Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Der Geist, der aus der Kälte kam

Geschichte|Archäologie

Der Geist, der aus der Kälte kam
Sie leben seit 15 Jahren in den USA – Wissenschaftler aus der ehemaligen Sowjetunion, die nach dem politischen Zusammenbruch ihrer Heimat eine neue Existenz im Land der unbegrenzten Möglichkeiten suchten. Was ist aus ihnen geworden?

Andrei Seryi sucht. In seinem Büro wühlt er in einem riesigen Stapel alter Computerausdrucke und schüttelt immer wieder den Kopf. Irgendwo muss es doch sein, ein Stück Identität aus früheren Zeiten, eine alte Postkarte oder ein Bild aus seiner Heimat Sibirien. „Ich hatte mal einen Bildschirmschoner mit Fotos aus Nowosibirsk im Winter. Aber der läuft nur noch an meinem Rechner zu Hause”, sagt der 43-jährige Physiker in fast akzentfreiem Englisch – und gibt seine Suche auf.

„So sind wir Russen halt”, kommentiert der Teilchenforscher, der in Kalifornien am Stanford Linear Accelerator (SLAC) ein 100-köpfiges Team leitet. „Wir wollen hier nicht auffallen, sondern uns in die Gesellschaft integrieren.” Tatsächlich sind Russen im amerikanischen Straßenbild kaum auszumachen – vielleicht als Besucher russisch-orthodoxer oder jüdischer Gemeinden, als Käufer im osteuropäischen Supermarkt oder als Kunden in Teehäusern und Buchläden der „Russian Quarters”, die sich in amerikanischen Großstädten wie San Francisco oder New York aus längst vergangenen Einwanderungstagen etabliert haben. Ihr kulturelles Erbe ist Privatsache und findet zu Hause statt: Hier sprechen sie mit ihren Kindern Russisch, lesen Prawda-online und kredenzen Pirogen und Pelmeni. In den Regalen stapeln sich Matrioschka-Püppchen neben Büchern in Kyrillisch, und an den Wänden hängen Landkarten und Fotos aus der Heimat. Hier wird am 6. Januar Weihnachten gefeiert, und zu Silvester läuft „Ironie des Schicksals” über die Mattscheibe — das russische Äquivalent zum deutschen „Dinner for One”.

Für Andrei Seryi gibt es dieses Doppelleben seit zehn Jahren. Ende der Achtzigerjahre war der promovierte Physiker an der Entwicklung eines Teilchenbeschleunigers in Protwino nahe Moskau beteiligt. Es sollte ein Musterexemplar russischen Know-hows werden und Energiedichten der Superlative produzieren. Stattdessen wurde es zum Paradebeispiel einer neuen Politik, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion solche Projekte als unnötige Mätzchen abtat: In den Jahren 1991 bis 1994 kürzte die Regierung staatliche Fördergelder um 75 Prozent. Gegenwärtig betragen die russischen Staatsausgaben für die zivile Wissenschaft pro Jahr 1,9 Milliarden Dollar. Allein die University of Stanford hat dagegen ein Budget von jährlich 2,6 Milliarden US-Dollar.

1996 wurde das Projekt in Protwino beerdigt. Seryi musste sich einen neuen Linearbeschleuniger suchen. „Wissenschaftler zu sein, hatte keine Zukunft”, erinnert sich Seryi verbittert, der sich damals wie viele seiner Kollegen mit Zweitjobs über Wasser hielt. „Ich hätte entweder Unternehmer oder Politiker werden müssen.”

Anzeige

Vor dieser Wahl standen auch andere – und zogen die Konsequenzen: 1990 beschäftigten russische Universitäten und Forschungseinrichtungen knapp eine Million Wissenschaftler, heute sind es weniger als die Hälfte. Wo und in welchen Berufen ihre 500 000 ehemaligen Kollegen nun arbeiten, weiß niemand wirklich. Statistiken gibt es nicht, nur „Expertenmeinungen”, wie die vom Institute for Economy in Transition in Moskau: „Die Mehrheit der Forscher ist geblieben. Wir schätzen, dass in jenem Zeitraum nur 20 000 bis 40 000 Wissenschaftler unser Land verlassen haben”, meint Sprecherin Dr. Irina Dezhina.

Dass dabei für viele russische Forscher ausgerechnet Amerika zur neuen Heimat wurde, hat kaum mit dem glorreichen Image des einst so tabuisierten Westens zu tun. Pragmatik statt Romantik: „ Nur hier habe ich ohne Probleme einen Studienplatz bekommen”, sagt Sergei Nagaitsev, der im Herbst 1991 als frisch gebackener Uniabsolvent die Gelegenheit beim Schopfe packte und ausreiste – mit nur 20 Dollar in der Tasche. Jetzt ist der Physiker hoch bezahlter Abteilungsleiter bei den Fermilabs in Batavia/Illinois.

Viele Forscher fanden nur in den USA die Möglichkeit, in ihrem Spezialgebiet weiterzuarbeiten, einige wenige hatten Alternativen: „In Japan hätte ich das doppelte Gehalt bekommen, doch in den USA schien mir der Job spannender”, sagt Vadim Gladyshev, Biochemiker aus dem Südural, der international Bewerbungen schrieb und 1992 als Wissenschaftler beim National Health Institute seine US-Karriere begann. Seit vier Jahren ist er Professor an der University of Nebraska. „Viele von uns wären gerne in Europa geblieben, weil es näher an Zuhause ist und die Kulturen sich sehr ähneln”, sagt eine aus Russland immigrierte Physikerin, die jetzt als Patentanwältin an der Ostküste arbeitet. „Doch die strikten europäischen Einwanderungsgesetze und vor allem die Wartezeiten für eine Aufenthaltsgenehmigung waren abschreckend. Europa hat die Chance verpasst, sozusagen umsonst Russlands Forscher-Elite für seine Wirtschaft abzusahnen.”

Nicht so die USA: Wie viele russische Wissenschaftler seit 1991 ein Arbeitsvisum bekamen, ist zwar statistisch nicht erfasst, doch „es dürften mehrere Tausend sein”, sagt Loren Graham, MIT-Professor und Spezialist für russische Wissenschaftsgeschichte und den russischen Braindrain. Anfang der Neunzigerjahre kamen hauptsächlich etablierte Forscher, die Angebote von amerikanischen Universitäten erhielten, später Postdocs und Universitätsabsolventen. Physiker und Mathematiker konnten am erfolgreichsten Unterschlupf finden. „Das liegt an der fundierten Ausbildung in Russland, die in den theoretischen Naturwissenschaften dem US-System überlegen ist”, sagt Graham. Anders ist es bei den angewandten Naturwissenschaften. Umfragen bei US-Firmen zeigten, dass es russische Forscher zunächst schwer haben: „Sie hinken ihren US-Kollegen hinterher, die schneller erkennen, welche Produkte Marktchancen haben oder welche Techniken entwickelt werden müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben”, weiß Graham.

Doch Russlands auswanderungsfreudige Akademiker sind extrem lernfähig. So wie Olga Kavetskaia, promovierte Chemikerin mit zehn Jahren Forschungserfahrung an einer Moskauer Universität. „ Ich habe hier als Laborkraft noch mal klein angefangen”, erzählt die 47-jährige Powerfrau, die innerhalb von drei Jahren zur Direktorin eines privaten Forschungslabors aufstieg. Pharmagigant Pfizer kaufte das Labor samt Kavetskaia auf, die nun ein 20-köpfiges Team in der Forschungsabteilung von Pfizer in Groton/Connecticut, leitet. „Ich muss unsere Arbeit rechtfertigen, budgetieren und lange Berichte schreiben”, sagt Kavetskaia und fügt lachend hinzu, „wie damals in Moskau”. Aber die Bürokratie sei die einzige Parallele: „Das Arbeiten ist hier wesentlich effektiver, weil alle Materialien da oder schnell zu beschaffen sind.” Kavetskaia erzählt von einem schwunghaften Tauschhandel an ihrem ehemaligen Institut. In Amerika braucht sie keine guten Beziehungen – und auch keinen Wodka –, damit die Bestellung schneller bearbeitet wird: „Immerhin habe ich dadurch gelernt, meine Ressourcen zu schätzen. Hier wurde ich komisch angeguckt, als ich Einmalpipetten nicht gleich wegwarf, sondern noch mal verwendete.” Neu-Kalifornier Andrei Seryi bekam beim Ausschalten von unnötig laufenden Geräten nicht nur merkwürdige Blicke: „Andrei, du lebst nun in ,the home of the plenty‘ – im Haus des Überflusses”, klärte ein amerikanischer Kollege den Stromsparer auf.

Doch auch in Amerika können nicht alle aus dem Vollen schöpfen – und schon gar nicht die Wissenschaftler an den US-Hochschulen: Innerhalb der Universitäten herrscht großer Konkurrenzkampf um die staatlichen und privaten Mittel. Wer sie bekommen möchte, muss unter den Besten sein. Vadim Gladyshev findet dies hart, aber gerecht. „Fleiß und Talent werden hier belohnt”, lobt der 40-jährige Professor für Biochemie. „Unabhängig von seiner Nationalität kann jeder seine Fähigkeiten beweisen.” Das sei nicht überall so: Aufgrund ihrer Herkunft würden seine ehemaligen Kollegen, die nach Europa gegangen sind, in ihrer akademischen Karriere ausgebremst. Ein wenig wundert sich Gladyshev heute noch: „Als ich meinen ersten Antrag schrieb, rechnete ich nicht mit Erfolg – schließlich kannte ich hier niemanden!” Der Geldstrom ist seitdem nicht abgerissen. Gladyshev ist gefragter Experte für selenhaltige Proteine, die als neue Hoffnungsträger für Krebstherapien und Anti-Aging gelten.

Auch Anatoly Klypin blühte in den USA richtig auf. Der ehemalige Ukrainer arbeitet als Professor an der New Mexico State University und ist einer von Amerikas bekannten Astrophysikern. „ Mein Instituts-Chef in Russland verwaltete die Gelder wie ein Zar” , erinnert sich Klypin, dessen Gruppe nur sporadisch Gelder erhielt. Auch Eigeninitiative war unerwünscht: „Wie im Lehrbuch für Sozialismus stand bei uns im Labor das Kollektiv über dem Individuum.” Nun ist der 52-jährige Wissenschaftler sein eigener Chef. Seine Ideen setzt er mit eigenen Mitteln um, und er hat Supercomputer angeschafft, um die Entstehung von Galaxien zu berechnen. Ebenfalls in den USA gelandet sind die bdw-Lesern bekannten Top-Kosmologen Andrei Linde (in Stanford) und Alexander Vilenkin (an der Tufts University).

Die amerikanische Arbeitskultur kommt Klypin zupass. „In Russland kennt jeder jeden, und man redet während der Arbeitszeit über Gott und die Welt”, meint Klypin, der lieber mit seinen Rechnern spricht. In Amerika sei man zwar auch freundlich, aber die Distanz zu den Kollegen sei deutlich größer. „Zu Hause am Institut war das Arbeiten immer so, als würde man zu einer Fete gehen”, bestätigt Selenforscher Gladyshev. Dass hier am Arbeitsplatz Themen wie Politik und Religion absolut tabu sind, stört ihn nicht. Darüber hat er in Russland genug diskutiert. Trotzdem kann es zu Missverständnissen kommen: „Die Amerikaner haben eine Can-do-Mentalität, die uns Russen fremd ist”, sagt Olga Kavetskaia. „Wir wägen erst mal ab, was hier gleich als negativ bewertet wird. Ich bin schon oft als unkooperativ abgestempelt worden.” Das bestätigt Physiker Sergei Nagaitsev. Doch für ihn ist es das kleinere Übel: „Wissenschaftler sind Wissenschaftler. Unabhängig von unserer Nationalität finden wir schnell die gleiche Sprache”, meint der gebürtige Sibirier.

Für die 40-jährige Regina Demina, Physikprofessorin an der University of Rochester in New York, hat sich der Status sogar verbessert: „Frauen sind in den USA als Wissenschaftlerinnen gesellschaftlich und am Arbeitsplatz mehr akzeptiert als in meiner alten Heimat”, urteilt die frühere Moskauerin. Kritik an ihrem neuen US-Arbeitsplatz hat sie nicht. Wenn gemeckert wird, dann über generelle Unwegsamkeiten, die auch Amerikaner monieren: die Wegwerf- und Fast-Food-Kultur, das marode Gesundheitswesen oder das einem russischen Vergleich nicht standhaltende Schulsystem. Mängel bei der Schulausbildung sind auch der Grund dafür, warum die Auswanderer manchmal gefragt werden, ob es in Sibirien tatsächlich kalt sei oder auf welcher Seite Russland während des Zweiten Weltkriegs stand.

Generell gibt es also gute Noten für die neue Heimat USA – der Grund, warum auch in Zukunft Wissenschaftler aus der früheren Sowjetunion ihre Job-Chancen in Amerika abklopfen werden. „Sollte sich die russische Wirtschaft irgendwann verbessern, kommen vielleicht weniger”, orakelt Loren Graham vom MIT. Doch er rechnet damit, dass der Braindrain so bald nicht aufhört und vor allem Universitätsabsolventen weiterhin in die Staaten immigrieren.

Nach gut 15 Jahren Aufenthalt in den USA sind die meisten nicht mehr bereit zu einem neuen Abenteuer in der alten Heimat. Fast alle Immigranten verschaffen sich durch Urlaubsreisen einen Eindruck vom Zustand Russlands. Dieser Eindruck fällt selten positiv aus: Wissenschaft habe immer noch keine Zukunft, die politische Situation sei instabil, und es herrsche Fremdenhass und sogar Antisemitismus. „Meine Wurzeln sind jetzt hier”, sagt Anatoly Klypin, der unterdessen Amerikaner geworden ist. Er ist stolz auf seine Arbeit an der Universität, sein schmuckes Eigenheim – und auf seine Söhne, die hier in Lohn und Brot stehen. Auch Karrierefrau Olga Kavetskaia ist mit ihrer Vergangenheit fertig: „Was soll ich noch in Russland? Nirgendwo verdiene ich mehr Geld als hier”, sagt sie und verweist auf ihr sechsstelliges Gehalt.

Andere haben noch nicht mit dem Thema abgeschlossen. Anreize würden ihre Rückkehr erleichtern: „Arbeit in meinem Forschungsbereich”, bringt es Andrei Seryi auf den Punkt. Dann ginge er zurück. Zurück zur Eigentumswohnung in Protwino, die er an Studenten vermietet hat, zurück zu seinem Auto, das stillgelegt in der Garage auf ihn wartet. Wer weiß: Vielleicht ist Andrei irgendwann dort wieder zu Hause – und über seinen Computer flackert ein Bildschirmschoner mit kalifornischen Fotos. ■

Désirée Karge berichtet seit acht Jahren für bdw über die US-Forschung. Sie lebt mit Mann und drei Kindern im kalifornischen San José.

Désirée Karge

Ohne Titel

• Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben an die 40 000 Wissenschaftler das Land verlassen.

• Europa hat damals die Chance verpasst, die Besten für sich zu gewinnen.

• Die russischen Forscher fühlen sich in den USA so wohl, dass sie kaum an Rückkehr denken.

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Ka|me|ra|au|ge  〈n. 28; Zool.〉 dem Prinzip der Lochkamera entsprechendes Lichtsinnesorgan verschiedener Tiergruppen, wie z. B. der Tintenschnecken

Or|gan  〈n. 11〉 1 〈Anat.〉 funktionell eigenständiger Teil des Organismus 2 〈fig.〉 2.1 Zeitung od. Zeitschrift als Sprachrohr einer Partei … mehr

Quell|wol|ke  〈f. 19: Meteor.〉 Haufenwolke

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige