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DAS ERFOLGSGEHEIMNIS

Geschichte|Archäologie Gesellschaft|Psychologie

DAS ERFOLGSGEHEIMNIS
Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer über den Ursprung von Christentum und Buddhismus und deren Bedeutung in der heutigen Welt.

„Die Wahrheit wird euch frei machen.“ So steht es an einem Kollegiengebäude der Universität Freiburg. „The truth shall make you free“ steht auch über dem Eingangsportal der kalifornischen Eliteschule California Institute of Technology in Pasadena. Die Quelle dieses Spruchs ist die Bibel – genauer das 8. Kapitel des Johannesevangeliums, Vers 32. Wir glauben an diesen Satz, auch wenn wir ihn nicht oder nur wenig verstehen beziehungsweise umsetzen können. Wer wüsste denn ohne Weiteres zu sagen, was das ist, das wir die Wahrheit nennen, und wovon sie denjenigen befreit, der sie besitzt?

Das sollte uns aber nicht von der offensichtlichen Beobachtung ablenken, dass die genannten Orte der Wissenschaft ihre junge Geschichte genutzt haben, um einen uralten Anspruch der Religion für sich zu reklamieren, nämlich den, die Wahrheit zu finden, um sie für die Menschen nutzen zu können. Tatsächlich nahmen in der jüngeren Vergangenheit aufgeklärte Forscher und ihre Institutionen selbstverständlich an, dass es als Folge der Modernisierung der Gesellschaft mit den entsprechenden Rationalisierungen ihrer Rituale mindestens zu einer Schwächung, wenn nicht zu einem völligen Verschwinden der Religionen kommen würde – und zwar spätestens am Ende des 20. Jahrhunderts. Davon kann bekanntlich keine Rede mehr sein. Vielmehr lässt sich beobachten, dass die Religionen dieser Welt vermehrt Zulauf – besonders von Jugendlichen – erfahren.

Die Religionen dieser Welt – das meint eine Fülle von Glaubensrichtungen und nicht unbedingt nur die Weltreligionen, die man erst seit dem 19. Jahrhundert so nennt. Damals war man zum ersten Mal in der Lage, weite Teile der Erde umfassend zu erkunden, und dabei fiel auf, dass es an vielen Orten lokale Religionsgemeinschaften gab. Die sollten von den globalen Bewegungen mit vielen Millionen Mitgliedern unterschieden werden. Die gelehrte Welt kennt heute drei Weltreligionen: das Christentum mit mehr als zwei Milliarden Anhängern, den Islam mit mehr als einer Milliarde Gläubigen, und den Buddhismus mit knapp 400 Millionen Bekennenden. Das Judentum (mit 15 Millionen Anhängern) wirkt zu wenig missionarisch, der Hinduismus stellt – trotz seiner insgesamt knapp eine Milliarde Gläubigen – mehr eine Familie von friedlich koexistierenden Glaubensrichtungen dar als eine einzelne Weltreligion.

Ich werde mich im Folgenden auf zwei Weltreligionen beschränken – das Christentum und den Buddhismus –, und zu erklären versuchen, warum sie eine globale Anhängerschaft sammeln und begeistern konnten. Es ist schon verwunderlich, wie das Christentum seinen Siegeszug antreten konnte. Denn entstanden ist „es ja am Rande des römischen Weltreiches in einer nicht sehr bedeutenden Provinz des Imperiums, weit entfernt von den Zentren der damaligen Macht“, wie Friedhelm Winkelmann in seiner „ Geschichte des frühen Christentums“ schreibt. Und er zählt ein weiteres Problem auf: „Es berief sich auf einen als politischen Verbrecher rechtskräftig Verurteilten, der die Todesstrafe der niederen sozialen Schichten erlitten hatte.“ Wahrlich keine berauschende Ausgangsposition, die man ebenso wenig beim Begründer des Buddhismus Siddhartha Gautama findet. Der führte zwar als verheirateter, wohlhabender Mann ein Leben, das vielen als erstrebenswert vorschwebt, gab dieses aber als sinnlos auf, um sich mit asketischen Übungen für das Leid der Welt zu wappnen.

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Wir lassen den Islam beiseite, weil schon für die beiden anderen der Platz kaum reicht und weil er historisch deutlich später – dann aber mächtig und überzeugend – auftritt und insofern eine bemerkenswerte Ausnahme darstellt. Der Islam fügt sich nämlich nicht einer Feststellung, von der Karl Jaspers in seinem 1949 erschienenen Buch „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ berichtet: Jaspers verdichtet viele ältere historische Untersuchungen zu der Beobachtung, dass der Ursprung der Weltreligionen – wie auch der griechischen Philosophie – in den Jahren zwischen 800 und 200 vor Christi Geburt zu finden sei. Jaspers nennt diesen Abschnitt der Geschichte die „Achsenzeit“ und schreibt dazu: „In dieser Zeit drängte sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, in Indien entstanden die Upanishaden, lebte Buddha, im Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild zwischen Gut und Böse, in Palästina traten Propheten auf, Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes.“

Es ist leicht, die heutige Unzufriedenheit mit der Kirche zu erklären. Mühsam ist es dagegen, die unglaubliche Erfolgsgeschichte des Christentums zu begreifen, das als jüdische Sekte beginnt, im vierten Jahrhundert Staatsreligion wird und sich dann weiter global ausbreitet – ohne merklich an Substanz zu verlieren. Niemand wird erwarten, dass sich dafür ein einzelner – und sei es noch so herausragender – Grund angeben lässt. Aber ich riskiere es, mich festzulegen: Die Überlebenskraft des Christentums rührt – abgesehen von den historischen Bedingungen – von seiner urtümlichen Streitkultur her. Als der Initiator Jesus Christus von dieser Welt gegangen war, fingen die Auseinandersetzungen um die richtige Lehre an. Erst rangen so grundverschiedene Charaktere wie Petrus und Paulus miteinander – geht es mehr um den Zusammenhalt nach innen oder die Verkündigung nach außen? Dann stritt man sich über die – göttliche oder menschliche – Natur von Jesus, später ging es zum Beispiel bei den Kirchenvätern um das Problem, ob man sich frei zum christlichen Gott bekennen kann oder ob dies vorbestimmt sei. Ein Disput, der bis in die aktuellen Debatten unserer Tage über die Ökumene andauert. Das Christentum lässt erkennen: Streitkulturen überleben die Zeiten besser.

Trifft das auch für den Buddhismus zu? Erfolgreich ausgebreitet hat er sich auf jeden Fall: Im sechsten Jahrhundert erreicht er Japan, und im achten Jahrhundert Tibet. Der Buddhismus hat seine eigene Version eines Kirchenvaters, nämlich den Philosophen Nagarjuna, der im zweiten Jahrhundert nach Christus lebte und von Nehru als „einer der größten Geister“ bezeichnet wurde, „die Indien hervorgebracht hat“. Nagarjuna greift einen wesentlichen Gedanken Buddhas auf, demzufolge nichts aus sich selbst – oder aus dem Nichts – heraus entsteht. Und er ersinnt einen Leerzustand, in dem Menschen zwischen Sein und Nichtsein schweben können, ständig bereit, etwas zu werden, zu dem sie fähig sind. Sein oder Nichtsein ist für einen Buddhisten nicht die Frage. Sein und Nichtsein, das ist seine Chance. Und unsere auch: Wir sind immer etwas – zum Beispiel Leser dieses Aufsatzes –, wir sind aber zugleich immer etwas nicht, was wir sein können – etwa der Schreiber eines Leserbriefes.

Der Buddhismus akzeptiert seit seinen Anfängen, was sich das europäische Denken erst mühsam aneignen musste: dass Begriffe nicht das Wirkliche sind und widersprüchlich ausfallen können. Licht kann Welle und Teilchen sein, die Natur kann eine (materielle) Ressource oder die (spirituelle) Mutter des Seins sein. So gesehen, stellt diese östliche Weltreligion das Gegenstück zum westlich geprägten Christentum dar. Sie betont statt des Wettstreits das Zusammenwirken und bemüht sich um menschliches Mitgefühl. Sowohl im Buddhismus als auch im Christentum geht es um polare Spannungen, denen die Religionen ihre eigene hinzufügen, indem die Widersprüche im Westen heftig umstritten sind, während sie im Osten geduldig hingenommen werden. „Aus der Sicht des Buddhismus liegt der Ansporn der menschlichen Suche nach Wissen und Einsicht in die eigene Existenz letztlich in dem tiefen Antrieb, Freude zu suchen und Leiden zu vermeiden“, sagt der 14. Dalai Lama.

„Freude suchen und Leiden vermeiden“ – das ist nicht nur der Sinn buddhistischen Tuns, sondern auch das Ziel westlicher Wissenschaft, die ihre moderne Form unter den Fittichen des Christentums angenommen hat. Dass Wissen die Freude vergrößert, die Menschen bei der Wahrnehmung der Welt erfahren, kann man schon bei antiken Philosophen wie Aristoteles lesen. Dass man mit diesem Wissen auch das Leiden vermindern kann, haben die Pioniere der europäischen Wissenschaft bemerkt, als sie sich klar machten – wie es Brecht seinem Galilei in den Mund legt –, dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Weil ihr gelungen ist, dieses Versprechen in die Tat umzusetzen, konnte die Wissenschaft im 19. Jahrhundert die Religion an den Rand der Geschichte drängen und im 20. Jahrhundert die Behauptung wagen, dass es ihre Wahrheit ist, die uns frei macht. ■

KOMPAKT

· Die Überlebenskraft des Christentums rührt von seiner Streitkultur her.

· Der Buddhismus stellt das Gegenstück dar: Statt zu streiten, werden Spannungen geduldig hingenommen.

· Das Judentum wirkt zu wenig missionarisch, um eine Weltreligion zu werden.

ERNST PETER FISCHER

lehrt und forscht als Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Konstanz. Vor seiner Habilitation in Wissenschaftsgeschichte studierte Fischer (Jahrgang 1947) Mathematik und Physik an der Universität Köln und promovierte in Biologie am California Institute of Technology in Pasadena (USA). Er ist Autor zahlreicher populär- wissenschaftlicher Bücher und Berater der Stiftung „Forum für Verantwortung“.

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