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Heilsamer Selbstmord

Allgemein

Heilsamer Selbstmord
In jeder Körperzelle ist ihr Selbstmord programmiert – zum Wohl des Körpers. Jetzt wollen Forscher mit diesem Wissen Menschenleben retten.

Der Schlag traf Klaus Behrens (Name von der Redaktion geändert), als er aufstehen wollte. Er rutschte vom Stuhl und fiel auf den Fußboden. Ein kleines Blutgerinnsel hatte sich in einem seiner „verkalkten“ Gehirngefäße festgesetzt und raubte seinem Gehirn den Sauerstoff. Als die Notärzte begannen, Behrens zu behandeln, war nur ein kleiner Teil seiner Nerven im Bewegungszentrum abgestorben. Doch um die Region des Schlaganfalls herum waren viele Nervenzellen auf „Stand-by“ gegangen. Der Sauerstoffmangel hatte sie nicht getötet, aber den ersten Schritt eines verhängnisvollen Programms gestartet. Wenn die Nerven nicht bald wieder ausreichend Sauerstoff bekämen, würden sie sich in den kommenden Tagen kollektiv umbringen – nach den präzisen Regeln des programmierten Zellselbstmords, der Apoptose.

Das Phänomen „Apoptose“ kennen die Forscher seit den frühen sechziger Jahren. Ein junger australischer Doktorand, John Kerr, entdeckte in einem Labor des Londoner Universitätsklinikums zufällig unter dem Mikroskop eine Zelle bei einer auffälligen Art des Sterbens. Statt wie bei bisherigen Beobachtungen wie ein Ballon aufzuquellen und zu platzen, schrumpelte diese Zelle wie ein alter Apfel. Zuerst interessierte sich kaum ein Wissenschaftler für diese Entdeckung, und es dauerte über zwei Jahrzehnte, bis die Forscher die Tragweite dieser Beobachtung verstanden.

Heute gilt die Apoptose als eine der wichtigsten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. Derzeit erscheinen pro Jahr mehr als 10000 Arbeiten von Wissenschaftlern aus aller Welt, die versuchen, endlich die Details des programmierten zellulären Freitods zu verstehen. Diese enorme Forschertätigkeit hat zwei gute Gründe: Ohne Apoptose ist Leben schlichtweg unmöglich. Der menschliche Körper wird in der Embryonalentwicklung vor allem durch kontrollierten Zellselbstmord geformt. Außerdem sterben täglich auf diese Weise zehn Milliarden unserer Körperzellen, zum Beispiel unbrauchbare Zellen im Immunsystem oder im Darm. Zum anderen häufen sich die Hinweise dafür, daß zahlreiche schwere Erkrankungen ursächlich mit einer fehlgesteuerten Apoptose zu tun haben und zwar in vergleichsweise einfacher Hinsicht – es gibt entweder „zu viel“ oder „zu wenig“ Apoptose.

Die Liste der Leiden, die verdächtigt werden, mit einer fehlprogrammierten Apoptose zusammenzuhängen, ist ebenso lang wie unterschiedlich: Sie reicht von Aids und Alzheimer über Herzversagen, Schlaganfall und Parkinson bis hin zu rheumatischer Arthritis, Krebs und Leberzirrhose. All diese Krankheiten haben eines gemeinsam: Sie lassen sich bislang nicht oder nur sehr unbefriedigend behandeln. Doch dies könnte sich bald ändern. Denn wer die Geheimnisse der Apoptose kennt – so glauben die Forscher – , hält den Schlüssel für die Heilung vieler schwerer Krankheiten in Händen. Donald Nicholson von den Merck-Forschungslabors ist sogar sicher, daß schon in einigen Jahren Medikamente auf den Markt kommen, die den Zellselbstmord gezielt beeinflussen.

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Ein brisantes Beispiel für die fatalen Folgen von „zu viel“ Apoptose ist der Schlaganfall (siehe bild der wissenschaft 8/99). Mehr als 200000 Menschen erleiden pro Jahr in Deutschland ein ähnliches Schicksal wie Klaus Behrens. Nach dem Schlag drängt die Zeit: Medikamente, die das Gerinnsel auflösen können, müssen innerhalb der nächsten drei Stunden verabreicht werden. Danach sind sie unwirksam oder schaden mehr als sie nutzen. Wegen des engen Zeitfensters kann nur den wenigsten Schlaganfall-Patienten – 5 von 100 – mit solchen Medikamenten geholfen werden. Dringend erforderlich wären Arzneien, die auch dann noch helfen, wenn der Schlaganfall bereits einige Zeit zurückliegt. Dazu müßten die Medikamente in der Lage sein, den massenhaften Selbstmord im Gehirn zu stoppen, ist die Überlegung der Apoptose-Forscher. Tatsächlich haben sie bereits Substanzen entdeckt, die das Programm, das zum Selbstmord der Zelle führt, vorzeitig abbrechen. Ihre Einsatzfähigkeit als „Gewebeprotektoren“ nach einem Schlaganfall wird derzeit in Versuchen mit Tieren getestet.

Ähnliches gilt für den Herzinfarkt. Rund um das verstopfte Herzgefäß sterben die Zellen des Herzmuskels. Manche gehen durch Sauerstoffmangel sofort zu Grunde, zahlreiche weitere – zunächst nicht geschädigte – Zellen sterben durch Apoptose ab. Könnte man dieses Zellsterben eindämmen, wären die Folgeschäden wohl begrenzt. Auch bei der Herzinsuffizienz, einer chronischen, oft tödlich endenden Herzschwäche, ist die Apoptose von Herzmuskelzellen als Ursache mittlerweile eindeutig belegt. Selbst die Artheriosklerose, die krankhafte Verengung der Blutgefäße, geht wahrscheinlich auf einen fälschlicherweise eingeleiteten Selbstmord der Blutgefäß-auskleidenden Endothelzellen zurück. Für alle diese Krankheiten werden derzeit verschiedene Apoptose-Blocker erprobt.

Um Angriffspunkte für Therapien zu finden, studieren Apoptose-Forscher weltweit die Einzelschritte des komplexen Geschehens, die mit dem Suizid der Zelle endet. Sie hoffen, molekulare „Schalter“ zu entdecken, mit denen sich die Apoptose gezielt an- oder abschalten läßt. Immerhin kennen die Forscher mittlerweile die Grundprinzipien.

Um Selbstmord zu verüben, nutzen die Zellen aller vielzelligen Lebewesen offenbar nahezu die gleichen Instrumente: Bestimmte Enzyme, sogenannte Caspasen, verrichten im Innern der Zelle ihr verheerendes Werk. Wie kleine Kettensägen rotieren die Caspasen im zellulären Leib und zerstückeln dabei wichtige Proteine, etwa die des Zytoskeletts, die die Zelle in Form halten. Auch das Erbmaterial, die DNA, wird von ihnen indirekt angegriffen. Was nach der enzymatischen Zerstörungswut von der Zelle übrigbleibt, sind zahlreiche Membran-umschlossene Päckchen, die von Nachbarzellen oder den allgegenwärtigen Freßzellen des Immunsystems bereitwillig vertilgt werden. Der große Vorteil der Apoptose: Es kommt zu keinerlei „nekrotischen Komplikationen“, das heißt, es läuft keine Zellflüssigkeit aus, und es gibt keine Entzündungen. Solche Nekrosen entstehen durch eine grobe Beschädigung, sie sind eine Art „Zellmord“. Der Zellselbstmord durch Apoptose ist dagegen eine saubere Sache, blitzschnell und unauffällig.

Einmal von inneren oder äußeren „Todessignalen“ in Gang gesetzt, sind die Caspasen, die der Zelle den Todesstoß versetzen, kaum mehr zu stoppen. Die Natur hat die Körperzellen deshalb mit einer ganzen Familie von „Kontrolleuren“ ausgerüstet, den sogenannten Bcl-2-Proteinen, um die „Vollstrecker“ im Zaum zu halten. Bislang haben die Wissenschaftler etwa 20 unterschiedliche Bcl-2-Familienmitglieder ausfindig gemacht: Die einen fördern den programmierten Zelltod, die andern hemmen ihn. Zwischen den beiden Familienmitgliedern herrscht ein sensibles Gleichgewicht. Solange es hält, ist die Zelle nicht in Gefahr. Gewinnen aber die Apoptose-fördernden Familienmitglieder die Oberhand, werden die Caspasen aktiviert – damit ist das Todesurteil über die Zelle gesprochen. Selbst die Kontrolleure werden kontrolliert: In der Zelle beeinflussen weitere Regulator-Proteine das Verhältnis zwischen Apoptose-fördernden und Apoptose-hemmenden Bcl-Proteinen. Diese Regulatoren sind offenbar für jeden Zelltyp spezifisch. Sie erklären, warum manche Zellen einen starken, andere nur einen schwachen Anstoß zum Suizid brauchen, und wieder andere sofort oder nur sehr langsam reagieren.

Je nach Entwicklungsstadium sind viele Zellen außerdem unterschiedlich todesbereit. Die Bauanweisungen für alle Proteine, die bei der Apoptose mitmachen, sind im Innern des Zellkerns in den Erbanlagen festgeschrieben. Einige dieser Gene entdeckte der amerikanische Biologe Robert Horvitz vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) im „Hauswurm“ der Apoptose-Forscher, dem unscheinbaren Fadenwurm Caenorhabdits elegans. Inzwischen sind 16 verschiedene Gene analysiert, die den programmierten Zelltod steuern. Die verblüffende Erkenntnis der Wissenschaftler: Diese Gene und ihre Proteine sind universell, vom Fadenwurm bis zum Menschen. Der programmierte Zelltod folgt offenbar einem bewährten Signalweg mit einer 500 Millionen Jahre alten evolutionären Tradition. Vor kurzem beobachteten Wissenschaftler, daß sogar die einzellige Hefe dem programmierten Zelltod erliegen kann. Sie ist seither zum beliebten Modellorganismus avanciert, mit dem die Forscher den grundlegenden genetischen Mechanismus der Apoptose aufklären wollen. Den Wissenschaftlern hilft dabei, daß die Hefe nur rund 6000 Gene hat, die alle vollständig sequenziert sind. Eines ihrer Ziele: die Apoptose gezielt beeinflussen – zum Beispiel, um Krebserkrankungen zu heilen.

Als typisch für Krebszellen galt bislang ihre ungebremste Teilungsfähigkeit. Doch mittlerweile scheint es mehr, als hätten sie manchmal „vergessen“, zu sterben. Denn eigentlich sollte eine Zelle mit schwerwiegenden – „bösartigen“ – Veränderungen immer den Startschuß für den programmierten Zelltod geben. Doch für Krebszellen ist es typisch, daß sie auf die Signale, die sie zum Selbstmord aufrufen, nur unzureichend reagieren. „Bei intakter Apoptose-Steuerung dürften Krebszellen eigentlich kaum älter werden als ein paar Stunden, bevor sie in den Selbstmord getrieben werden“, sagt Peter Krammer vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, einer der weltweit führenden Apoptose-Forscher. Wenn aber Wachstum und Apoptose aus der Balance geraten, können Zellen ihre angeborene Opferbereitschaft verlieren.

Bei etwa der Hälfte der menschlichen Tumore – in denen der Lunge, des Dickdarms und der Brust – ist eine der wichtigsten Kontrollinstanzen der Zelle, das Protein p53, ausgefallen. Normalerweise erkennt dieses Wächter-Protein gefährliche Veränderungen im Erbgut der Zelle und alarmiert enzymatische Reparaturtrupps (siehe bild der wissenschaft 5/1996 „Kamikaze in der Zelle“). Erweist sich der Defekt als irreparabel, zieht p53 den Nothebel: Es aktiviert Gene, die den programmierten Zelltod in Gang setzen. Die entartete Zelle vernichtet sich selbst, bevor sie sich vermehren kann. Ist aber der Wächter selbst mutiert, kann die Apoptose nicht ausgelöst werden – die Krebszellen teilen sich unkontrolliert und wuchern ungehemmt zu einer Geschwulst heran.

Außer p53 scheinen noch andere Apoptose-regulierende Proteine in das Krebsgeschehen verwickelt zu sein. Zum Beispiel Bcl-2: Dieser Apoptose-hemmende Regulator wird bei bestimmten Krebsarten, vor allem bei bestimmten Lymphtumoren, im Übermaß gebildet und hindert die entarteten Zellen daran, sich selbst zu zerstören. Mit diesem Wissen entwickeln Pharmaforscher jetzt Medikamente, die gezielt – und damit schonend – nur die Krebszellen angreifen. Substanzen, welche die Apoptose von Tumorzellen aktivieren oder eine Apoptose-Hemmung rückgängig machen, sind darum in den Forschungspipelines fast aller großen Pharmaunternehmen.

Tumorleiden sind nur ein Beispiel für Krankheiten, die auf „zu wenig“ Apoptose beruhen. Auch Autoimmunkrankheiten, etwa die rheumatische Arthritis, werden neuerdings mit einer mangelnden Fähigkeit zum programmierten Zelltod in Zusammenhang gebracht: Offenbar greifen fehlgeleitete, Apoptose-unempfindliche oder auf Apoptose-Signale zu spät reagierende Immunzellen gesundes körpereigenes Gewebe an. Auch im Kampf gegen Krankheiten mit „zu viel“ Zelltod könnte eine medikamentöse Kontrolle der Apoptose der Schlüssel sein sein. Zum Beispiel: fortschreitende Gehirn- und Nervenleiden wie Alzheimer, Parkinson oder Chorea Huntington, Retina pigmentosa, eine erbliche Netzhautablösung, akutes Leberversagen. Noch haben die Forscher die zerstörerischen Prozesse bei diesen Leiden nicht vollständig geklärt, aber wahrscheinlich sterben auch hier die meisten Nervenzellen auf Grund einer fehlprogrammierten Apoptose ab. Bei der Schädigung des Gehirns ungeborener Kinder durch den ungehemmten Alkoholkonsum ihrer Mütter sind schon mehr Einzelheiten bekannt: Der Alkohol greift in Mechanismen ein, die den programmierten Zelltod im heranreifenden Gehirn regulieren. Offenbar blockiert der Alkohol bestimmte Rezeptoren – sogenannte NMDA-Rezeptoren (N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptoren) – in einer Entwicklungsphase, in der normalerweise wichtige Bindungen zwischen den Nervenzellen geknüpft werden.

Seit die Wissenschaftler entdeckt haben, daß bestimmte Viren anti-apoptotische Gene tragen, mit denen sie Todessignale einfach unterbrechen und eine befallene Zelle am Selbstmord hindern können, um ihre eigene Vermehrung in der lebenden Zelle zu sichern, hoffen sie darauf, die Apoptose eines Tages gezielt an- und abschalten zu können. „Mittlerweile fragen wir uns“, sagt Peter Krammer, „ob nicht fast jede Erkrankung etwas mit Apoptose zu tun hat – und wie man diese Erkenntnis therapeutisch nutzen kann.“

Kompakt Viele Krankheiten entstehen durch fehlgeleiteten Selbstmord von Körperzellen (Apoptose). Eine „Selbstmord-Therapie“ könnte bald Krebs, Rheuma, Alzheimer oder Schlaganfall bekämpfen.

Schutz vor Krebs KILLERZELLen (orange) treiben Krebszellen (lila) in den Selbstmord: die gefährlichen Zellen zerhacken ihr Inneres und verpacken es in kleine Membranblasen – ein Selbstheilungsprozeß, der viele Krebserkrankungen gar nicht erst ausbrechen läßt. Doch gerade bei den gefährlichen Krebserkrankungen fällt der heilende Zellselbstmord oft aus: Die Tumorzellen sterben nicht mehr. Manche Krebszellen können sogar den Spieß umdrehen: Die entarteten Zellen schütten große Mengen Apoptose- fördernder Proteine aus, gegen die sie selbst immun sind. Diese Proteine greifen Immunzellen an, die eigentlich die Tumorzellen vernichten sollten. Statt der Krebszelle werden so die Verteidiger in den Selbstmord getrieben.

Claudia Eberhard-Metzger

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