Eine weiße Schlangenlinie auf dem Boden weist mir den Weg: Sie führt von der Mitte des Campus der Carnegie Mellon University hinunter zur Wean Hall. Dort endet der Parcours. Für die meisten der bizarren Miniroboter, die einmal im Jahr versuchen, der weißen Linie zu folgen, ist schon früher Schluß: Sie fahren verwirrt im Kreis oder verirren sich im Rasen.
Daß die Universität am Rande Pittsburghs unter Roboter-Forschern und Studenten Weltruf genießt, hat sie nicht nur diesem Wettrennen zu verdanken, sondern vor allem dem Mann, der das „Mobile Robot Lab“ 1980 hier gegründet hat: Hans Moravec. Mit Blechkisten, die dem Licht entgegenfuhren oder mit Elektroden sanfte Stromschläge verteilten, fing vor 40 Jahren Moravecs Karriere an – damals war er noch Schüler im kanadischen Montreal. Heute ist er der Star und Visionär seiner Zunft.
Eine Audienz zu bekommen, ist nicht einfach. In der Wean Hall heißt es erst einmal: Warten. Anne Watzman, die geschäftige Pressedame, weiß, was ihr Schützling will: „Hans kommt immer sehr spät ins Büro. Aber für Sie will er schon um drei Uhr da sein.“ Wie schmeichelhaft. Um die Zeit zu verkürzen, holt Anne kiloweise Kopien mit Artikeln aus dem Stahlschrank. Die oberste Schublade ist für Hans Moravec reserviert, die drei unteren bergen die unwichtigeren Dinge, die sonst noch an der Universität mit ihren 3000 Angestellten und 7500 Studenten passieren.
„Auch ich hielt Hans anfangs für einen Spinner“, erzählt Anne, als könne sie Gedanken lesen. „Aber nach einem Gespräch mit ihm war ich völlig begeistert – alles erschien mir so logisch.“ Gehirnwäsche? Mit mir nicht. Ich kenne Moravecs Bücher. In „Mind children“ prophezeit er unter anderem, daß die Menschen einst ihr Bewußtsein in Computer laden werden, um als Roboter weiterzuleben. Sein zweites Buch „Computer übernehmen die Macht“ läßt keine Zweifel am Schicksal der Menschheit: In 50 Jahren soll sich Homo sapiens aufs Altenteil zurückziehen. An seine Stelle tritt Homo roboticus, und die Evolution koppelt sich vom Menschen ab. „Hans ist der Andy Warhol der Robotik“, zwinkert Anne. Stimmt, der war ja auch ein bißchen verrückt. Aber wurde er nicht posthum berühmt, und sind seine Bilder nicht mittlerweile Millionen wert?
Schon um halb drei ist Hans da. Den König der Robotik-Forscher hatte ich mir allerdings anders vorgestellt: Gut, der Ring um die Hüften kommt sicher vom vielen Sitzen am Computer. Das breite Lachen inmitten des fast kahlrasierten Kopfes erinnert ein bißchen an die Teletubbys. In den nächsten zwei Stunden wird Moravec nicht mehr aufhören zu lachen und sich zu freuen wie ein Kind. Kein Zweifel: Der Mann ist absolut begeistert von dem, was er tut. Diese Begeisterung steckt an: Computer, so intelligent wie Menschen? Warum eigentlich nicht.
Nein, Deutsch möchte er lieber nicht sprechen, obwohl es eigentlich seine Muttersprache ist. Geboren in Österreich, wanderten Moravecs Eltern nach Kanada aus als er fünf war. Kanadischer Staatsbürger ist er bis heute, doch seit 20 Jahren ist Pittsburgh seine Heimat, wenn auch mit Unterbrechungen. 1996 nahm er zum Beispiel ein Sabbatical im Forschungsinstitut von Daimler-Benz in Berlin an. Der Konzern wollte, daß sich der Robotik-Pionier mit Fragen des maschinellen Sehens beschäftigt.
Moravec wollte in Berlin vor allem eines: seine Ruhe. In den USA war ihm alles zu viel geworden, zu viele Studenten, zu viel Ablenkung von der eigentlichen Arbeit. Dabei hatte Moravec nie mehr als zwölf Mitarbeiter. Heute besteht seine Arbeitsgruppe aus zwei Mann: ihm selbst und einem Studenten. „Das ist mir immer noch zu viel“, stöhnt Moravec, so als hätte man ihm gerade den Rektorenposten der Uni aufgebrummt.
Moravec arbeitet am liebsten alleine, daraus macht er keinen Hehl. „Ich bin gut im Ideen haben, aber ich bin kein Manager – so was nervt mich.“ Da kommt ihm sein Tagesablauf entgegen: „Morgens zu arbeiten ruiniert meinen ganzen Tag. Erst am Nachmittag bin ich heiß aufs Büro, und am Abend ist es endlich ruhig genug. Die maximale Leistung bringe ich abends zwischen zehn und elf Uhr, nach Mitternacht gehe ich nach Hause.“
Kann so jemand verheiratet sein? Wenn die Ehefrau Geduld aufbringt, offenbar schon. Bereits bei den ersten Rendezvous mußte sich Moravecs spätere Frau, die zwei heute erwachsene Töchter in die Ehe mitbrachte, an den ungewöhnlichen Tagesablauf gewöhnen. Aber man habe einen Kompromiß gefunden: „Ihr zuliebe gehe ich jetzt schon um drei Uhr ins Büro, früher habe ich erst abends zu arbeiten begonnen.“
Arbeiten heißt bei Moravec: Programmieren. Software schreiben, damit Roboter besser dreidimensional sehen, sich bewegen und nützliche Dinge tun können, ist für ihn ein Schöpfungsakt. Moravec ist dabei Visionär und Praktiker in einer Person. Endlich eine Roboter-Industrie etablieren, die nicht nur Prototypen entwirft, sondern kommerzielle Produkte, ist sein Ziel. Die DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency), die militärische Forschung fördert, unterstützt Moravecs Arbeit mit einer Million Dollar über drei Jahre. Colonel Mark Swinson, bei der US Army für Robotik zuständig, ist voll des Lobes: „Er ist ein begnadeter Wissenschaftler, und wir sind begeistert, daß er für uns an diesem Projekt arbeitet.“
Resultat soll ein kommerzieller Roboter sein, der mit Modulen für verschiedene Tätigkeiten, zum Beispiel Staubsaugen, kombiniert werden kann. Die Pläne hängen in Moravecs Büro, der Navigationskopf mit Kameras existiert als Konstruktionsmodell – eine Firma will Moravec in zwei Jahren gründen. Auf jeden Fall soll die Maschine lernfähig sein. Ganze Putzkolonnen aus Robotern könnten Bürogebäude reinigen, schwärmt er. Eine Aufsicht treibt die Roboter über Flure wie Schafe vor sich her und dirigiert sie in angrenzende Zimmer, bis sie alleine ihren Weg finden. Ein einfacher Umbau, und aus dem Sauger wird ein Wachhund, der nachts durchs Gebäude streift und verdächtige Bewegungen meldet. „Dieses Jahrzehnt wird den Durchbruch für die Roboter bringen“, versichert Moravec.
Dann geht es Schlag auf Schlag: Steigt die Rechenleistung der Computer weiter so an wie bisher, werden sie Mitte des Jahrhunderts mit dem Gehirn des Menschen gleichziehen, das – in die Sprache der Informatiker übersetzt – rund 100 Billionen Rechenoperationen pro Sekunde leistet. „ASCI White“, der weltschnellste Computer von IBM, der so groß wie zwei Basketballfelder ist, schafft zwölf Billionen Operationen pro Sekunde.
War es in der Vergangenheit der Ehrgeiz von Moravecs Kollegen, möglichst menschenähnliche Roboter zu erschaffen, hat der 52jährige heute andere Ziele. Roboter werden eine eigene Evolution durchmachen und völlig neue Dinge können. Schon heute steigen sie in Vulkane oder fliegen durchs Vakuum des Alls. Gerade in der Beschränktheit seines eigenen Körpers scheint Moravecs Motivation zu liegen. „Ich möchte soviel lernen – warum kann ich den Speicher meines Gehirns nicht erweitern? Warum laufen die Signale in meinen Nerven nicht mit Lichtgeschwindigkeit wie in einem Kabel? Warum sind meine Augen nur nach vorne gerichtet? Warum habe ich keine Nuklearbatterie, die mir endlos Energie spendet? Warum bin ich nicht unsterblich?“ So vieles, was bei einem Roboter besser wäre, und Moravec möchte sie entwickeln: „Ich suche nach Dingen, die die Evolution vergessen hat.“
Angst, durch eine Maschine ersetzt zu werden, habe er nicht. „ Irgendwann werde ich sowieso durch meine Kinder ersetzt. Mir ist es egal, ob das Menschen oder Maschinen sind.“ Die Verteufelung durch Kritiker wie Bill Joy hält er für Rassismus: „Viele lehnen Roboter ab, weil sie anders sind.“ Aber eines Tages werde die Ablehnung der Akzeptanz weichen – so wie das bei Computern, Kunstherzen oder Gentechnik auch war und ist. „Als ich das erste Mal von Sex gehört habe, war ich auch entsetzt. Heute bin ich damit happy“, und diesmal ist das Lachen noch breiter. Spaß – das ist es, was den Maschinen eines Tages zum Durchbruch verhelfen könnte. „Wenn Roboter mehr Spaß haben als Menschen, wird das die erfolgreichere Lebensform werden.“ Spaß? Das hört sich gut an, denke ich auf dem Weg zurück in Anne Watzmans Büro. „Aha, er hat also auch Sie überzeugt“, sagt die zierliche Dame und zeigt auf die oberste Schublade ihres Stahlschranks. „Sie schicken mir doch eine Kopie ihres Artikels für mein Archiv?“ Klar, auch wenn wahrscheinlich bald ein zweiter Stahlschrank fällig wird.
Kompakt Geboren am 30. November 1948 in Kautzen, Österreich. Kanadischer Staatsbürger mit unbegrenzter Aufenthaltsgenehmigung in den USA. Mit zehn Jahren baute er seinen ersten Roboter aus Blechbüchsen, Lampen, Batterien und Motoren. Als Schüler etliche Preise für Roboter. Im Studium Programmierung von Minicomputern zur Robotersteuerung. 1980 Promotion in Stanford mit einem Roboter, der dreidimensionale Karten seiner Umgebung anlegt und Hindernisse umfährt. Geschwindigkeit: sechs Meter pro Stunde. Seit 1980 mit Unterbrechungen am Robotics Institute der Carnegie Mellon University in Pittsburgh. Zwei aufsehenerregende Bücher: „ Mind children“ (1988) und „Computer übernehmen die Macht“ (1998). Technischer Ratgeber bei den Hollywood-Filmen „Robocop II“ und „ Mission impossible II“.
Bernd Müller / Hans Moravec