümliche Einfaltung der mittleren Hirnrinde zu übernehmen, der sogenannte Hippocampus, auch Ammonshorn genannt. Jede Hirnhälfte besitzt ein solches Organ. Werden die Hippocampi beschädigt, ist der Mensch nicht mehr in der Lage, etwas, das er gerade erlebt hat, länger als fünf Minuten im Gedächtnis zu behalten.

Die alte Lehre von den Denkzentren, wonach jede Gehirnfunktion in einem exakt abgrenzbaren Hirnareal lokalisiert ist, hat ausgedient. Für das Sehen zum Beispiel sind viele verschiedene Regionen gleichzeitig zuständig. Der für die visuelle Wahrnehmung wichtigste Verarbeitungsweg führt von der Netzhaut des Auges über den Sehnerv in den Thalamus, eine besondere Zellgruppe des Zwischenhirns.

Die Neuronen des Thalamus wiederum projizieren die eingehenden Signale in die Hirnrinde. Dort, so schätzen die Forscher, arbeiten an die hundert Zellareale zusammen: Die Nervenzellen einer Region erkennen die Richtung, in die sich ein Objekt bewegt, andere liefern seine Form oder Farbe, in wieder einem anderen Areal werden diese unterschiedlichen Arten von Informationen zu einem Abbild der Außenwelt zusammengefaßt.

Gleiches gilt für die Wahrnehmung von Tönen. Der Hörsinn ist für Wahrnehmungsforscher besonders interessant, weil das Ohr das Sinnesorgan des Menschen mit den wenigsten Sinneszellen ist. Dennoch ermöglicht es uns die Wahrnehmung so unterschiedlicher Qualitäten wie Richtung, Lautstärke, Tonhöhe, die Kombination von Tönen und Klängen zu Melodien oder die Komposition von Lauten zu bedeutungsvollen Wörtern und Sätzen.

Dies ist nur möglich, weil dem Ohr ein äußerst leistungsfähiger Analyse-Apparat nachgeschaltet ist. Wie der allerdings Schalldruckänderungen zu Musik verarbeitet, ist noch weitgehend ungeklärt. Immerhin weiß man seit kurzem, daß bestimmte Zonen der rechten Hirnhälfte gut Melodien erkennen, daß die linke dafür besser bei der Analyse von Rhythmen ist.

Ein zweites wichtiges Ergebnis der Wahrnehmungsforschung ist, daß im Gehirn nur wenig in präzise nachvollziehbaren Bahnen läuft. Unter den rund 100 Milliarden Nervenzellen, die ein Mensch im Kopf trägt, herrscht vielmehr eine Art Chaos mit versteckter Ordnung. Die Nervenzellen sind tausendfach miteinander vernetzt. Gruppen von Nervenzellen können bei unterschiedlichen Reizen in Sekundenbruchteilen die Zusammenarbeit mit Regionen unterbrechen, mit denen sie bis dahin ein Problem analysiert haben, und sich zu neuen Aktivitätsmustern zusammenschalten.

„Dieses Umschalten“, erklärt Freeman, „ist ein Hauptkennzeichen chaotischer Systeme. Statt die Funktion des Gehirns zu stören, macht es im Gegenteil Wahrnehmung überhaupt erst möglich.“ Jeglicher Sinneseindruck findet so innerhalb des verworren scheinenden Netzwerks seine Bahn – je häufiger bestimmte Neuronennetze beansprucht werden, desto leistungsfähiger sind sie. Die chaotische kollektive Aktivität von Millionen Nervenzellen ist auch die Basis dafür, daß das Gehirn flexibel auf seine Außenwelt reagieren und neue Aktivitätsmuster zu erzeugen vermag. Dies erleben wir zum Beispiel immer dann,wenn wir einen überraschenden Einfall haben. Oft genug aber geschieht es auch, daß unser Gehirn uns ein Bild der Welt vermittelt, das mit der Realität wenig gemein zu haben scheint, oder daß wir etwas wahrnehmen, wo nichts ist. Blättern Sie um, und tauchen Sie ein in die verrückte Welt der „Hirngespinste“.

Claudia Eberhard-Metzger

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