Mehr als zwei Millionen Mal pro Jahr wird in Deutschland der Notarzt alarmiert. Doch nicht immer muss ein körperliches Problem dringend versorgt werden. Viele Patienten leiden unter seelischen Krankheiten, und eine psychiatrische Betreuung könnte ihnen wesentlich besser helfen als der Notarzt.
„Bisher wurde der Anteil an Patienten mit psychiatrischer Diagnose oder Begleiterkrankung auf maximal 13 Prozent geschätzt“ , sagt Peter Tonn, Chefarzt der psychiatrischen Abteilung der Asklepios Klinik Nord in Hamburg. „Eine Pilot-Studie von mir hat gezeigt, dass es wohl in Wahrheit über 50 Prozent sind.“ Vor seiner Tätigkeit in Hamburg hat Peter Tonn an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Mainz gearbeitet und war gleichzeitig als Notarzt unterwegs. Die meisten Notärzte sind Internisten, Anästhesisten oder Chirurgen. „Ich war einer von ganz wenigen in Deutschland mit einem neurologisch-psychiatrischen Schwerpunkt“, betont Tonn.
Für ihn lag es nahe, sich auch mit den psychischen Seiten eines Notfalls zu beschäftigen. Er schickte fast 170 Patienten, die zuvor vom Notarztstandort Langen bei Frankfurt versorgt worden waren, einige Wochen nach dem Einsatz einen Fragebogen, der psychische Krankheiten ans Tageslicht bringen sollte. Resultat: 53 Prozent der weibllichen und 65 Prozent der männlichen Notfallpatienten waren wahrscheinlich psychisch krank. Tonns Erklärung: „Viele Menschen, die primär an Depressionen, Ängsten oder Panikstörungen leiden, rufen den Notarzt, weil sie plötzlich Schmerzen in der Brust oder starke Bauchschmerzen verspüren.“ Das lässt sie an einen Herzinfarkt oder eine Blinddarmentzündung denken.
Für den Psychiater ist es wichtig, diese Menschen nicht als Hypochonder abzustempeln. Ihre Schmerzen sind real, und oft sind Blutdruck und Herzfrequenz beim Eintreffen des Notarztes tatsächlich erhöht. Ihre psychischen Beeinträchtigungen, die ihnen meist nicht bewusst sind, äußern sich körperlich. Solche Wechselspiele von Psyche und Organismus kennt jeder, der bei Aufregung Herzrasen bekommt oder vor einer schweren Prüfung schon einmal Bauchgrimmen hatte.
Selbst erfahrene Psychiater benötigen mindestens eine halbe Stunde, um eine psychische Krankheit sicher zu erkennen. So viel Zeit hat ein Notarzt nicht. Lässt sich aber nach dem Transport ins Krankenhaus kein körperliches Leiden finden, werden die Patienten in der Regel ohne psychiatrische Diagnostik wieder nach Hause geschickt. Für Peter Tonn ist das unverständlich: „Wir dürfen diese Patienten nicht mit ihren Problemen allein lassen. Wenn ihr tatsächliches Leiden nicht erkannt wird, rufen sie bald erneut die Rettungsstelle an.“ Daher plädiert er dafür, Notfallpatienten ohne Befund noch direkt im Krankenhaus eine psychiatrische Untersuchung anzubieten, an die sich dann eventuell eine geeignete Therapie anschließen kann. Das Geld dafür ließe sich rasch einsparen – denn ein Notarzteinsatz kostet bis zu 500 Euro. „Wenn wir auch in Notfallsituationen das Ganze im Blick haben“, so Peter Tonn, „kommt das nicht nur den Patienten zugute, sondern wir könnten obendrein noch die Kosten senken.“
Dr. Ulrich Fricke
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Hans Morschitzky, Sigrid Sator
Wenn die Seele mit dem Körper spricht
Psychosomatische Störungen verstehen und heilen
Walter-Verlag 2004, € 16,–
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