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DIE SONNENKRISE

Astronomie|Physik Erde|Umwelt

DIE SONNENKRISE
Bislang dachten die Astronomen, sie hätten den Aufbau der Sonne verstanden. Doch sie sind von einer falschen chemischen Zusammensetzung ausgegangen. Ein Irrtum, der Konsequenzen für die gesamte Astrophysik hat.

Die Sonne ist der nächste Stern der Erde. Keinen anderen können die Astronomen so genau studieren. Deswegen gilt die Sonne als Prüfstein für das Verständnis aller Sterne im Universum. Bislang sah alles danach aus, als hätten die Forscher den inneren Aufbau unseres Tagesgestirns gut verstanden. Sie hatten die wichtigsten Größen – wie Durchmesser, Oberflächentemperatur und chemische Zusammensetzung – gemessen und in ein Modell eingegeben, das den inneren Aufbau nach den bekannten physikalischen Gesetzen berechnet. Dieses Standardmodell ist in der Lage, die Zunahme von Druck und Temperatur mit wachsender Tiefe vorherzusagen und die beobachtete Leuchtkraft richtig wiederzugeben. Die Sonnenphysiker waren deshalb damit vollauf zufrieden. Doch nun hat der Astrophysiker Martin Asplund das schöne Modell ins Wanken gebracht.

Asplund ist Direktor am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching, wo man auf eine lange Tradition der Entwicklung von Sonnenmodellen zurückblickt. Er behauptet, dass die Sonne 30 bis 40 Prozent weniger Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff enthält als angenommen. Da diese Werte zu den wichtigen Größen des Sonnenmodells gehören, gerät das jetzt aus den Fugen. Geben die Theoretiker die neuen Daten in ihr Modell ein, so stimmt plötzlich die Helium-Häufigkeit nicht mehr mit den Beobachtungen überein.

ZU GENAU, UM WAHR ZU SEIN

Widerspruch erhält Asplund vor allem von den Helioseismologen. Sie erkunden das Innere der Sonne, in dem sie die Schwingungen des Sterns analysieren. Das Verfahren ähnelt dem der Seismologen, die den Aufbau der Erde mit Hilfe von Erdbebenwellen erforschen. Mit fantastischer Genauigkeit lässt sich so die Schallgeschwindigkeit an jedem Punkt im Innern der Sonne ermitteln. Bis zu Asplunds Arbeit stimmten diese Ergebnisse bis auf weniger als ein Promille mit dem Sonnenmodell überein. Doch mit den verringerten Häufigkeiten kommt es zu Abweichungen von mehr als einem Prozent. Obwohl das für astronomische Verhältnisse eine immer noch sehr gute Übereinstimmung ist, liegt die Abweichung doch deutlich außerhalb der Genauigkeit der Beobachtungen.

Am drastischsten trifft es eine der wichtigsten Aussagen über den Aufbau der Sonne. Demnach ist der innere kugelförmige Bereich bis zu einem Radius von 500 000 Kilometern eine Strahlungszone. Hier wird die Energie aus dem Kernbereich als Strahlung in die Außenbezirke geleitet. 200 000 Kilometer unter der Oberfläche ändert sich das jedoch. Ab dort gelangt die Wärme über Konvektion an die Oberfläche: Wie in einem Kochtopf steigen heiße Gasblasen auf, kühlen sich ab und sinken wieder in die Tiefe. Eine der großen Leistungen der Helioseismologen war die Entdeckung, dass der Boden dieser Konvektionszone ziemlich genau 200 000 Kilometer unter der Oberfläche liegt (bild der wissenschaft 8/2008, „Die Sonne“). Diesen Wert meinen die Forscher bis auf etwa 1000 Kilometer genau zu kennen.

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Mit dem bisherigen Sonnenmodell konnten sie den Wert auch exakt reproduzieren. Doch wenn sie die neuen chemischen Häufigkeiten ins Modell einsetzen, rückt der Grund der Konvektionszone plötzlich um 10 000 Kilometer nach oben. „Die neuen Werte passen überhaupt nicht zu unseren Modellen“, sagt der Helioseismologe Laurent Gizon vom Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Katlenburg-Lindau. Auch für den Kernbereich, in dem die Sonne ihre Energie erzeugt, ergibt sich eine gravierende Änderung: Mit den neuen Häufigkeiten sinkt die Zentraltemperatur von 15,67 auf 15,48 Millionen Grad. Diese „ Abkühlung“ um 190 000 Grad lehnen die Helioseismologen energisch ab: „Modelle mit geringer Häufigkeit von schweren Elementen können wir ausschließen“, ist Sarbani Basu von der Yale University in New Haven überzeugt.

NADELSTREIFEN IM SONNENSPEKTRUM

Sind Asplunds Werte falsch? Gizons Kollegen rechnen überwiegend weiter mit den alten Zahlen. Fest steht: Asplund hat die genaueste Methode entwickelt, um die chemische Häufigkeit der Sonnenmaterie zu bestimmen. Das funktioniert folgendermaßen: Das Sonnenlicht wird in einem Teleskop in seine Spektralfarben zerlegt. Dabei treten in dem regenbogenfarbenen Band viele Tausend schwarze Linien auf. Diese „Fraunhofer-Linien“ entstehen, weil Atome und Moleküle in der Sonnenatmosphäre bei ganz charakteristischen Wellenlängen Licht verschlucken: An diesen Stellen bleibt das Spektrum schwarz. Aus den Stärken dieser Absorptions- linien lassen sich die Häufigkeiten der entsprechenden Elemente ermitteln. Doch das geht nur mit Hilfe eines Modells der Sonnenatmosphäre. Und das ist der Knackpunkt bei der „solaren Sauerstoff- Krise“, wie der Sonnenforscher Hector Socas-Navarro vom High Alto Observatory in Boulder, Colorado, kürzlich sagte.

Bis vor wenigen Jahren rechneten die Sonnenphysiker die Häufigkeiten der chemischen Elemente mit eindimensionalen Modellen aus. Das heißt, sie setzten einen bestimmten Temperatur- und Druckverlauf ein, der sich nur mit der Höhe ändert. Einen Höhenverlauf benötigen sie, weil die Sonnenoberfläche – die Photosphäre –, aus der die Strahlung kommt, in Wirklichkeit rund 400 Kilometer dick ist. Eindimensionale Modelle schienen völlig zu genügen, da eine Spektrallinie an einem Punkt in der Photosphäre aufgenommen werden kann. Doch nach Asplunds Meinung reicht das wegen der Konvektion nicht aus. Auf der Sonnenoberfläche sind Gasaufwallungen erkennbar. „Diese Konvektion erstreckt sich über die sichtbare Oberfläche hinaus in die Photosphäre hinein“, sagt Asplund. Man kann sich das wie aufsteigende Wolken vorstellen. Deshalb muss nach Asplunds Überzeugung die Photosphäre auf jeden Fall dreidimensional modelliert werden, wenn die chemischen Elemente aus einem Spektrum ermittelt werden sollen. Asplunds dreidimensionaler Ansatz erfordert einen erheblich höheren Rechenaufwand als die eindimensionalen Modelle, ist aber realistischer. Doch zur Überraschung seiner Kollegen ergaben sich für die schweren Elemente wesentlich geringere Häufigkeiten.

Bis dahin sollten alle Elemente schwerer als Wasserstoff und Helium 2 Prozent zur gesamten Sonnenmaterie beitragen. Nach Asplunds Modellen liegt dieser Wert bei nur noch 1,2 Prozent. Für die Astrophysiker bedeutet diese Abweichung keine Kleinigkeit – dachten sie doch, diesen Wert ganz genau zu kennen. „Die solare Häufigkeit ist einer der Ankerpunkte der gesamten Astrophysik und auch entscheidend, wenn man mit Computermodellen die Entwicklung von Sternen berechnet“, erklärt Asplunds Kollege Achim Weiss. Kritiker mahnten, dass Asplunds kompliziertes dreidimensionales Modell nicht unbedingt besser sein müsse als das lang erprobte eindimensionale.

DIE SONNE WIRD NORMAL

Doch es gibt mehrere Argumente, die für Asplund sprechen. So ergaben Analysen der Spektrallinien von atomarem Sauerstoff (O) und dem Molekül OH bislang stets voneinander abweichende Werte für die Sauerstoff-Häufigkeit. Asplund erhält jetzt erstmals einheitliche Werte. Dasselbe gilt für Kohlenstoff, dessen Häufigkeit sich aus den C-, CH- und CO-Linien ermitteln lässt. Während die Mehrzahl der Sonnenphysiker sich mit den geringeren Häufigkeiten nicht anfreunden kann, sehen einige Astrophysiker darin die Lösung bislang ungeklärter Rätsel. So ist seit Langem bekannt, dass das interstellare Gas in der Sonnenumgebung – ebenso wie einige heiße Sterne – weniger schwere Elemente enthält, als man es für die Sonne selbst annahm.

Das ließ sich schwer erklären, weil man der Meinung war, die großräumige Umgebung stamme gewissermaßen aus ein und demselben Reservoir und müsse deshalb etwa dieselbe Zusammensetzung haben. Das interstellare Gas könnte allenfalls mehr schwere chemische Elemente enthalten als die Sonne, weil Sternexplosionen (Supernovae) und Teilchenwinde massereicher Sterne es in den vergangenen 4,6 Milliarden Jahren angereichert haben könnten. Asplunds geringere Werte bringen nun Sonne, interstellares Medium und heiße Sterne auf ein Niveau. Anders gesagt: Die Sonne ist auch in dieser Hinsicht ein ganz normaler Stern geworden. Die in Planeten wie Jupiter und Saturn gemessenen Häufigkeiten passen ebenfalls besser zu den neuen Werten.

NEON IM ÜBERFLUSS?

Trotzdem: Die Schwierigkeiten der Helioseismologen bleiben. Mögliche Ursachen wurden bereits überprüft. So gehen in alle Sonnenmodelle die „Opazitäten“ der Elemente ein: die unterschiedliche Stärke, mit der die Atome Licht verschlucken. Diese Werte werden normalerweise im Labor gemessen, was bei den Sonnentemperaturen von mehreren Millionen Grad aber nicht möglich ist. Deshalb sind hier zusätzliche Rechnungen nötig – eine mögliche Fehlerquelle. Um die Modelle der Helioseismologen mit den neuen Werten der chemischen Elemente in Einklang zu bringen, müssten die Opazitäten tatsächlich um bis zu 20 Prozent geändert werden. Deshalb hat eine Gruppe um Mike Seaton vom University College in London und Nigel Badnell von der Strathclyde University in Glasgow die relevanten Elemente noch einmal ganz genau unter die Lupe genommen. Ernüchterndes Ergebnis: Es sind allenfalls Änderungen von zwei Prozent möglich.

Weitere Versuche, das Dilemma zu lösen, schlugen ebenfalls fehl. Ein möglicher Ausweg: Vielleicht enthält die Sonne erheblich mehr Neon als bislang angenommen. In dem komplexen Zusammenspiel aller Ingredienzen im Sonnenmodell könnte das den Verlust der anderen Stoffe ausgleichen. Doch Neon bereitet den Forschern Schwierigkeiten, weil es sich in den Spektren der Sonnenoberfläche nicht nachweisen lässt. Man findet es bloß in der heißen Atmosphäre, der Korona. Dort sind die Häufigkeiten, wie man von anderen Stoffen her weiß, allerdings anders als in der Photosphäre. Um das Sonnenrätsel zu knacken, müsste die Neon-Häufigkeit rund dreimal höher sein als bislang gedacht. „Ich glaube nicht, dass sich das Problem so lösen lässt“, sagt Asplund. Aber das Neon könne immerhin ein Teil der Antwort sein. Der andere Teil liegt vielleicht im bisherigen Verständnis der Konvektion. Die Helioseismologen arbeiten hier mit zu großen Vereinfachungen, kritisiert Asplund.

„Asplunds Modelle hängen stark von der richtigen Modellierung der Konvektion ab“, meint Gizon. Liegt hier der Schlüssel zum Sonnenrätsel? Noch weiß das niemand. Doch vielleicht findet er sich auch an einer Stelle, an die im Moment keiner der Forscher denkt. Asplund und seine Mitarbeiter suchen weiter nach Verbesserungsmöglichkeiten ihres Modells, um die beiden Lager wieder zusammenzuführen. „Egal, wie die Diskussion ausgehen wird. Sie hat uns dazu gezwungen, unser bisheriges Wissen über die Sonne auf den Prüfstand zu stellen“, sagt der Garchinger Forscher. Und wer die Sonne nicht richtig versteht, versteht auch die anderen Sterne nicht. ■

THOMAS BÜHRKE, promovierter Astronom und Wissenschaftsjournalist, hat zuletzt in bdw 8/2008 über die Sonne berichtet.

von Thomas Bührke

Mehr zum Thema

Internet

Artikel von William Chaplin und Sarbani Basu (Kapitel 2 ist besonders relevant): arxiv.org/PS_cache/arxiv/pdf/0801/0801.4213v1.pdf

Kommentar von John Bahcall: www.sns.ias.edu/~jnb/Papers/Popular/Physicsworld/physicsworld.pdf

Kompakt

· Die verbesserte Analyse der Sonnenspektren hat ergeben, dass die Sonne rund 40 Prozent weniger schwere Elemente enthält als bislang gedacht.

· Das führt zu erheblichen Problemen mit dem Standardmodell der Sonne.

· Helioseismologen halten die geringeren Häufigkeiten für falsch. Doch niemand weiß, wie sich das Problem lösen lässt.

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