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DIE ZELLEN-Strecker VON CAMBRIDGE

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DIE ZELLEN-Strecker VON CAMBRIDGE
Ein Deutscher rollt mit einem kleinen furchtlosen Team die Biophysik auf – und das im Herzen Englands. Das große Ziel des gelähmten Forschers: Nervenenden neu verbinden.

In allen Labors der Welt wird Englisch gesprochen. In allen? Am weltberühmten Physik-Labor der University of Cambridge, dem Cavendish Laboratory, sind auch schon mal deutsche Töne zu hören. Dann ist man in der Abteilung „Biological and Soft Systems“ (BSS) gelandet, in der Arbeitsgruppe von Jochen Guck.

Seit Januar 2007 forscht der 35-Jährige in Cambridge. Vier seiner wichtigsten Mitarbeiter hat er aus Leipzig mitgebracht, seiner vorherigen Station. Das konnte sich Jochen Guck leisten, denn er hat sich nicht beworben, sondern wurde gerufen. Von einem deutschen Kollegen übrigens: Ullrich Steiner, Professor für Polymerphysik und dünne Filme am Cavendish. „Er meinte, ich würde gut hierher passen“, sagt Guck. Seine Forschungsarbeiten hatten sich international herumgesprochen. Sie haben alle mit Optik oder mit menschlichen Zellen zu tun – oder mit beidem. Man vergisst schnell, dass Jochen Guck im Rollstuhl sitzt. Sitzen ist der falsche Ausdruck, denn der Mann ist immer in Bewegung: auf Slalomfahrt durch vollgestellte Gänge, vom Schreibtisch zur Wandtafel, um etwas zu erklären, dann – „Wollen Sie vielleicht Kaffee haben?“ – zur Kaffeemaschine, flugs in die Küche, Geschirr holen.

Er habe nicht lange überlegen müssen, als der Ruf aus Cambridge kam, sagt Guck. „Es ist eine geile Uni!“ Allein das Cavendish-Labor hat 29 Nobelpreisträger hervorgebracht, darunter James Watson und Francis Crick, die Entdecker der DNA-Struktur. „ Crick war auch ein Physiker, der die Biologie verändert hat“, sagt Guck ohne Scheu vor großen Namen. „Ja, jetzt sind wir alle hier“, sagt fröhlich Franziska Lautenschläger und meint das Team. Die 27-Jährige, die im vergangenen Jahr für ihre Physik-Diplomarbeit einen Innovationspreis von BMW erhielt, bildete zusammen mit dem Doktoranden Andreas Christ die Vorhut. Acht Monate haben die beiden geschuftet, um das neue Labor mit seinen empfindlichen Geräten aufzubauen: vor allem mit dem „ optischen Strecker“, Lautenschlägers Domäne, und dem Rasterkraftmikroskop, über das Christ wacht. Beide Apparate dienen dazu, die mechanischen Eigenschaften von Zellen zu messen: Stammzellen, Blutzellen, Krebszellen, Nervenzellen. „Wir drücken Zellen und ziehen an ihnen“, sagt Kristian Franze, der Postdoc im Team. Er ist von Haus aus Tierarzt und gewohnt, sich einfach auszudrücken.

Drücken und Ziehen ist schon deswegen interessant, weil das seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht worden ist. Während die Biochemie in immer kleinere Dimensionen des Lebens vorstieß, geriet die Biophysik ins Hintertreffen. Franze erklärt das am Beispiel von Nerven- und Gliazellen. „Vor 150 Jahren hat Rudolf Virchow erkannt, dass das zentrale Nervensystem nicht nur aus Nerven besteht, sondern auch aus Glia.“ Glia kommt vom griechischen Wort für Leim, und für eine Art Leim hat man die Gliazellen auch bisher gehalten (bild der wissenschaft 9/2008, „ Revolution in der Hirnforschung“). „In Lehrbüchern findet man die Bezeichnung ‚Stützzellen‘.“ Das klang plausibel. Bis Franze mit dem optischen Strecker – übrigens einer Erfindung seines Doktorvaters Jochen Guck und dessen Doktorvater Josef Käs – an den Gliazellen zog. Da stellte sich heraus, dass die Glia zu weich ist zum Stützen. Pech für Virchow. „Die Zellen verhalten sich eher wie Stoßdämpfer.“

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NERVENZELLEN SIND SENSIBELCHEN

Die neue Theorie von Franze und Guck: Gliazellen sind nicht zum Stützen, sondern zum Schützen da. Schutz haben die Nervenzellen auch bitter nötig, denn mechanisch gesehen sind sie Sensibelchen: „Ohne die Gliaverpackung würden sie schon bei leichten Erschütterungen, etwa beim Laufen, Verletzungen erleiden“ , sagt Franze. Nun will er sich zusammen mit zwei Doktoranden und ein paar Master-Studenten auf ein neues Forschungsvorhaben stürzen: die aktive Mechanik der Nerven- und Gliazellen.

Wenn die Zellen des zentralen Nervensystems auf ein Hindernis stoßen – was tun sie dann? Momentan sieht es so aus, als würden sich die Nerven zurückziehen und die Glia die Lücke füllen – einer der Gründe, warum bei einer Querschnittsverletzung im Rückenmark eine undurchdringliche Glianarbe entsteht. „Unsere Forschungen sind wichtig für Fragen, die die Entwicklung des Nervensystems betreffen, aber auch für seine Regeneration“, sagt Franze. Dann sagt er nichts mehr, denn hier wird es heiß: Die Regeneration im zentralen Nervensystem ist für die Biophysiker um Guck ein neues Feld mit vielen Unbekannten. Und mit vielen Konkurrenten obendrein. „Dass ich hier an der Nervenregeneration arbeiten kann, zusammen mit exzellenten Forschern aus der Neurophysiologie, das ist doch cool“, sagt Guck. „Warum sollte man sich mit kleinen Problemen abgeben, wenn man die großen lösen kann?“ Dann wirft er einen Blick auf seine reglosen Beine: „Ist doch klar, warum mich das interessiert.“

DER FOLGENREICHE UNFALL

Als 17-jähriger Schüler wurde Jochen Guck in einen Autounfall verwickelt. Es war ein blöder Zufall: Er jobbte in einer Baufirma und war mit vier anderen Arbeitern in einem Auto unterwegs. Der Fahrer kam von der Straße ab, durchbrach einen Zaun und kam erst in einem Haus zum Stehen. Von den fünf Insassen starben zwei. Drei überlebten schwer verletzt, einer davon war Jochen Guck.

Die Querschnittslähmung hat ihn beruflich nicht aufhalten können. Jochen Guck machte Abitur und fing in Würzburg ein Physikstudium an. Das Hauptstudium und die Doktorarbeit absolvierte er in Austin/Texas – bei dem Biophysiker Josef Käs, der seinerseits bei Erich Sackmann in München promoviert hat: Ihm sind wesentliche Erkenntnisse zum Zytoskelett zu verdanken, den Makromolekülen, die Form und Elastizität einer Zelle bestimmen. Als Käs 2002 eine Professur in Leipzig erhielt, nahm er Guck als wissenschaftlichen Mitarbeiter mit. Da hatten die beiden schon den optischen Strecker erfunden und zum Patent angemeldet – das Gerät, mit dem man an einer Zelle ziehen kann, indem man zwei Laserstrahlen auf sie richtet.

GESTRETCHT STATT GEQUETSCHT

„Das war das Thema meiner Doktorarbeit“, sagt Guck. „Und dabei passierte etwas, was man gar nicht erwartet hatte.“ Er rollt vor die Wandtafel, die in Sitzhöhe neben der Bürotür angebracht ist. Der Physiker malt Kreise und Pfeile auf die weiße Fläche. „Ein Laserstrahl, der auf eine Zelle trifft, gibt dieser einen Schubs. Das Prinzip ist so ähnlich, wie wenn man einen Wasserstrahl auf einen Luftballon richtet“, erklärt er. So weit, so gut. Bekannt war bereits, dass man eine schwimmende Zelle zwischen zwei Laserstrahlen einklemmen kann, weil der Impuls, der sie nach links drückt, den Impuls, der sie nach rechts drückt, aufhebt. Doch als Doktorand Guck damals in Austin/Texas die Laser stärker und stärker einwirken ließ, wurde die Zelle nicht etwa gequetscht. Sie wurde auseinandergezogen! Das war eigenartig. Der Biophysiker erinnert sich noch genau an den Moment im Sommer 1997, in dem ihm die Erklärung einfiel: „Ich saß am Swimmingpool in der Sonne.“ Vielleicht war es das flirrende Spiel von Wasser und Licht, das ihn an ein physikalisches Experiment des Amerikaners Arthur Ashkin aus dem Jahr 1973 denken ließ. Der hatte einen Laserstrahl auf eine glatte Wasseroberfläche geschickt. Durch die Kräfte, die auf die Oberfläche wirkten, wurde die Wasseroberfläche hochgezogen, auf die Lichtquelle zu, und nicht etwa eingedellt, wie man meinen könnte. Die Ursache für diesen Effekt ist der unterschiedliche Brechungsindex von Luft und Wasser. Auch bei Laser und Zelle sind die optischen Eigenschaften entscheidend: Der Brechungsindex im Inneren der Zelle ist höher als der im Medium, in dem sie schwimmt. So entsteht entlang der Achse der beiden Laser eine Kraft, die nach außen wirkt und nicht nach innen.

ZELLEN, DIE FURORE MACHTEN

„Das war richtig tolle Physik“, schwärmt Jochen Guck. Fortan legte man in Käs‘ Labor, erst in Austin, dann in Leipzig, „alle möglichen Zellen“ in den optischen Strecker – Fibroblasten, rote Blutzellen, Hautzellen, Krebszellen und Stammzellen. Dass man Stammzellen und ausgewachsene Zellen anhand ihrer Elastizität unterscheiden kann, allein mit Hilfe des optischen Streckers und ohne die Zelle zu berühren oder gar zu verletzen, kam bei Franziska Lautenschlägers Diplomarbeit heraus – und machte Schlagzeilen.

Ebenfalls in die Schlagzeilen schaffte es eine andere Sorte Zellen, deren optische Eigenschaften die Leipziger untersuchten: die Müllerzellen des Auges. Auch bild der wissenschaft berichtete darüber (Heft 8/2007, „Der Müller im Auge“): „Die Müllerzellen sitzen millionenfach an der Vorderseite der Netzhaut, die etwa einen Zehntel Millimeter dick ist. Sie sammeln Lichtstrahlen mit einer trichterförmigen Ausstülpung auf und leiten sie wie ein Glasfaserkabel ohne Streuungen und Verluste an die Lichtsinneszellen auf der Rückseite der Netzhaut weiter.“ Lichtleiter also sind sie – nicht etwa Zellen „mit Stützfunktion“ oder „ohne Funktion“, wie es in den Lehrbüchern steht. Dass ihre wahre Aufgabe ausgerechnet in Leipzig enthüllt wurde, ist Andreas Reichenbach vom dortigen Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung zu verdanken. Der Neurophysiologe hatte sich schon lange für diese vom Anatomen Heinrich Müller vor über 150 Jahren beschriebenen Zellen interessiert – und seinen Doktoranden, den Tierarzt Kristian Franze, zu Käs und Guck ins Labor geschickt (mehr darüber im bdw-plus „Klaus Tschira Preis für verständliche Wissenschaft“, das Heft 11/2008 beiliegt, im Beitrag „Und es ward Sicht“). Die Forschungen an der Netzhaut gehen in Cambridge weiter: Es gibt interessante Beobachtungen zum Sitz der Zellkerne und ihren optischen Eigenschaften – aber über die wird bislang nur getuschelt, weil sie noch nicht veröffentlicht sind.

GUCKS GUTER RIECHER

Wie kommt Jochen Guck eigentlich an seine aufregenden Forschungsthemen? „Er hat einen guten Riecher“, meint Kristian Franze. „Und vieles wird ihm auch zugetragen, weil er einen guten Ruf hat.“ „Im Moment wird Mechanik gerade modern in der Biologie“ , freut sich Andreas Christ. Auch er wird sich mitsamt „seinem“ Apparat, dem Rasterkraftmikroskop zum Abtasten winziger Oberflächen, demnächst der Nervenregeneration widmen. In Cambridge gibt es dafür tolle Kooperationspartner – sowohl in der tierärztlichen Abteilung als auch in der Medizin. Dort existiert seit ein paar Jahren ein Institut mit dem optimistischen Namen „ Cambridge Centre for Brain Repair“ – Gehirn-Reparaturzentrum. Dessen Chef ist James Fawcett, ein dynamischer Kanadier.

Das Bindeglied zwischen den Forschungsgruppen ist Pouria Moshayedi, einer der beiden Nicht-Deutschen in Gucks Kernteam. Der junge Doktor der Medizin hat bereits in seiner Heimatstadt Teheran Experimente zur Heilung getrennter Nerven gemacht, auch an Patienten. Auf ihm ruhen große Hoffnungen. Auch die von Jochen Guck: „Besuchen Sie uns doch in ein paar Jahren wieder. Vielleicht gibt es dann Neues zu berichten. Wer weiß, vielleicht kann ich sogar wieder laufen!“ ■

von Judith Rauch

MEHR ZUM THEMA

INTERNET

Jochen Gucks Arbeitsgruppe in Cambridge ist zu finden unter: www.bss.phy.cam.ac.uk/~jg473/ (samt einer hübschen Animation des „ optischen Streckers“)

KOMPAKT

· Biophysik an lebenden Zellen: ein neues Forschungsfeld mit aufregenden Perspektiven.

· Schon jetzt lassen sich mit einem „optischen Strecker“ Stammzellen berührungsfrei von ausgereiften Zellen unterscheiden – wichtig für Forschung und Medizin.

· Hochgestecktes Ziel: Querschnittslähmungen verhindern und sogar heilen.

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