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Wut tut gut

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Wut tut gut
Wer zornig ist, wird oft schief angesehen. Und wer sich ekelt, fühlt sich schlecht. Doch solche Gefühle nützen beim sozialen Umgang miteinander.

Das Gefühl Zorn gehört seit dem christlichen Mittelalter zu den sieben Todsünden, und wer seinen Ärger und seine Wut ungehemmt herauslässt, der hat auch in der aufgeklärten Gegenwartskultur ein erhebliches Imageproblem am Hals. Es sieht auf den ersten Blick so aus, als würden alle sozialen Übel – von Mord über Totschlag und Ausländerfeindlichkeit bis zum Terrorismus – durch diese scheinbar antisoziale Gefühlswallung ausgelöst. Wer seinem Zorn zu schnell nachgibt, gilt als unbeherrscht und aggressiv, und nach der Lehre der Psychosomatik ist ihm obendrein ein Herzinfarkt gewiss. Deshalb träumen Utopisten von der zornlosen Gesellschaft, und seit biblischen Zeiten gehen Seelenhygieniker mit der Rachsucht ins Gericht.

Doch seit ein paar Jahren hat bei der Beurteilung dieser cholerischen Empfindung ein Sinneswandel eingesetzt. Die Forschungsarbeiten der Psychologen und Evolutionsforscher haben das Bewusstsein dafür geschärft, dass die Bereitschaft, Verstöße gegen den Sozialvertrag auch unter persönlichen Kosten zu bestrafen, zu den edleren Zügen der menschlichen Natur gehört. Ein Zornesausbruch ist in vielen Situationen nicht nur verständlich, sondern das angemessene Mittel, um einer Ungerechtigkeit, Schädigung oder Benachteiligung zu begegnen.

Ohne deutliche Gesten des Zornes hätten die meisten sozialen und politischen Protest- und Befreiungsbewegungen keinen Biss gehabt. „Wenn unsere Vorfahren in unserer evolutionären Vergangenheit nicht aufbegehrt hätten, sobald sie in reziproken Tauschbeziehungen über den Tisch gezogen wurden, hätten sie sich schwere Nachteile eingehandelt und wären schließlich abserviert worden”, erklärt der Psychologe Nigel Barber aus Birmingham, Alabama. Der Glaube, dass Zorn im Alltag automatisch zu körperlicher Aggression eskaliert, tut dieser moralischen Emotion Unrecht, schließt der Psychologe Howard Kassinove von der Hofstra University in Long Island aus der Forschungsliteratur. Nur in zehn Prozent aller Fälle arten Zornesanwandlungen in Handgreiflichkeiten aus, und ein enormer Anteil aller Grausamkeiten und Gewalttaten wird aus eiskalter, gefühlloser Berechnung ausgeführt.

Dagegen ist das auffallendste Merkmal des Zornes seine Impulsivität, er wirkt fast immer eruptiv und explosiv. Daher hat der Volksmund diesen Erregungszustand mit feurigen Metaphern ausgeschmückt: Zornige Menschen sind „Hitzköpfe”, sie kochen innerlich, bis sich ihre Aufgebrachtheit in „Weißglut” entlädt. Zorn gehört zu den am häufigsten auftretenden Gefühlen. Bei Studien, deren Teilnehmer über ihre Emotionen Buch führten, waren zwischen mehreren Wutausbrüchen in der Woche bis zu mehreren täglich zu verzeichnen. Alle Auslöser, die Menschen in Rage versetzen, haben eine Bedingung gemeinsam: Der Betroffene wird an der Erreichung seiner Ziele gehindert. Das kann eine Banalität sein, die kein Zutun eines anderen Menschen erfordert, wie wenn eine Ampel plötzlich auf Rot umspringt. Aber den gravierendsten Attacken des Zornes geht immer ein moralischer Schuldspruch voraus: Wir ereifern uns vor allem dann über andere, wenn der Eindruck entsteht, das Ganze sei eine absichtliche Provokation und vorhersehbar gewesen – es hätte vermieden werden können, und die Gründe für das Verhalten sind nicht akzeptabel.

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Politiker löst Brechreiz aus

Wenn Menschen auflisten sollen, was ihnen alles Ekel einflößt, kommen nicht nur die üblichen Verdächtigen ans Tageslicht wie etwa schmutzige, faulige und verdorbene Speisen, dazu Fäkalien, Schleim und Verfall. „Unsere Probanden haben uns erzählt, dass sie auch Rassisten, Kinderschänder, Heuchler, politisch links oder rechts Stehende als ekelhaft empfinden”, betont der Psychologe Paul Rozin von der University of Pennsylvania. Eine Studentin gab an, schon Brechreiz zu bekommen, wenn sie nur das Gesicht eines bestimmten Politikers im Fernsehen sehe. Das ist eine seltsame Zweckentfremdung der Ekelreaktion, die ursprünglich aus der Sphäre der Nahrungsaufnahme stammt und Menschen davor schützen soll, ungenießbare und gesundheitsschädliche Lebensmittel zu verzehren. Wir kommen aber nicht mit angeborenen Aversionen gegen bestimmte Speisen zur Welt, sondern eignen uns unseren „Ekelcode” erst durch Lernerfahrungen in unserer Kultur an. Die Evolution hat das Ekelgefühl offenbar flexibel und lernfähig gemacht nach dem Motto: „Ekle dich vor den Dingen, die in der Gesellschaft, in der du lebst, als ekelhaft gelten!”

Juden galten als ungeziefer

Die erstaunliche Anpassungsfähigkeit der Ekelreaktion führt leider auch dazu, dass Ekelmetaphern oft missbraucht werden, um unliebsame Menschen oder Verhaltensweisen zu diffamieren. Die Verunglimpfung der Juden als Parasiten und Ungeziefer durch die Nazis ist eines der schlimmsten Beispiele. Bestimmte Dinge wie Homosexualität, Obszönität oder Prostitution wurden lange Zeit nur deshalb strafrechtlich verfolgt, weil sie bei vielen Menschen moralischen Ekel auslösten. Die wirkungsvollste Methode, eine Sache oder eine Bevölkerungsgruppe herabzusetzen, besteht darin, sie als ekelhaft zu definieren: Keine andere Emotion, auch nicht Zorn und Empörung, zeichnet ihr Objekt so widerlich. Alles, was mit der moralischen Ekelmetapher behaftet ist, schreckt uns ab, fällt aus unserem moralischen Zirkel heraus, verliert jedes Anrecht auf Mitgefühl und ist der Vernichtung ausgeliefert.

In einem Fall hat die Natur den Ekel aber selbst zweckentfremdet, um einen moralischen Riegel vor eine bestimmte Verhaltensweise zu schieben: Sie hat uns eine sexuelle Aversion gegen Blutsverwandte eingeimpft, die als „Inzestschranke” bezeichnet wird. „Personen, die von frühester Kindheit an eng zusammenleben, entwickeln eine sexuelle Aversion gegeneinander”, formulierte der Anthropologe Edward Westermarck das Prinzip vor 100 Jahren. Der Gedanke an sexuellen Kontakt mit nahen Verwandten weckt in uns eine Abneigung, die ihre Nähe zum Ekelgefühl nicht leugnen kann. Aus diesem intuitiven Abscheu entwickelt sich dann die gesellschaftliche Sexualmoral, die Inzest als Frevel und Sünde geißelt.

Ein Verlust der Ekelsensitivität kann seltsame Folgen haben: Patienten mit der Huntington-Krankheit („Veitstanz”), die die Funktion der „Ekelzentren” im Gehirn beeinträchtigt, fanden bestimmte „widerliche” Handlungen – wie Geschlechtsverkehr mit der gerade verstorbenen Ehefrau – weniger widerlich als Gesunde. Wie das Beispiel des Ekels lehrt, besitzen moralische Emotionen die erstaunliche Eigenart, dass sie manchmal wie ein Schalter an- und ausgeknipst werden können. Diesen geistigen Schlenker bezeichnet man als Moralisierung und Amoralisierung. Auf der einen Seite sind in den vergangenen Jahrzehnten viele Verhaltensweisen, die einst als Laster und moralische Verfehlung galten, „amoralisiert” worden und nehmen nun den Rang einer neutralen Lifestyle-Entscheidung ein, erklärt der Harvard-Psychologe Steven Pinker. „Zu den amoralisierten Handlungen gehören Scheidung, uneheliche Kinder, Berufstätigkeit von Müttern, Marihuanakonsum, Homosexualität, Masturbation, Analverkehr, Oralverkehr, Atheismus und jede Ausübung einer nicht westlichen Kultur.” Das Gefährliche an der künstlichen Moralisierung ist, dass sich häufig unmerklich Nuancen des Ekels in die Bewertung eines Sachverhaltes einschleichen und dadurch die rationale Urteilsfähigkeit unterminieren.

Der Psychologe Jonathan Haidt von der University of Virginia nennt diese geistige Trübung „moralische Sprachlosigkeit” (moral dumbfounding). Er bat seine Probanden, bestimmte Tabubrüche moralisch zu bewerten, die bewusst so gewählt waren, dass kein Schaden für irgendeine Person entstand: Zum Beispiel den Sexualakt zwischen einem Geschwisterpaar, das dabei Freude empfand, Empfängnisverhütung praktizierte und die „Sünde” vor der Umgebung verheimlichte. Obwohl alle potenziellen Nachteile ausgeklammert waren, verurteilten die Befragten das Verhalten mit wildem Abscheu. Sie hatten aber große Schwierigkeiten, zu erklären, warum. Ihre Argumente waren nur nachträgliche Rationalisierungen für emotional gefällte Urteile. Zum Beispiel sagten viele, dass Inzest zu deformiertem Nachwuchs führt. Aber selbst wenn der Versuchsleiter sie auf den Denkfehler – etwa das Übersehen der Empfängnisverhütung – aufmerksam machte, beharrten sie stur und ratlos auf ihrem Richtspruch.

Heilige und Sünder

Ein geschärftes Bewusstsein für die Psychologie der Moralisierung muss uns nicht moralisch abstumpfen. Im Gegenteil, es kann uns die Augen dafür öffnen, dass sich die Entscheidung, eine bestimmte Handlungsweise unter dem Aspekt von Tugend und Sünde zu beurteilen – und nicht unter dem von Kosten und Nutzen –, an moralisch zweifelhaften Gründen orientiert – vor allem an der Frage, ob die Heiligen und Sünder zum eigenen Lager oder zum anderen gehören. ■

Rolf Degen

Ohne Titel

· Zorn ist eines der häufigsten Gefühle.

· Er hat in der Evolution eine wichtige Rolle gespielt und stabilisiert das gesellschaftliche Zusammenleben. • Wovor der Mensch sich ekelt, ist kulturell bestimmt.

Ohne Titel

Psychologie, Gehirnforschung und Evolution sind die Themen des langjährigen bdw-Autors. Degen hat Psychologie, Soziologie und Publizistik studiert und lebt als Wissenschaftsjournalist in Bonn. Der abgedruckte Text ist ein Auszug aus Degens neuem Buch „ Das Ende des Bösen”, das am 9. Oktober erscheint (Piper, München 2007, 320 S., € 19,90).

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