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„Viele Wissenschaftler kommen zurück“

Gesellschaft|Psychologie

„Viele Wissenschaftler kommen zurück“
Nach einem verlorenen Jahrzehnt beginnt sich die Wissenschaft in Russland neu aufzustellen. Welche Chancen sich für den Westen jetzt bieten, beleuchtet der DFG-Statthalter in Moskau, Christian Schaich.

bild der wissenschaft: Wo sind russische Forscher besser als andere, Herr Dr. Schaich?

SCHAICH: Weltraumtechnik, Mathematik, theoretische Physik, Biologie, Energietechnik sind Disziplinen, in denen die russische Forschung auch heute international geachtet ist.

bdw: Trotzdem liest und hört man wenig von russischen Entdeckungen und Entwicklungen.

SCHAICH: Hauptgrund dafür ist die sprachliche Barriere. Die jetzige Generation tut sich schwer, international beachtet zu werden, weil viele Englisch nicht beherrschen. Es wird auf Russisch publiziert. Die Geldgeber drängen darauf, dass die Erkenntnisse der Akademien und Universitäten erst einmal der russischen Wissenschaftlergemeinde zugänglich gemacht werden. Generell gilt: Naturwissenschaftler sprechen meist besser Englisch als Geistes- oder Sozialwissenschaftler.

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bdw: In welchem Zustand befinden sich die Institute?

SCHAICH: Viele in einem nicht sehr guten. Die Institute sind häufig in riesigen Gebäuden untergebracht, die heute menschenleer und verlassen wirken, weil viele Forscher der Wissenschaft den Rücken gekehrt haben und ihr Einkommen in der russischen Wirtschaft suchen. Es gibt aber auch Labors, die mit neuerer, manchmal auch neuester Technik und Ausstattung arbeiten. Diese haben sie häufig aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit westlichen Institutionen erhalten.

bdw: Öffentlich bedienstete Wissenschaftler in Deutschland fühlen sich oft unterbezahlt – die Wissenschaftler Russlands sind es ganz gewiss. Sie verdienen umgerechnet nur 300 bis 500 Euro im Monat.

SCHAICH: Mit exakten Zahlen über das russische Wissenschaftssystem tue ich mich schwer, weil man immer wieder andere Angaben hört. Man kann aber wohl davon ausgehen, dass 300 Euro etwa das Durchschnittsgehalt eines Wissenschaftlers sind. Doch das ist nur das offizielle Gehalt. Häufig wird noch eine Prämie gezahlt, die nicht angegeben wird – oder man verdient in einem zweiten Job etwas dazu. Mit 500 Euro kommt man in einzelnen Regionen zurecht, in Moskau aber bestimmt nicht.

bdw: Der Gehaltsunterschied zum Westen, wo Spitzenleute zehnmal so viel – oder noch mehr – verdienen können, lässt die Wissenschaft in Russland also weiter ausbluten?

SCHAICH: In den Westen zu gehen, ist immer noch verlockend. Viele würden ein entsprechendes Angebot annehmen, doch inzwischen nur noch auf Zeit. Die Abwanderungswellen sind abgeflacht. Ganz im Gegenteil kommen viele Wissenschaftler wieder zurück. Inzwischen gibt es auch in Russland Einrichtungen, die gut bezahlen – beispielsweise die Lomonossow-Universität in Moskau. Dort dürfte ein Professor um die 1000 Euro erhalten und damit um so viel besser gestellt sein, dass er nicht ins Ausland abwandert.

bdw: In der Sowjet-Ära genossen Wissenschaftler ein hohes Ansehen. Wie steht es in der Republik Russland damit?

SCHAICH: Die soziale Stellung entspricht nicht der eines Professors in Deutschland. Das war zu Zeiten der Sowjetunion anders, wo vor allem die Naturwissenschaftler hoch angesehen waren. Ursache ist nicht nur das schlechte Einkommen, sondern auch die Tatsache, dass man die Wissenschaft in Russland ein Jahrzehnt vernachlässigt hat. Wissenschaftler galten dort lange Zeit als Personen, die es versäumt hatten, rechtzeitig den Absprung zu schaffen.

bdw: Noch 1990 waren viele der damals gut zwei Millionen Köpfe zählenden Wissenschaftler direkt dem Militär zugeordnet. Welche Rolle spielt die Militärforschung in der Gegenwart?

SCHAICH: Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es zunächst einmal einen starken Rückgang. Mit Amtsantritt von Putin im Jahr 2000 hat sich das geändert. Das Militär gewinnt an Bedeutung und damit auch die militärische Forschung. Begabte Forscher werden durch höhere Einkommen gelockt. Nach den mir vorliegenden Zahlen gehen jetzt 23 Prozent des Wissenschaftshaushalts in die Militärforschung.

bdw: Die explodierenden Öl- und Gaspreise spülen Russland zuhauf Petrodollars zu. Macht sich dieser Geldsegen in der Wissenschaft bemerkbar?

SCHAICH: Sicher. Sowohl die russische Stiftung für die Grundlagenforschung als auch die Stiftung für Geistes- und Sozialwissenschaften verzeichnen von 2005 auf 2006 Budgetzuwächse von 30 bis 40 Prozent. Allerdings ist auch hier Vorsicht im Umgang mit den Zahlen angebracht. Denn gleichzeitig hat der Staat eine Grundsteuer für wissenschaftliche Einrichtungen eingeführt, was die Zuwächse vermindert.

bdw: In Russland sollen neue Universitäten entstehen – so leistungsfähig wie die besten im Westen.

SCHAICH: In Russland gibt es derzeit 1800 staatlich geförderte Universitäten, die möchte man auf 100 bis 200 zusammenschmelzen. Der Standard einer durchschnittlichen deutschen Universität ist derzeit noch höher als jener der meisten russischen. Doch es gibt bereits elitäre Universitäten wie Lomonossow oder die staatliche Universität Sankt Petersburg, aber auch Sibirien hat bedeutende Hochschulen. Nahe Nowosibirsk beispielsweise gibt es die Wissenschaftsstadt Akademgorodok. Dort haben sich – von der Verwaltung gefördert – westliche Firmen angesiedelt, die das dortige Know-how nutzen wollen.

bdw: Wie steht es mit der Freizügigkeit, in Russland gewonnene Erkenntnisse anderswo zu nutzen? Die Regierung Putin hat die Zügel angezogen.

SCHAICH: In der Tat spielt das Staatsgeheimnis als solches vermehrt wieder eine Rolle. Gleichwohl ist mir nicht bekannt, dass westliche Firmen Schwierigkeiten bekommen hätten, das Wissen zu verwerten. Ein Klima der Verschlossenheit gibt es nicht, wir werden überall mit offenen Armen empfangen.

bdw: In sowjetischer Zeit war die Akademie der Wissenschaften etwas Besonderes. Wer dazu gehörte, hatte es weit gebracht. Was ist davon übrig geblieben?

SCHAICH: Die Akademie spielt weiterhin eine große Rolle. Ihr Präsident hat ein gewichtiges Wort mitzureden – zum Teil so gewichtig, dass sich Reformansätze seitens der Regierung nicht durchsetzen lassen. Reformen werden auch deshalb geblockt, weil die Mitgliedschaft mit persönlichen Vorteilen verbunden ist: Man hat ein garantiertes monatliches Mindestsalär, das 2004 um die 600 Euro betrug – nur so fürs Mitgliedsein. Insgesamt arbeiten in der Akademie gegenwärtig an die 115 000 Menschen, gegen Ende der Sowjetunion sollen es bis zu einer Million gewesen sein. Allerdings waren und sind die wenigsten davon echte Mitglieder der Akademie.

bdw: Wer wird in die Akademie berufen?

SCHAICH: Häufig sind es „verdiente Wissenschaftler“ – so der russische Ausdruck. Die Direktoren der etwa 300 Akademie-Institute sind wohl allesamt Wissenschaftler. Es gibt aber auch Politiker, die zum Akademiemitglied gewählt werden, wie 2003 der stellvertretende Regierungs-Chef Aljoschin. Bei Mitgliedern gibt es zwei Stufen: Den rund 500 Vollmitgliedern stehen etwa 700 korrespondierende Mitglieder – das ist die Vorstufe – gegenüber. Wer gewählt ist, ist auf Lebenszeit gewählt…

bdw: …mit dem Nachteil, dass die Berufenen über Jahrzehnte in ihren Ämtern verharren, auch wenn sie noch im Sowjetsystem sozialisiert wurden.

SCHAICH: Das Durchschnittsalter der Vollmitglieder liegt zwischen 70 und 72 Jahren, das der korrespondierenden Mitglieder bei ungefähr 64 Jahren. Die Vollmitglieder sind bei ihrer Wahl im Schnitt 64, die korrespondierenden Mitglieder 54.

bdw: Wissenschaftlich am produktivsten sind Menschen zwischen 25 und 40. Wodurch werden die Jüngeren dann belohnt? Braucht man Vitamin B, will sagen, die gute Beziehung zur Akademie?

SCHAICH: Man braucht es nicht immer, aber es hilft. Etwa indem man sich ein Akademiemitglied sucht, das die Publikationen mit unterzeichnet. Doch darin unterscheidet sich das russische System nicht sehr von dem in Deutschland. Auch hier nützt es, jemanden mit bekanntem Namen zu kennen, der einem hilft, in eine bestimmte Zeitschrift zu kommen.

bdw: Gibt es konkrete Veränderungen in der Akademie?

SCHAICH: Alles ist im Fluss. Manche Veränderungen sind schon lange auf dem Tisch. So sollen die über 300 Institute auf 100 bis 200 geschrumpft werden. Das Geld, das durch weniger Mitarbeiter eingespart wird, soll den verbleibenden Wissenschaftlern zugute kommen. 2004 war die Rede davon, das Gehalt für Senior-Wissenschaftler bis 2008 auf durchschnittlich 900 Euro anzuheben. Weiterhin möchte man die Forschung mit der Lehre verknüpfen, was bislang von einem Akademiemitglied nicht verlangt wird. Auch Fragen zum geistigen Eigentum und zur wirtschaftlichen Verwertung der wissenschaftlichen Erkenntnis werden intensiv diskutiert.

bdw: Wie steht es denn aktuell um die deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen?

SCHAICH: In den letzten Jahren hat das Interesse seitens der deutschen Wissenschaftler und Institutionen erheblich zugenommen, und inzwischen ist ein vitaler Austausch zustande gekommen. In manchen Bereichen ist das Engagement der Deutschen so intensiv, dass es dem in Richtung Westen kaum nachsteht. Insgesamt betrachtet ist das Interesse der Russen aber immer noch größer als umgekehrt, was meines Erachtens vor allem an der Sprache liegt. Jüngere russische Wissenschaftler sprechen Englisch und orientieren sich am Westen. Für die Deutschen ist eine russische Umgebung dagegen eher eine Hemmschwelle.

bdw: Die Finanzierung eines deutschen Wissenschaftlers in Russland ist sicher ein weiteres Handicap.

SCHAICH: Natürlich liegt ein US-Aufenthalt meist näher als einer in Russland. Dass man hier etwas ändern sollte, ist der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewusst.

bdw: Neben der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterhalten die Fraunhofer-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft und der Deutsche Akademische Austauschdienst deutsche Verbindungsbüros in Moskau. Geht jede Institution eigene Wege?

SCHAICH: Wir treffen uns regelmäßig und kooperieren intensiv. Natürlich gibt es durch den Auftrag der Mutterinstitution Grenzen. Ich mache viele Präsentationen, um die deutsche Wissenschaftslandschaft vorzustellen, und berate häufig russische und deutsche Wissenschaftler. Meine Hauptaufgabe ist es, Türen nach Deutschland wie auch nach Russland zu öffnen.

bdw: Wie viele Wissenschaftler wurden von der DFG bisher in deutsch-russischen Projekten unterstützt?

SCHAICH: Diese Zahl kann ich nicht nennen. Alle unsere Programme sind für russische Kollegen offen, und darüber, wer wo mitmacht, führen wir keine Nationalitäten-Statistik. Unsere speziellen Programme für Osteuropa und Russland weisen über 1000 Beteiligte pro Jahr auf.

bdw: Werden bei Ihnen auch schon mal Russen vorstellig, die vor allem einen lukrativen Posten im deutschen Wissenschaftsbetrieb suchen?

SCHAICH: Das ist noch nie vorgekommen.

Das Gespräch führte Wolfgang Hess ■

Ohne Titel

Der deutsch-russische Wissenschaftsaustausch hat eine lange Tradition. Nicht nur, dass der ehemalige Rektor der Petersburger Universität Michail Lomonossow in Deutschland studiert hat, auch die Russische Akademie der Wissenschaften wurde mit Hilfe deutscher Gelehrter gegründet. Nach einer Unterbrechung durch den Zweiten Weltkrieg begann der Wissenschaftleraustausch zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion erneut 1960. Er wurde von deutscher Seite durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) organisiert. 1970 folgte der ersten offizielle Vertrag zwischen der DFG und der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Während zu Sowjetzeiten bis 5 Prozent des Staatshaushalts für Wissenschaft ausgegeben wurden, lag der Anteil 2000 bei nur noch 1,1 Prozent. Inzwischen ist er wieder auf 1,8 Prozent gestiegen. Das sind knapp 0,4 Prozent des Bruttosozialproduktes der Russischen Föderation.

Gegen Ende der Sowjetunion gab der Wissenschaftsbetrieb etwa drei Millionen Menschen Lohn und Brot, wobei aktive Forscher etwa die Hälfte ausmachten. Nahezu jede größere militärische Einrichtung und jeder größere wirtschaftliche Betrieb verfügte über ein wissenschaftliches Institut. 1990 gab es noch 4600 wissenschaftliche Einrichtungen (2000 waren es 4100) und nahezu 900 Hoch- und Fachschulen mit etwa 6 Millionen Studenten. Zusätzlich hatte die Russische Akademie der Wissenschaften 300 Institute und Labore. 2001 waren in Russland noch 885 000 Menschen in Forschung und Entwicklung beschäftigt – zwei Drittel davon in der Wirtschaft.

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