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Das Jahr der Physik: Alles bleibt anders

Allgemein

Das Jahr der Physik: Alles bleibt anders
2000 wurde zum Jahr der Physik erklärt. Ziel: Imagepolitur. Doch manche hochgesteckte Erwartung wurde nicht erfüllt.

Schwungvoll zieht der Knirps am Drahtseil der Guillotine: Das vermeintliche Fallbeil gleitet sanft nach oben und spannt einen schillernden Flüssigkeitsfilm auf. Dann tritt die kleine Schwester in Aktion. Mit geblähten Wangen pustet sie eine riesige Seifenblase los, die sekundenlang durch den Raum schwebt. Andere Kinder simulieren per Murmelbahn die Beschleunigung winzigster Elementarteilchen, zählen Staubkörner in einem Mini-Reinraum und verfolgen rasante Animationen an der Multimediawand.

Schauplatz war eine Halle im Hamburger Stadtteil Lurup. Von Juni bis Oktober hatte sich das Deutsche Elektronen-Synchrotron DESY mit der Ausstellung „Licht der Zukunft“ dem Laienpublikum präsentiert. Sie zählte zu den aufwendigsten unter den EXPO-Projekten: 3,5 Millionen Mark war den Hamburger Teilchenforschern die Selbstdarstellung wert. „Die Ausstellung ist auf eine sehr positive Resonanz gestoßen“, freut sich DESY-Direktor Albrecht Wagner. „Die Wahrnehmung von DESY in der Öffentlichkeit hat sich gebessert.“

Die Hamburger Ausstellung zählte zu den spektakulärsten Aktionen einer beispiellosen PR-Offensive in der deutschen Physik. Auch andere Forschungsinstitute versuchten unter der EXPO-Flagge jene Zeitgenossen anzulocken, die den harten Naturwissenschaften sonst aus dem Weg gehen. Das Bundesforschungsministerium hatte gemeinsam mit der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) das Jahr 2000 zum „Jahr der Physik“ erklärt. Das Ziel: Durch Ausstellungen, Vorträge und populäre Mitmach-Aktionen das hierzulande eher blasse Image der Physik aufzupolieren. Hinter dem PR-Feldzug steht die alte Forderung, die Physik habe eine Bringschuld zu leisten. „Es geht darum, Forschung verständlich zu machen, die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus dem Elfenbeinturm zu holen“, betont Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn. „Wir geben in Deutschland jährlich etwa 1,5 Milliarden Mark für die Grundlagenphysik aus. Deshalb gibt es eine Bringschuld zu sagen, was mit diesem Geld passiert.“ Doch hinter der löblichen Absicht stecken pragmatische Beweggründe:

Der Physik droht das Image einer zweitrangigen, unmodernen Disziplin, von der wissenschaftliche Sensationen nur sporadisch zu erwarten sind. Die öffentlich wahrgenommenen Durchbrüche kommen heute überwiegend von Molekularbiologen, Medizinern und Gentechnikern. Während die Nanotechnologie noch relativ häufig in den Schlagzeilen auftaucht, scheinen Teilchenphysik oder Fusionsforschung zu stagnieren.

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Die Physik braucht Geld. Für manche Arbeitsgruppe geht es um die nackte Existenz, insbesondere an den unter Sparzwang leidenden Universitäten. Hier wird der akademische Mittelbau ausgedünnt, es mangelt an Personal, das mit komplizierten Apparaturen umgehen kann. Andere Institute benötigen erkleckliche Summen für neue Großgeräte, um in der internationalen Spitzenforschung mithalten zu können. Die Physik hat Nachwuchssorgen. Trotz blendender Berufsaussichten entscheiden sich heute nur wenige Abiturienten für ein Physikstudium. Noch alarmierender ist die Zahl der Vordiplomprüfungen: Anfang der neunziger Jahre lag sie pro Jahr bei über 4000, mittlerweile ist sie auf weniger als 1500 gesunken. Auch in der Schule stößt die Physik auf wenig Begeisterung: Laut einer Studie der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg ist sie das meistgehaßte Fach: Nahezu jeder dritte der 400 befragten Schüler sieht in der Physikstunde den Tiefpunkt der Unterrichtswoche.

Die Physik gerät unter Marktdruck. Investiertes Geld soll sich in absehbarer Zeit rentieren. Deshalb hinterfragen Politik und Gesellschaft Ziel und Nutzen eines Forschungsprojekts kritischer als etwa in den achtziger Jahren. Die Physik wird zusehens komplexer, die Spezialisierung schreitet im Eiltempo voran. „ Physikalische Grundlagenforschung ist heutzutage weitgehend von der Alltagswelt abgespalten, und die Kluft wird immer größer“, beklagt Achim Goeres, Kommunikationstrainer und Astrophysiker an der Technischen Universität Berlin. „Wie diese Kluft zu überbrücken ist und wie sich Erkenntnisse nachhaltig vermitteln lassen, darüber herrscht unter den Physikern Ratlosigkeit.“

Das Unvermögen hat Ursachen: Die Fähigkeit zur populären Vermittlung steht auf keinem universitären Lehrplan und wird von kaum einem Professor verlangt. Die Folge: „Selbst jüngere Physiker sehen in PR etwas Anrüchiges“, konstatiert Susanne Milde, Leiterin einer auf Wissenschaft spezialisierten Marketingagentur. Hinzu kommt, daß die meisten Physiker der öffentlichen Meinung keine Bedeutung für ihre wissenschaftliche Karriere beimessen. Wichtig erscheint allein das Urteil der Expertenwelt sowie die Menge von Veröffentlichungen in hochspezialisierten Fachpublikationen.

Doch das Kommunikationsdefizit läßt die Physiker zur leichten Beute für Kritiker werden. So findet eine Randfigur wie der in Italien tätige Teilchenforscher Hans Graßmann mit seinen sehr subjektiven Argumenten in prominenten Medien wie dem Magazin „Der Spiegel“ ein breites Forum. Die Physikergemeinde reagiert ungelenk, regt sich über die „ungerechte“ Berichterstattung auf, weiß aber auf der Klaviatur der Medienwelt keine wirkungsvolle Gegenmelodie zu spielen. Das Jahr der Physik sollte die Wende bringen. Es umfaßte fünf populärwissenschaftliche Veranstaltungen in Bonn und Berlin mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Dazu kamen mehr als 200 kleinere, von Universitäten, Forschungsinstituten und Schulen initiierte Events, zumeist Ausstellungen und Vortragsreihen. Rükkenwind kam von der EXPO sowie vom „Wissenschaftssommer“ in Bonn, einem Science-Festival nach angloamerikanischem Vorbild. Gerade bei Projekten, die in der Öffentlichkeit umstritten sind oder deren Finanzierung noch in den Sternen steht, suchten die Physiker den Kontakt zur Öffentlichkeit. So ließen sich sowohl der Münchner Forschungsreaktor FRM-II als auch die Greifswalder Dependance des Max-Planck- Instituts für Plasmaphysik (IPP) als weltweite EXPO-Projekte registrieren. Bemühungen und Besucherzahlen allerdings hielten sich in übersichtlichem Rahmen. „Wir haben für die EXPO nicht viel mehr gemacht, als wir sowieso für unsere Öffentlichkeitsarbeit einsetzen“, so IPP-Sprecherin Isabella Milch. Die Schaustücke bestanden größtenteils aus Exponaten einer europäischen Wanderausstellung zur Fusionsforschung. Das einzige, was man in Greifswald eigens zur EXPO angeschafft hatte, war ein originalgroßes Plastikmodell des künftigen Experimentalreaktors Wendelstein 7-X.

Ganz anders am DESY in Hamburg. Dort wurde mit der „Licht der Zukunft“-Ausstellung geklotzt statt gekleckert – aus gutem Grund: „Der Zeitpunkt der EXPO traf sich mit unseren Plänen, ein großes internationales Forschungszentrum namens TESLA zu bauen“, so DESY-Chef Wagner. Der Linearbeschleuniger ist 33 Kilometer lang und geschätzte fünf Milliarden Mark teuer. Dafür ist eine breite Zustimmung von Kommunen, Bundesländern und Bürgern notwendig. Mit 3,5 Millionen Mark investierte das DESY deshalb praktisch genausoviel in seine Ausstellung wie das Bundesforschungsministerium in das gesamte „Jahr der Physik“.

Die DESY-Ausstellung zog 106000 Besucher an. PR-Chefin Petra Folkerts: „Zu 99 Prozent waren die Reaktionen positiv, selbst bei Leuten, die skeptisch in die Ausstellung kamen. Sie sagten, sie hätten wirklich etwas verstanden.“ Die Akzeptanz bei den eigenen Teilchenforschern sei groß gewesen, fast alle hätten sich mit der Aktion identifiziert. Die „Jahr der Physik“-Macher geben sich ebenfalls zufrieden. „Es war ein riesengroßer Erfolg, ein Ausstellungszelt auf den Marktplatz zu stellen und Wissenschaftler in Kaufhäusern anschauliche Experimente vorführen zu lassen“, resümiert Edelgard Bulmahn.

Auch von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) sind positive Töne zu vernehmen. „Ich sehe, daß der Dialog in Gang gekommen ist“, urteilt DPG-Präsident Dirk Basting. Was den Chef einer Laserfirma besonders freut: Inzwischen verzeichnen die Universitäten wieder einen leichten Anstieg bei der Zahl der Physikstudierenden. Inwieweit der Trend auf die PR-Initiative zurückzuführen ist, bleibt im dunkeln. Doch Basting sieht auch Defizite: „Bislang haben wir es noch nicht geschafft, die Industrie in unsere Initiative einzubinden.“ Die meisten Akzente für das Jahr der Physik kamen von Wissenschaftlern aus der reinen Forschung.

Doch nicht jeder Vortrag und jede Schautafel hat die Adressaten erreicht. Manch übereifriger Forscher verfiel im populärwissenschaftlichen Dialog dem alten Fehler, den Laien mit Informationen und Einzelheiten zu überfrachten. Einige Experten sahen gar die inhaltlichen Schwerpunkte mancher Ausstellungen falsch gesetzt. „Im Vordergrund stand das Spektakuläre, die besondere technische Leistung“, urteilt Achim Goeres über die Januar-Ausstellung „Jenseits der Milchstraße“ in Berlin. Modelle von Satelliten und Marsrover hätten das Bild dominiert. Dabei hatte Physiker Goeres in Gesprächen mit Nichtphysikern doch immer wieder bemerkt, daß die Leute das, was ihr Weltbild betrifft, im Grunde mehr interessiert als irgendwelcher technischer Schnickschnack. „Soweit ich Publikumsreaktionen mitbekommen habe, war die Ausstellung nur begrenzt erfolgreich“, meint Goeres. Leider hätten es die Physiker bis jetzt nicht geschafft, ihr Weltbild zu einem allgemeinen Kulturgut zu machen, bemängelt DPG-Präsident Dirk Basting. Im Bildungsbürgertum gelte es nach wie vor als wichtiger, daß man Goethe zitieren kann.

Die Öffentlichkeit jedoch scheint anderes zu verlangen: Viele Deutsche sähen ihre Heimat als schlagkräftiges Technologie-Wunderland. Der Physik droht dabei der Status einer reinen Zulieferwissenschaft. Während Disziplinen wie die Nanophysik als Grundlage künftiger Informationstechnologie eine steigende öffentliche Akzeptanz erfahren dürften, könnten Bereiche wie Teilchenforschung oder Kosmologie immer stärker in Erklärungsnotstand geraten. Auf diesen Wandel reagieren die Teilchenphysiker am DESY, indem sie den TESLA-Beschleuniger nicht als reine „Erkenntnismaschine“ planen, sondern auch als Röntgenlaser, mit dem sich technologierelevante Biomoleküle und Halbleiter analysieren lassen. Dieser Laser wird gegenüber der Öffentlichkeit sogar lautstärker propagiert als die Teilchenmaschine, obwohl er den kleineren Teil der Investitionskosten ausmachen wird.

Daß die Physiker neuerdings sehr viel lauter auf die Werbepauke schlagen, halten Kommunikationsexperten für begrüßenswert. „Öffentlichkeitsarbeit ist legitim, warum soll nicht auch die Wissenschaft ganz platt für Akzeptanz und Vertrauen werben?“, meint Winfried Göpfert, Publizistikprofessor an der Freien Universität Berlin. „Doch zu einer guten Öffentlichkeitsarbeit gehört auch die Bereitschaft zum Dialog.“ Ob es den meisten Physikern jedoch tatsächlich um eine „ Wissenschaft im Dialog“ geht, ist fraglich. Wahrscheinlicher ist, daß sie ihre Inhalte lieber per Einbahnstraße zum Bürger transportieren wollen – in der Hoffnung, dieser würde die Physik schon vorbehaltlos akzeptieren, sobald er nur mehr davon verstünde. Aber: „Dialog bedeutet nicht nur, dem anderen zuzuhören, sondern auch die Bereitschaft, bestimmte Dinge dann eben nicht zu machen“, betont Göpfert. „Ich bin skeptisch, ob die Physiker das wollen.“

Trotz kritischer Töne: Ohne Wirkung ist das Jahr der Physik sicher nicht geblieben. Womöglich hat es in der Forschergemeinde mehr bewegt als beim Laienpublikum. „Bei den Physikern wurden Gespräche darüber angestoßen, wie Kommunikation abläuft“, glaubt Achim Goeres. Den Verantwortlichen scheint klar zu sein, daß eine geballte PR-Initiative wie das „Jahr der Physik“ nur ein Anfang sein kann. „Es ist nicht damit getan, daß man drei bis vier Veranstaltungen macht“, sagt DPG-Präsident Dirk Basting. Und beim DESY in Hamburg denkt Albrecht Wagner laut darüber nach, auf der Basis der EXPO- Ausstellung ein Wissenschaftsmuseum in Hamburg einzurichten. Auch im Berliner Regierungsviertel ist man zum Weitermachen in Sachen PR entschlossen: „Wir sind erst zufrieden, wenn die Forschungsergebnisse in der Tagesschau denselben Stellenwert haben wie die Bundesliga-Ergebnisse“, sagt Edelgard Bulmahn. „Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg.“

Frank Grotelüschen

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