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Wie Sie Ihr Unbewusstes nutzen

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

Wie Sie Ihr Unbewusstes nutzen
Wissen ist nicht alles: Die Intuition arbeitet geschickt im Verborgenen – und hilft, komplizierte Probleme zu lösen, ohne dass man etwas davon merkt.

Es schien bloss ein Routine-Einsatz zu sein: ein Küchenbrand in einem Wohnhaus, das Übliche. Etwas, womit jede Feuerwehr in regelmäßigen Abständen konfrontiert wird – auch die Feuerwehr von Cleveland, einer mittelgroßen Stadt im nördlichen US-Staat Ohio. Also spulten die Feuerwehrmänner ihr gewohntes Programm ab: Tür aufbrechen, Schlauch legen – und löschen. Aber das Feuer flackerte munter weiter. Das Wasser floss in Strömen, doch es brannte immer noch. Schließlich zogen sich die Feuerwehrleute ins Wohnzimmer zurück. Da überfiel den Kommandanten plötzlich ein mulmiges Gefühl: „Raus hier!“, rief er. „Sofort alle raus!“ Kaum waren alle draußen, brach der Boden des Hauses zusammen, auf dem die Feuerwehrleute eben noch gestanden hatten. Der Brandherd war nicht in der Küche, sondern im Keller gewesen.

Als der US-Psychologe Gary Klein den Kommandanten später fragte, warum er den plötzlichen Befehl zur Räumung des Hauses gegeben hatte, meinte der, es sei „ein siebter Sinn“ gewesen. Ungläubig hakte der Wissenschaftler nach, fragte den Mann, ob ihm nicht doch etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei. Da erinnerte sich der Kommandant daran, dass es im Wohnzimmer merkwürdig heiß gewesen war. Auch hatte das Feuer keine Geräusche gemacht, wie es normalerweise der Fall ist. Es war still gewesen. Alles in allem irgendwie seltsam. Beunruhigend. Und obwohl dem Kommandanten diese und viele weitere kleine Ungereimtheiten in der Notsituation nicht bewusst waren, hatte sein Gehirn sie doch registriert und Schlüsse daraus gezogen.

Nicht ein siebter Sinn, sondern sein Unbewusstes hatte die Informationsbruchstücke blitzschnell zusammengesetzt und eine kurze Botschaft ans Bewusstsein geschickt: Raus hier! Es war die Intuition, die dem Kommandanten und seinen Kollegen das Leben gerettet hatte. „Manche glauben, Intuition funktioniert wie in Star-Wars-Filmen, wenn Luke Skywalker darauf vertraut, dass ‚die Macht‘ ihn leitet“, sagt Klein. „Dabei handelt es sich um komplexes Denken.“ Vor gut 300 Jahren hat Blaise Pascal das etwas poetischer formuliert: „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt“, schrieb der französische Mathematiker und Philosoph im 17. Jahrhundert – und nahm damit eine Einsicht vorweg, für die Klein und viele andere Forscher in den letzten Jahren immer mehr empirische Belege gefunden haben.

rATIONALER ALS DIE RATIO

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Die zentrale Erkenntnis: Der größte Teil unserer Denkprozesse spielt sich nicht bewusst, sondern unbewusst ab. Auch wenn sich der Mensch in der abendländischen Kultur seit Sokrates, Platon & Co daran gewöhnt hat, komplexe kognitive Vorgänge, insbesondere das Denken, dem bewussten Verstand zuzuschreiben, offenbaren die neuen Befunde nicht nur, wie beschränkt die Ratio ist. Nein, wie sich herausgestellt hat, kann das Unbewusste mitunter sogar besser denken als der bewusste Verstand. „Das Unbewusste ist manchmal rationaler als die Ratio“, sagt Ap Dijksterhuis, der an der Radboud Universität in Nimwegen kürzlich einen Lehrstuhl für die „Psychologie des Unbewussten“ eingenommen hat.

Erste Hinweise auf die Macht der Intuition und die Intelligenz des Unbewussten erhielt Anfang der 1990er Jahre der US-Psychologe Timothy Wilson von der University of Virginia, als er einer Gruppe von Studenten fünf Kunstposter zeigte, aus denen sie sich eins aussuchen sollten. Zur Wahl standen unter anderem ein Van Gogh und Monets Nymphéas. Die Hälfte der Teilnehmer sollte zunächst das Für und Wider der Poster schriftlich auflisten und so möglichst bewusst über die Bilder nachdenken. Die anderen sollten einfach spontan entscheiden. Im Anschluss schenkte der Psychologe allen das Plakat, das ihnen am besten gefallen hatte.

Am Ende des Semesters rief der Studienleiter die Leute an, um nachzufragen, ob ihnen das Poster noch gefiel. Erstaunt stellte er fest, dass diejenigen, die die Plakate analysiert hatten, mit ihrer Wahl nicht sonderlich zufrieden waren. Als glücklicher erwiesen sich die Spontanentscheider – sie hatten das Poster sogar häufiger in ihrer Wohnung an die Wand gepinnt. Vielen Experten erschien dieses Ergebnis sehr sonderbar, ja „irrational“ – sie konnten es nicht glauben. Also wiederholte man den Versuch rauf und runter. Doch egal, wofür sich die Leute entscheiden sollten – eine Frühstücksmarmelade, ein Seminar an der Uni oder eine Hautcreme –, immer wieder stellte sich heraus: Mehr Analyse führt meist zu einer schlechteren Wahl. „Oft ist es besser, nicht lange zu grübeln und sich einfach auf seinen Bauch zu verlassen“, sagt Gerd Gigerenzer, Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Autor des kürzlich erschienenen Buchs „ Bauchentscheidungen“.

Wie lässt sich das erklären? Woher bezieht „der Bauch“ diese Macht? Unseren Kindern liegen wir mit dem Rat in den Ohren, sie sollten doch öfters mal ihren Verstand einschalten. Und nun scheinen uns handfeste Experimente und Max-Planck-Direktoren das Gegenteil nahezulegen. Ist der Verstand etwa dümmer als wir dachten? Nicht unbedingt. Aber der bewusste Verstand hat seine Stärken und Schwächen. So ist er zwar sehr präzise, doch sein Arbeitsspeicher ist begrenzt: Der Verstand bewältigt, wie Studien gezeigt haben, nicht mehr als 50 Bits pro Sekunde – ein Bit ist die Basiseinheit der Information. Beim Lesen dieses Satzes etwa verarbeitet Ihr Gehirn um die 45 Bits, beim Rechnen sinkt die Zahl auf etwa 12 Bits. Die Ratio kommt also nur mit wenigen Informationshäppchen nacheinander klar – und ist damit relativ langsam.

Ganz anders das Unbewusste: Präzision ist nicht seine Stärke. Was macht 349 mal 14? Wer diese Aufgabe seinem Unbewussten überlässt, wird nie zu einer Antwort kommen. Zu einer ungefähren Schätzung vielleicht, aber nicht mehr. Dafür ist der Arbeitsspeicher des Unbewussten nahezu unbegrenzt: Sekunde für Sekunde verarbeitet er zahlreiche Einzelinformationen, die von den Sinnen geliefert werden. Nur ein Bruchteil dieser Eindrücke dringt ins Bewusstsein. „Etwa 0,1 Prozent dessen, was das Gehirn aktuell tut, wird uns bewusst“, schätzt der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth. Der Rest wird unbewusst erledigt. Das Unbewusste wird also binnen kürzester Zeit mit einer enormen Menge an Informationen fertig. Das erweist sich gerade in komplexen Situationen als Vorteil. Etwa, wenn man in einem brennenden Haus steht und in Sekundenschnelle Dutzende von Eindrücken zusammenfügen muss. Oder wenn man aus fünf Postern das schönste aussuchen soll. Da der Arbeitsspeicher der bewussten Ratio beschränkt ist, vermutet der Psychologe Tim Wilson, gerieten all jene, die über die Vor- und Nachteile der Poster reflektierten, schon bald an die natürlichen Kapazitätsgrenzen, klammerten sich in ihrer Not an irgendwelche Details und trafen eine schlechte Wahl. Die Spontanentscheider dagegen konnten sich auf ihr Unbewusstes verlassen, das viele Aspekte der Plakate in Betracht zog und auf diese Weise zu einem ganzheitlichen Urteil kam.

WOZU Ablenkung GUT IST

Das Unbewusste arbeitet schnell und oft ziemlich zuverlässig, während bewusstes Abwägen in die Irre führen kann. Heißt das also, wir sollten fortan mehr unseren spontanen Gefühlen folgen? „ Das ist zwar ein populärer Rat“, sagt der holländische Psychologe Ap Dijksterhuis. „Aber so einfach ist es nicht.“ In einer Serie von spektakulären Experimenten, teils veröffentlicht im renommierten Fachmagazin „Science“, hat der Forscher herausgefunden, dass auch die Intuition in vielen Fällen davon profitiert, wenn man ihr „Zeit zum Denken“ gibt.

Sicher, unsere Intuition ist schnell. Im Gegensatz zu den 50 Bits der bewussten Ratio ist das Unbewusste in der Lage, Millionen von Bits in Windeseile auszuwerten. Kein Wunder, dass es rascher zu einem Urteil kommen kann. Und trotzdem „denkt“ auch das Unbewusste, wie Dijksterhuis entdeckte, als er dem Posterversuch seines US-Kollegen Wilson eine neue Wendung gab. Der Forscher wiederholte das Experiment, fügte aber eine dritte Variante hinzu: Ein Gruppe sollte die Plakate weder sofort auswählen noch sich bewusst mit ihnen auseinandersetzen. Stattdessen lenkte der Psychologe die Leute mit einer kniffligen Sprachaufgabe ab, nachdem sie die Plakate gesehen hatten, sodass sie nicht weiter bewusst über die Bilder nachdenken konnten. Anschließend sollten sie ihre Entscheidung treffen. Als Dijksterhuis einige Wochen später anrief, um sich wie üblich nach den Plakaten zu erkundigen, stellte er fest: Von allen Teilnehmern bewerteten diejenigen, die er vor der Entscheidung eine Zeit lang abgelenkt hatte, die Poster am positivsten – positiver noch als die Spontanentscheider! Was war da passiert?

Unbewusst zum Besten Auto

Den Testpersonen war, glaubt der Psychologe, das Unbewusste zur Seite gesprungen. Während der bewusste Verstand an der Sprachaufgabe knabberte, konnten die Eindrücke der Poster in aller Ruhe zu den tieferen Schichten des Geistes hinabsteigen, wo unbewusste Prozesse eine Bewertung vornahmen. „Weil die Kapazität des Unbewussten rund 200 000 Mal größer als die des Bewusstseins ist, war es den unbewussten Denkern möglich, viele Informationen in Betracht zu ziehen“, sagt Dijksterhuis. So trafen gerade sie eine gute Wahl.

Vor allem in komplexen Situationen, in denen es zahlreiche Aspekte zu berücksichtigen gilt, ist das Unbewusste dem bewussten Denken überlegen, wie Dijksterhuis mit einem weiteren Versuch nachwies. Der Psychologe beschrieb Testpersonen verschiedene Autos, von denen sie sich eins aussuchen sollten – diesmal nur theoretisch. Manche Autos hatten viele positive Eigenschaften, während andere eher mittelmäßig oder sogar schlecht waren. Wieder teilte der Forscher die Testpersonen in zwei Gruppen: Die einen sollten bewusst über die Autos reflektieren, die anderen wurden abgelenkt, konnten also „nur“ unbewusst überlegen.

Es zeigte sich: Wenn der Forscher die Autos mit nur wenigen Eigenschaften beschrieb – die Probanden also nur wenige Informationen verarbeiten mussten –, trafen sie die besten Entscheidungen, indem sie bewusst über die Autos nachdachten. Beschrieb der Versuchsleiter die Autos jedoch mit einer Vielzahl von Eigenschaften (Baujahr, Marke, Service, Qualität der Schaltung und so weiter), scheiterten die bewussten Denker. Sie verhedderten sich in dem Informationswust und trafen eine schlechte Entscheidung. Dagegen blühten die unbewussten Denker nun richtig auf.

Der Psychologe Dijksterhuis leitet aus diesen Befunden eine Faustregel für die Praxis ab, die unserer herkömmlichen Vorstellung diametral entgegengesetzt ist: Bei schwierigen Problemen geraten wir für gewöhnlich ins Grübeln. Wenn man sich den beschränkten Arbeitsspeicher vor Augen hält, wird klar, wie verhängnisvoll das ist. Nur bei einfachen Sachverhalten, so der Tipp des Psychologen, sollte man bewusst entscheiden. Sobald es kompliziert wird, ist es klüger, den bewussten Verstand abzuschalten. „Sammeln Sie alle wichtigen Informationen, und dann vergessen Sie die Sache eine Weile“, rät Dijksterhuis. „Machen Sie etwas anderes, überlassen Sie dem Unbewussten das Denken – auf diese Weise treffen Sie nachweisbar die beste Entscheidung.“ ■

Bas Kast ist Reporter beim Berliner Tagesspiegel und erfolgreicher Autor. Sein neues Buch heißt: „Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft“.

Bas Kast

Ohne Titel

· Das Unbewusste ist flinker als der bewusste Verstand.

· Nur etwa 0,1 Prozent dessen, was unser Hirn denkt, wird uns bewusst.

· Die hohe Verarbeitungskapazität des Unbewussten hilft insbesondere bei komplexen Entscheidungen.

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