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Von wegen Baby-Hirn

Allgemein

Von wegen Baby-Hirn
“Die Wahrnehmung von Kleinkindern überrascht die Hirnforscher. Von wegen “”dudi dudi”” und “”balla balla””. Kleinkinder verfügen über eine ungeahnt differenzierte Wahrnehmung der Welt. Sogar die abstrakten Vorstellungen von Schwerkraft, Materie und Zahlenräumen gehören dazu. Ihnen fehlt nur die Sprache, um ihr Staunen mitzuteilen.”

Die Tochter kann gerade mal sitzen, da sind viele Eltern schon überzeugt: “Sie versteht alles” – und die Zuhörer lächeln verständnisinnig. Nun scheint die moderne Hirnforschung die Ansicht der Eltern zu bestätigen: Ihre Jüngsten nehmen viel mehr von ihrer Umwelt wahr, als manche ihnen zubilligen wollen. Die Kinder können ihre Art der Wahrnehmung den Erwachsenen nur nicht vermitteln – es sei denn, diese sind spezialisierte Wissenschaftler, die sich ein Bild machen können von dem, was in Kinderköpfen vorgeht…

Im Rücken der Glaspaläste, die im Frankfurter Bankenviertel in den Himmel ragen, liegt eine denkmalgeschützte Villa. Darin ist die Arbeitsgruppe Entwicklungspsychologie der Universität untergebracht. Regelmäßig erklimmen junge Mütter mit Kindern auf dem Arm die Stufen des Gebäudes. Sie sind auf dem Weg zu Prof. Monika Knopf, die mit ausgeklügelten Methoden herausfinden will, wie Säuglinge die Welt erkennen. Einfach fragen, was sie hören und ob sie sich an ein Gesicht erinnern können, das geht bei diesen Versuchspersonen ja nicht.

Der Schweizer Psychologe Prof. Jean Piaget (siehe auch “Ich weiß etwas, was keiner weiß”, Seite 65) glaubte, Kinder hätten bis zum 18. Monat ein Chaos im Kopf: Sie könnten die Sinneswahrnehmungen nicht koordinieren, Gehörtes nicht mit Gesehenem in Verbindung bringen. “Diese Annahme ist widerlegt”, sagt Knopf. “Piaget hatte in den sechziger Jahren einfach noch nicht die Mittel, um seine Hypothese zu prüfen.”

Eine der neuen Methoden ist die der verzögerten Nachahmung: Carla, 13 Monate alt, sitzt im Labor des Instituts auf dem Schoß ihrer Mutter. Aus einer Kiste kramt die Psychologin Nadya Natour Spielzeug hervor: Eine Tasse, die in sich zusammenklappt, wenn man mit der flachen Hand draufhaut, zwei ungleiche Stäbe, die sich ineinander schieben lassen, ein Würfel, der summt, wenn man einen Knopf drückt. Carla hat – darauf kommt es an – so etwas noch nie gesehen. In jeweils 20 Sekunden pro Spielzeug zeigt Natour, was man damit machen kann. Die Kleine schaut, darf aber nichts anfassen. Ein paar Tage später erst bekommt sie dieselben Spielzeuge in die Hand. Dann beobachten die Forscher, ob sie selbst macht, was ihr gezeigt wurde, ob sie also zeitverzögert nachahmt. “Viele Kinder können das”, sagt Monika Knopf, “und das belegt zweierlei: Sie behalten etwas, das sie nur sekundenlang gesehen haben, für Tage im Gedächtnis, und sie erkennen das Gesehene nicht nur wieder, sie können es auch in eigene Handlungen umsetzen. ,Was du kannst, kann ich auch.` Kleinkinder haben kein Chaos im Kopf. Sie nehmen wahr, strukturieren und erinnern.”

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Aus diesen Erkenntnissen leitet Knopf eine zweite wichtige These ab: “Der Mensch ist nicht deshalb unfähig, sich an die ersten Lebensjahre zu erinnern, weil in dieser Zeit sein Gedächtnis noch nicht funktioniert hat. Das funktioniert sehr wohl. Er bekommt nur als sprechendes Wesen keinen Zugang mehr zu der vorsprachlichen Phase seines Seins.” Mit anderen Worten: Was der Mensch wahrnimmt, hängt mit seiner Fähigkeit zusammen, Begriffe zu bilden. Deswegen kann er geistig nicht in die Zeit zurückgehen, als für ihn die Dinge noch keine Namen hatten.

Umgekehrt haben Kinder sehr früh eine Verbindung zur Sprache, auch wenn sie nicht sprechen können. Sie können die Mutter- von einer Fremdsprache unterscheiden, wenn sie erst wenige Tage auf der Welt sind, sie ziehen eine Geschichte, die sie vor der Geburt gehört haben, einer neuen vor, und sie mögen die Stimme der Mutter lieber als die einer unbekannten Frau. “Im letzten Drittel der Schwangerschaft kann der Mensch bereits hören”, sagt Prof. Ruxandra Sireteanu aus der Arbeitsgruppe von Prof. Wolf Singer am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt, “und dann beginnt er zu lernen.”

So gut er eben kann. “Die Anzahl der Kontakte zwischen den Nervenzellen des Gehirns ist bei der Geburt gering, und damit sind die Aufgaben, die Neugeborene bewältigen können, sehr begrenzt”, sagt Singer. In den ersten acht Monaten nach der Geburt schießt das Gehirn dafür zunächst einmal übers Ziel hinaus: Dann sprießen viele Nervenzellfortsätze, die mehr Kontakte untereinander knüpfen, als später im Leben je gebraucht werden. Aber nur die Verbindungen, die das Kind beim Lernen aktiviert, stabilisieren sich und bleiben, die anderen – etwa ein Drittel – bilden sich zurück.

“Das Kind hat eine Zeitlang die Chance, aus dem vollen zu schöpfen. Dieses Repertoire, aber auch die Grenzen seiner Entwicklung sind genetisch festgelegt”, erläutert Sireteanu. “Wie das Potential genutzt wird, bestimmen Lernprozesse”, und, wie ein Kind in dieser Phase geistig gefordert und gefördert wird. Das Kleinkind unterscheidet drei Kategorien: lebendig – unbelebt – Mensch Aber nicht alles muß gelernt werden. Manche Fähigkeiten sind angeboren. Neugeborene zum Beispiel sehen zwar wenig. Sie besitzen nur etwa ein Fünfzigstel der Sehschärfe eines gesunden Erwachsenen, und sie können nicht plastisch sehen. Dennoch erkennen sie von Geburt an ein menschliches Gesicht.

“Wir messen, wie lang das Baby Gesichtern und verschiedenen Figuren seine Aufmerksamkeit widmet, und haben festgestellt, daß es drei Kategorien unterscheidet: belebte Natur wie einen Wal oder eine Heuschrecke, Unbelebtes wie ein Auto, und Menschen. Der Mensch ist eine Extrakategorie, er fällt nicht unter die übrigen belebten Wesen”, sagt Monika Knopf. Jetzt möchte sie herausfinden, was in der kindlichen Wahrnehmung “den Mensch zum Menschen macht”. Unterscheidet der Säugling Gesicht und Gestalt seinesgleichen von denen eines Affen? Wo verlaufen die Grenzen?

In Staunen versetzen die Kleinkinder die Wissenschaftler damit, worüber sie bereits staunen können. So reagieren wenige Monate alte Säuglinge überrascht, wenn ein Ball aus einer Hand, die sich öffnet, nicht zu Boden fällt. Sie wundern sich, wenn ein fester Körper einen anderen, der ihm in den Weg kommt, nicht an der Bewegung hindert. Das hat Prof. Renée Baillargeon von der Universität in Champaign, Illinois, in vielen Versuchen festgestellt. Weil solche Zaubertricks die Erwartungen der Babys offensichtlich verletzen, glaubt Prof. Elizabeth Spelke vom MIT in Cambridge, USA, daß Säuglinge ein intuitives Wissen über einfache physikalische Gesetzmäßigkeiten haben wie Schwerkraft, Undurchdringlichkeit und Kontinuität fester Körper.

“Wir denken, daß der Mensch genetisch festgelegte Erwartungen hat, zum Beispiel auch quasi programmiert ist für das Wissen um einfache physikalische Regeln”, sagt Wolf Singer. “Neurologisch sind Programmierungen mit bestimmten Verschaltungen im Gehirn korreliert, die sich während der Entwicklung des Menschen aber noch beeinflussen lassen. Der Säugling ist keineswegs ein unbeschriebenes Blatt. Sogar ein Zahlenkonzept ist ihm angeboren, das wenigstens bis drei, möglicherweise sogar bis fünf reicht.”

Genauer wissen es die Wahrnehmungsforscher noch nicht. Aber während die Mütter mit ihren Kindern die Treppe der Frankfurter Psychologenvilla hinaufsteigen, um die Art des Zahlenbegriffs ihrer Kleinen für die Wissenschaft erkunden zu lassen, zählen die vielleicht schon – sprachlos zwar – die Stufen … drei, vier, fünf.

Spielend Wissen schaffen

Wer mit seinem Kleinkind an den Wahrnehmungsstudien teilnehmen möchte, wende sich an:

Prof. Monika Knopf, Institut für Psychologie, Georg-Voigt-Str. 8 60325 Frankfurt am Main Tel: 069/79825024

Nicola Siegmund-Schultze

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