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Was war vor dem Urknall?

Allgemein

Was war vor dem Urknall?
Ein Durchbruch kündigt sich an – zu einem Vorläufer-Universum, aus dessen Kollaps unseres erst entstand.

„Die Natur zeigt uns von dem Löwen zwar nur den Schwanz. Aber es ist mir unzweifelhaft, dass der Löwe dazugehört, wenn er sich auch wegen seiner ungeheuren Dimensionen dem Blicke nicht unmittelbar offenbaren kann. Wir sehen ihn nur wie eine Laus, die auf ihm sitzt“, beschrieb Albert Einstein einmal den Versuch, das Universum zu verstehen. Zwar haben die Astronomen trotz ihrer „ lausigen“ Position schon viel vom Weltall durchschaut. Aber sie können den Löwen nicht einfach am Schwanz ziehen, um zu erfahren, warum er überhaupt da ist.

Immerhin: Viele Erkenntnisse sprechen dafür, dass unser Universum nicht seit Ewigkeiten existiert und sich ausdehnt, sondern vor ziemlich genau 13,7 Milliarden Jahren mit dem Urknall entstanden ist. Kosmologen und Teilchenphysiker sind mit ihren Theorien und Experimenten in Teilchenbeschleunigern sogar bis auf eine Zehntel Milliardstel Sekunde an den Urknall herangekommen. Auch für die noch früheren Sekundenbruchteile gibt es inzwischen detaillierte Vorstellungen, die sich – erstaunlich genug – künftig durch Präzisionsinstrumente wie den 2008 startenden europäischen Planck-Satelliten und den bei Genf nächstes Jahr in Betrieb gehenden Large Hadron Collider überprüfen und verfeinern lassen werden. Die Urknall-Singularität selbst bleibt jedoch die große Herausforderung – der Rachen von Einsteins Löwen: Hier spielen die physikalischen Gesetze verrückt. Genauer: Die Allgemeine Relativitätstheorie, die die Voraussetzung des Urknall-Modells ist, verliert ihre Gültigkeit, weil sie unendliche Werte von Energiedichte, Druck, Temperatur und Krümmung zur Folge hat, die physikalisch unrealistisch sind, wie bereits Einstein erkannt hat. Außerdem werden auf diesen kleinen Skalen, wo Raum und Zeit mathematisch gegen Null gehen, Quanteneffekte übermächtig, die mit der Relativitätstheorie nicht verträglich sind.

Das ist eine kuriose Situation: Obwohl die moderne Physik fest auf zwei Beinen steht – die Relativitäts- und Quantentheorie sind die experimentell am besten bestätigten Theorien aller Zeiten –, beginnt sie dort zu taumeln, wo sich die Theorien treffen. Deshalb suchen Physiker nach einer Synthese – einer Theorie der Quantengravitation oder „vereinheitlichten Feldtheorie“, um die schon Einstein in den letzten Jahrzehnten seines Lebens vergeblich gerungen hatte. Erst eine solche „Weltformel“ kann, wenn überhaupt, das mathematische Monstrum der Urknall-Singularität vertreiben und durch eine realistische Beschreibung ersetzen. Dann besteht eine Erfolg versprechende Chance zu erklären, wie es zum Urknall kam – und ob er der absolute Anfang von allem war oder lediglich ein Übergang.

Zu den aussichtsreichsten Kandidaten einer Theorie der Quantengravitation zählt die Riemann’sche Quantengeometrie, auch Quanten-Spin-Dynamik oder Schleifen-Quantengravitation („Loop Quantum Gravity“) genannt. Entwickelt wurde sie hauptsächlich von Abhay Ashtekar, Ted Jacobson, Jerzy Lewandowski, Carlo Rovelli, Lee Smolin und Thomas Thiemann.

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Ihre kosmologische Anwendung, die „Loop Quantum Cosmology“, hat sich als ein hochentwickeltes physikalisches Werkzeug erwiesen, um die schmerzliche Gesetzeslücke der Singularität zu schließen – beziehungsweise mit einer neuen Weltsicht zu stopfen. Denn in der Quantengeometrie sind Raum und Zeit nicht kontinuierlich und fließend, wie in der Relativitäts- und Quantentheorie, sondern körnig und portioniert. Die Raumzeit ist zudem nicht fundamental, sondern wird von einem „Gewebe“ winziger eindimensionaler Gebilde konstituiert, dem Spin-Netzwerk. Demnach hat der Raum eine diskrete Struktur. Das kleinste mögliche Volumen misst nur ungefähr 10–99 Kubikzentimeter. Es ist so winzig, dass es mehr Raumquanten in einem Kubikzentimeter gibt als Kubikzentimeter im beobachtbaren Universum (1085).

Dieses submikroskopische Gewebe der Welt, zwischen dessen „ Maschen“ sich schlicht nichts befindet, weil Energie und Materie Anregungszustände des Spin-Netzwerks sind, kann man sich schwer anschaulich vorstellen. Aber die Hypothese hat für das Verständnis des Urknalls erstaunliche Konsequenzen, wie Abhay Ashtekar und Martin Bojowald von der Pennsylvania State University vor ein paar Jahren entdeckten: Ersetzt man die kontinuierlichen Differenzialgleichungen der Standard-Kosmologie durch diskrete, aus der Quantengeometrie abgeleitete Differenzengleichungen, läuft die Zeit mikroskopisch betrachtet gleichsam schrittweise ab, der Raum löst sich auf und die mysteriöse Singularität verschwindet. Mit anderen Worten: Die Sprache der Quantengeometrie bringt das unendliche Geschrei der klassischen Kosmologie zum Verstummen. „Es gibt keine Singularität, die Entwicklung bricht nicht zusammen, sondern verläuft deterministisch“, sagt Bojowald. Seine Berechnungen haben erstmals gezeigt, dass – zumindest unter den stark vereinfachten Annahmen des Modells – die Physik nicht am Urknall kapitulieren muss.

Doch was geschah in diesem extremsten aller Momente? Markiert der Urknall den Anfang der Zeit – oder gab es etwas davor? Und wenn ja: was? Über dieses vielleicht größte Welträtsel hielt Abhay Ashtekar einen erstaunlichen Vortrag auf einer internationalen Konferenz zur Quantengravitation im Oktober 2005 am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam. Ashtekar stellte dort neue Berechnungen sowie numerische Simulationen im Computer vor, die er mit Tomasz Pawlowski und Parampreet Singh gemacht hatte. Für manchen Zuhörer war das Resultat fast zu schön, um wahr zu sein.

„Die Physik hört am Urknall nicht auf. Die klassische Raumzeit löst sich im Urknall auf, aber das Spin-Netzwerk ist noch da“, ist Ashtekar überzeugt. „Wir können mit den Quanten-Einstein-Gleichungen zurückrechnen – und stellen fest, dass große klassische Regionen von der Quantengeometrie deterministisch überbrückt werden.“ Anders gesagt: Schon vor dem Urknall muss es eine klassische Raumzeit gegeben haben, wenn die Annahmen der Rechnungen korrekt sind. Das heißt: Vor dem Urknall herrschte dieselbe Physik wie danach. Allerdings hat sich der Weltraum damals nicht ausgedehnt wie heute, sondern er stürzte in sich zusammen. Dieser Kollaps führte erst zum Urknall, in dem Raum und Zeit vorübergehend ihre uns vertraute Natur verloren. Das All stülpte sich gleichsam um – wie man einen Handschuh von innen nach außen kehren kann – und expandiert seither wieder. Wenn Ashtekar Recht hat, war der Urknall keine „Schöpfung aus dem Nichts“, sondern ein – wenn auch brachialer – Übergang. Der „ Umschwung“ erfolgte, weil die Schwerkraft unter diesen Extrembedingungen repulsiv, also abstoßend wirkt. „Das ist eine unvermeidliche Konsequenz der Quantengeometrie“, sagt Ashtekar – und staunt selbst über sein Ergebnis.

Das Modell hat viele Vorteile:

• Abgesehen von der Quantengeometrie mit ihren neuen physikalischen Prinzipien – unter anderem bestimmten Abänderungen sowohl der Relativitäts- als auch der Quantentheorie, um dieses ungleiche Paar zu „verheiraten“ – werden keine neuen Annahmen benötigt. Das ist in anderen kosmologischen Modellen der Fall, wo etwa eine exotische Materie oder spezielle Anfangsbedingungen postuliert werden.

• Die Entwicklung ist deterministisch und eindeutig, mögliche Schwankungen sind mathematisch unter Kontrolle.

• Auch ist klar definiert, inwiefern und wann das Universum „ semiklassisch“ ist, also mit Relativitäts- und Quantentheorie beschrieben werden kann. Das ist bis dicht an den Urknall der Fall, sodass die populäre Annahme der „Kosmischen Inflation“ – einer rasanten Raumausdehnung in den ersten Sekundenbruchteilen – keine Schwierigkeiten mit der Quantengravitation bekommt, sondern vielleicht sogar erst durch sie eine Erklärung findet.

Freilich sind viele Fragen noch ungelöst: Wie lassen sich beobachtbare Größen – und somit überprüfbare Vorhersagen – aus den Rechnungen ableiten? Was geschieht, wenn man inhomogene Störungen berücksichtigt, die Rechnungen also physikalisch realistischer gestaltet? Wie ändert sich die Entwicklung, wenn auch Materiefelder und die Dunkle Energie integriert werden? Und bleibt das Ergebnis auch in der kompletten Theorie bestehen, nicht nur bei den starken Vereinfachungen?

Wenn der Ansatz von Ashtekar und seinen Mitarbeitern Einsteins Löwen korrekt beschreibt, wäre zum ersten Mal die ominöse Urknall-Singularität beseitigt – ein Durchbruch im doppelten Sinn: sowohl in der Theorie als auch hin zu einem Vorläufer-Universum. Der Löwe selbst ist damit freilich noch nicht erlegt. Denn die Fragen gehen weiter. Wenn unser Universum sich in alle Ewigkeit ausdehnt, dann müsste sein Vorgänger aus einer immer währenden Unendlichkeit kontrahiert sein – wie ist das möglich? Und wenn unser Universum eines Tages in sich zusammenstürzt, in einem Endknall, der ein neuer Urknall würde, dann wäre auch „unser“ Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren nur einer in einer unendlichen Reihe früherer Übergänge gewesen. Doch weshalb sollte der Kosmos ewig existieren? Warum ist etwas und nicht vielmehr nichts? Rüdiger Vaas ■

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