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POSITION 1: WENIGER IST MEHR

Erde|Umwelt Gesellschaft|Psychologie

POSITION 1: WENIGER IST MEHR
In Entwicklungsländern lassen sich die Erträge durch Ökolandbau so stark verbessern, dass viel mehr Menschen satt werden können.

„Bio“ wächst, ist aber noch klein. Ende 2007 waren weltweit 32,2 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Fläche nach Bio-Standards zertifiziert, ein Zuwachs von knapp 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In der EU wirtschafteten um die gleiche Zeit gut 185 000 Betriebe nach Öko-Standards – auf 4,1 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche (Deutschland: knapp 5 Prozent). Manche Experten sind optimistisch, dass es so weitergeht. „ Vielleicht schaffen wir weltweit 20 Prozent bis zum Jahr 2050″, meint Paul Mäder vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) im schweizerischen Frick. Dabei ist die Szene vielfältig: Bioland, Demeter, Naturland, Ecovin – jeder Anbauverband hat seine eigenen Prinzipien. Doch einige sind allen gemeinsam. Dazu gehört der Verzicht auf synthetisch-chemische Düngemittel und Pestizide. Gentechnik scheidet aus. Auch sollen möglichst nur so viele Tiere auf einem Hof leben, wie der mithilfe seiner Fläche ernähren kann. Die Tiere sollen frei laufen – möglichst auf der Weide, zumindest aber im Stall.

streit um die erträge

Ein Hauptvorwurf von Kritikern lautet: „Bio“ kann die Welt nicht ernähren, weil es zu wenig Erträge liefert. „Das ist falsch, wir könnten sehr wohl“, kontert Mäder. Schon seit 1978 vergleicht seine Gruppe Jahr für Jahr auf einem Hektar Lössboden in der Nähe von Basel die Erträge von ökologisch gemanagten Parzellen gegen konventionell bewirtschaftete: Weizen, Kartoffeln, Klee, Mais und Soja wachsen dort. Ausgerechnet vor Mäders Haustür schneidet bio jedoch oft schlechter ab – mit durchschnittlich 20 Prozent weniger Erträgen, wie ein Zwischenstand des sogenannten DOK-Versuchs 2002 ergab.

Eine Ausnahme ist Soja mit fast Gleichstand. Verluste von über der Hälfte drohen hingegen in schlechten Jahren im Kartoffelanbau, denn die Kartoffelfäule (Phytophtora infestans) lässt sich ohne Pestizide kaum bekämpfen. „In Europa führt biologische gegenüber konventioneller Produktion mit ihrem hohen Einsatz an Mineraldünger und Pestiziden oft zu Ertragsverlusten. Das sieht an anderen Standorten anders aus“, betont Mäders Kollege Andreas Fließbach.

In der Tat: Gleichstand bei Mais und Soja vermerkte 2005 der „ Farming Systems Trial“ am Rodale Institute in Pennsylvania, USA. Gleiche Ernten bei Futterpflanzen, Weizen, Soja und Mais ermittelte auch der „Wisconsin Integrated Cropping Systems Trial“ in den USA – solange Maschinen, die das Unkraut beseitigen, ihren Weg über die biologisch bewirtschafteten Ackerböden schaffen. Versinken sie in feuchten Monaten im Matsch, zieht bio auch hier den Kürzeren.

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Ein besonders großes Potenzial sehen Protagonisten aber in Entwicklungsländern (lesen Sie dazu auch das Interview mit Kurt-Jürgen Hülsbergen ab S. 36). Eine Gruppe um Ivette Perfecto von der University of Michigan in Ann Arbor kam 2007 mit den Daten aus knapp 300 Feldversuchen zu dem Fazit: In Entwicklungsländern ergibt Ökolandbau bis zum Dreifachen der Erträge – verglichen mit einer dort oft noch praktizierten traditionellen Landwirtschaft. Die Hochrechnung der Forscher kommt sogar auf einen Gesamtertrag an Nahrung von 2600 bis 4400 Kilokalorien pro Kopf und Tag, wenn die Welt 100 Prozent Ökolandbau betriebe. Das würde reichen: Ein gesunder Mensch braucht am Tag zwischen 2200 und 2500 Kilokalorien. Eine Studie der Gruppe von Jules Pretty an der University of Essex in Großbritannien errechnete einen Zuwachs von 80 Prozent bei Ökolandbau in armen Ländern.

Solche Zahlen finden längst politischen Widerhall: Mehr ökologische Produktion vor Ort statt Importe von Kunstdünger und Pestiziden forderten Anfang 2009 zum wiederholten Mal die Welthandelskonferenz UNCTAD und das UN-Umweltprogramm UNEP im Kampf gegen den Hunger. Auch der Weltagrarrat IAASTD empfiehlt in seinem 2008 in Johannesburg verabschiedeten Bericht: Weg von Monokulturen, hin zu einem Wirtschaften mit den ökologischen Kreisläufen. Doch „öko“ will noch durch einen ganz anderen Produktionsfaktor die Ernährung für alle sichern: Die Menschen sollen weltweit weniger Fleisch essen. „Der vielerorts zu hohe Konsum von tierischen Produkten verschwendet Kalorien und vernichtet Ressourcen“, resümiert Andreas Fließbach. Ökologische Landwirtschaft bedeute deshalb nicht die gleiche Menge an Nahrung, nur anders produziert – sondern eine andere Ernährung: statt täglich Fleisch zurück zum Sonntagsbraten. Die Welternährungsorganisation (FAO) teilt diese Einschätzung. 285 Millionen Tonnen Fleisch wurden 2007 weltweit produziert, 2020 könnte es mehr als das Doppelte sein, mit verheerenden Folgen für den Globus, wie die FAO analysiert: Tierhaltung ist einer der Haupttreiber des Klimawandels und des Artenverlustes. Einschließlich der Effekte durch Rodungen für neue Weideflächen steuern Viehherden global 18 Prozent der Treibhausgas-Emissionen bei. Ein Drittel der weltweiten Getreideernte, 20 Prozent der Fischereierträge und 65 Prozent der Ölsaaten, vor allem Soja, landen im Futtertrog. So ist die Rinderzucht im brasilianischen Amazonien der Hauptgrund für die Zerstörung von Savannen und Regenwäldern. Seit Mitte der 1990er-Jahre haben Argentinien und Brasilien die Sojaanbauflächen verdoppelt. Das Gros dieser Ernte geht als Viehfutter in den Export, auch nach Deutschland. Im Ökolandbau ist solches Importfutter untersagt.

STICKSTOFF AUS LEGUMINOSEN

Besonders punktet bio beim Klima- und Artenschutz durch den Verzicht auf chemisch-synthetischen Stickstoff (N). Den Stickstoff aus der Luft (N2) können Pflanzen nicht verwerten, wohl aber das Ammonium-Ion (NH4+), das Knöllchen-Bakterien in Symbiose mit Pflanzen aus der Familie der Hülsenfrüchtler (Leguminosen) aus dem Luftstickstoff bilden. Neben Gülle und Mist aus der Tierhaltung nutzt der organische Landbau deshalb Lupine, Luzerne, Klee, Bohne oder Erbse, um Stickstoff im Boden anzureichern. Raffinierte Fruchtfolgen stellen sicher, dass immer mal wieder eine Leguminose auf dem Acker wächst. Theoretisch lassen sich mit dieser N2-Fixierung weltweit an die 140 Millionen Tonnen Stickstoff-Dünger in die Böden bringen – mehr als die heutige weltweite chemische Düngung im konventionellen Landbau. In der Praxis ist maximaler N-Input im Ökolandbau verpönt. Denn die Wirksamkeit des N- Düngers lässt nach, je mehr Landwirte davon auf ihre Böden kippen. Die Systeme sind längst gesättigt: Nur 30 bis 50 Prozent des zusätzlichen Stickstoff-Düngers nehmen Pflanzen heute in Industrieländern vielerorts noch auf, 1960 waren es oft an die 80 Prozent. Insgesamt bringt die Menschheit heute mit 160 Millionen Tonnen mehr reaktive Stickstoffverbindungen in die Biosphäre ein als alle natürlichen Quellen zusammen. Neben Auspuffen und Industrieschloten ist die Landwirtschaft eine wichtige Quelle. Nur zwei der gravierenden Folgen:

· Flüsse tragen die Düngerfracht in die Meere. 245 000 Quadratkilometer Meer sind wegen der Überdüngung heute biologisch tot – wie unlängst die US-Forscher Robert J. Diaz und Rutger Rosenberg abgeschätzt hat.

· Ein Viertel aller Blütenpflanzen-Arten könnte aussterben – durch reaktive Stickstoffverbindungen, die großflächig niederrieseln. Für Großbritannien hat dies kürzlich eine Forschergruppe um David Gowing bilanziert, für Norddeutschland schätzt die Gruppe eine vergleichbare Größenordnung.

Der sparsamere Umgang des Ökolandbaus mit Stickstoff-Dünger ist daher keine Marotte, sondern schlicht das nachhaltigere Konzept für Landwirtschaft. Ähnliches gilt für Pestizide. In Produkten des ökologischen Landbaus finden die Kontrolleure wesentlich seltener Rückstände von Pestiziden als in gewöhnlicher Ware. Für den hiesigen Verbraucher mag das Risiko durch Rückstände heute begrenzt sein, weil die Lebensmittelgesetze strenger und ihre Überwachung effektiver geworden sind. Den Anwendern von Pestiziden drohen jedoch immer noch gesundheitliche Probleme beim Umgang mit der Giftspritze, zumal eine vom Gesetzgeber geforderte „gute fachliche Praxis“ selbst hierzulande oft nicht eingehalten wird. Bei einer Stichprobe des Umweltbundesamts 2005 sprühte die Hälfte der Landwirte munter Pestizide dort, wo es längst verboten ist, im Uferbereich von Flüssen und Bächen. Übrigens: Giftige Kupferlösungen gegen Pilzkrankheiten werden auch von Ökobauern versprüht. „Keine Frage: Davon müssen wir weg, wir brauchen Alternativen“, erklärt Paul Mäder. Gegen Unkräuter und Pflanzenschädlinge setzt ökologische Landwirtschaft vor allem auf Bodenbearbeitung, Fruchtfolgen, einige nichtsynthetische Präparate und Nützlinge. Letztere werden bislang wenig eingesetzt – auf vielleicht zehn Prozent der Weltagrarfläche. Dabei gehen Experten wie Joop van Lenteren von der holländischen Universität Wageningen davon aus, dass die biologische Schädlingsbekämpfung finanziell oft günstiger wäre als die mit chemisch-synthetischen Pestiziden. „Im Jahr 2050 wird allein schon aus Kostengründen der Anteil biologischer Schädlingskontrolle deutlich höher sein“, hofft van Lenteren. Das sei besser für die Gesundheit der Menschen und für die Umwelt.

Die RESTNATUR ERHALTEN

Doch nicht nur Gift ist schuld am Artensterben, sondern auch das Ausräumen ganzer Landstriche für maschinengerechten Ackerbau. Das Argument, Hochleistungslandwirtschaft helfe, Restflächen an Natur zu erhalten, zieht nicht, wie vor Kurzem britische Forscher um Robert Ewers zeigten. In der Praxis überlagern vielerorts andere Effekte eine mögliche Flächenersparnis, etwa der zunehmende Anbau von nachwachsenden Rohstoffen auf nicht mehr für die Lebensmittelproduktion verwendeten Äckern. Hier könnte bio sich als überlegen erweisen: Etliche Studien deuten an, dass auf Feldern des Ökolandbaus mehr Mikroorganismen, Käfer, Bienen, Vögel und Kleinsäuger leben als auf konventionell bewirtschafteten Äckern. Allerdings widersprechen sich die Daten zum Teil. Auch ein Bio-Siegel garantiert bis heute nicht den Schutz von Biodiversität. „Wir sollten die Richtlinien an dieser Stelle weiterentwickeln“, fordert Paul Mäder. Insgesamt aber zeigt die Zwischenbilanz: Ökolandbau könnte weltweit die Ernährung sichern – nachhaltig. Vorausgesetzt, wir sind bereit, unseren Fleischkonsum einzuschränken. ■

von Bernhard Epping

KOMPAKT

· Verglichen mit konventioneller Hochleistungslandwirtschaft bietet Biolandwirtschaft geringere Erträge. In armen Regionen sehen Experten aber ein großes Ertragspotenzial.

· Biolandwirtschaft kann energieeffizienter sein als konventionelle Landwirtschaft, weil der Verbrauch an Treibstoff, Dünger und Pestiziden drastisch geringer ist.

FLEISCHKONSUM SCHADET DEM WELTKLIMA

Auf den ersten Blick scheint die Bilanz der Landwirtschaft ausgeglichen zu sein: Pflanzen entziehen der Luft beim Wachsen CO2 und geben es beim Verrotten wieder ab. Doch die Landwirtschaft verursacht noch andere CO2-Emissionen: etwa bei der Herstellung von Dünger und Pestiziden, durch Abholzung von Wäldern und durch Bodenerosion. Die Viehwirtschaft steuert ein weiteres Treibhausgas bei: Methan, das beispielsweise aus Rindermägen freigesetzt wird. Dazu kommt Lachgas, das aus nitrathaltigen, verdichteten Böden stammt. Alle Klimagase wurden hier in CO2-Äquivalente umgerechnet. Die Daten, die aus verschiedenen Hochrechnungen stammen, zeigen, dass der Öko-Landbau (orange) oft – aber nicht immer – günstiger fürs Klima sein könnte als konventionelle Landwirtschaft (blau). Exakte Zahlen sind derzeit aber noch Mangelware. Egal ob bio oder konventionell: Den mit Abstand größten Effekt hat der Konsum von Fleisch.

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