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Der versunkene Wald

Allgemein

Der versunkene Wald
Archäologen durchforschen einen 13 000 Jahre alten Eiszeitwald mit Rastplätzen von Steinzeitmenschen. Es ist eine Zeitreise in eine Epoche drastischen Klimawandels – die unseren Vorfahren alles an Überlebenskunst abverlangte.

Die offene Tundra verschwand, Bäume wanderten ein, die Landschaft änderte sich. Plötzlich blieben die großen Rentierherden aus. Es wurde wärmer – viel wärmer. Die Menschen am Ende der Eiszeit werden sich darüber nicht gefreut und einfach ein Fell weniger angezogen haben. Der Umschwung muß ihnen vielmehr wie die Vertreibung aus dem Paradies vorgekommen sein. Innerhalb weniger Generationen mußten sie sich radikal umstellen – oder verhungern. Denn in der kleinräumigen Waldlandschaft waren Treib-jagden, auf die sie sich über die Jahrtausende spezialisiert hatten, nicht mehr möglich: Bäume verstellten die Fernsicht. Sie mußten andere Jagdmethoden entwickeln – auch, weil neue Tiere zuge-wandert waren: Statt großer Rentierherden gab es nun waldtypisches scheues Standwild wie Rehe, Baumvögel und kleine Nagetiere. Und wer es geschafft hatte, sich an die neue Situation anzupassen, hatte damit beileibe nicht ausgesorgt – denn bald brach eine neue Abkühlung herein, und nach kurzem wieder eine Erwärmung. Seit 1997 legen Archäologen in Reichwalde, 50 Kilometer nordöstlich von Dresden, die Kulisse dieses Überlebenskampfes frei: einen vorzüglich erhaltenen Wald, der in der Späteiszeit aus wärmeren Klimazonen in die frühere Tundra vorgedrungen war. 13 Jahrtausende lang war er im Moor verborgen.

Erst als Braunkohlenbagger in Reichwalde am „Großteich Altliebel“ das Moor anschnitten, kam der Schatz ans Tageslicht. „ Das ist einzigartig in Mitteleuropa“, schwärmt Ausgräber Dr. Jürgen Vollbrecht vom sächsischen Landesamt für Archäologie. Ungezählte, 10 bis 20 Meter lange Bäume liegen auf dem ehemaligen Grund eines Sees. Dazwischen wurzeln noch Stümpfe im Sand. Vom Sturm umgeknickte Stämme zeigen die Haupt-Windrichtung vor 13000 Jahren an: Aus Südwesten fegten die Unwetter heran. So frisch sieht das Holz aus, daß man kaum sein hohes Alter glauben mag – doch Wissenschaftler der Heidelberger Universität haben es durch Datierung mit der Radiokarbonmethode bewiesen. Seit April 2001 sind diese Bäume die Grundpfeiler eines Projekts an der Universität Hohenheim, gefördert vom Bundesforschungsministerium. Das Ziel: Das wechselhafte Klima am Übergang von der letzten Eis- zur Warmzeit soll detailliert rekonstruiert werden. Der Paläobotaniker Michael Friedrich, treibende Kraft des Projekts, liest in den Baum-funden wie in einem offenen Buch. „Man muß sich in Reichwalde einen lichten Kiefernwald vorstellen, mit ein paar eingestreuten Birken am Ufer eines Flußlaufs. Um das Jahr 13500 vor heute beginnt der Wald zu sterben – er ertrinkt.“ Wie die Ablagerungsschichten im Boden zeigen, stieg das Grundwasser immer weiter an, bis sich schließlich ein See bildete, der die umgestürzten Bäume zudeckte.

Die Gründe sind nicht geklärt. Friedrich hat zwei Theo-rien: Eine Wanderdüne oder umgestürzte Bäume haben vielleicht den Fluß gestaut. Oder: Da der Tod des Waldes genau in eine Phase feuchteren Klimas fiel, könnte ein genereller, überregionaler Anstieg des Grundwassers stattgefunden haben. Fest steht: Was auch immer damals die Bäume umbrachte – es ließ sie bis heute überdauern. Denn der See und seine Sedimente hielten Luftsauerstoff und zer-störerische Organismen fern. Neben dem Wasser hat ein zweites Element dem Wald sichtbar zugesetzt: das Feuer. Die Wunden, die es den Bäumen zufügte, können die Hohenheimer Dendrochronologen (siehe Kasten „Ein Archiv aus Eis und Holz“) jahr- und sogar jahreszeitengenau datieren. Ihr Befund: In Reichwalde hat es etwa alle zehn Jahre gebrannt.

Das ist auffallend häufig. Vergleiche mit heutigen naturbelassenen Wäldern zeigen, daß Waldbrände, die durch Blitzeinschlag oder ähnliches ausgelöst werden, weit seltener sind: ungefähr alle 80 Jahre. Normalerweise brennt es vor allem im Sommer, wenn die Kiefernstreu trocken ist. In Reichwalde jedoch brachen die Brände in einem Drittel der Fälle im Winter aus – das läßt sich aus Stammquerschnitten klar ablesen. Hatte hier der Mensch die Finger im Spiel? Hatte er sein Feuer nicht gut genug unter Kontrolle, oder legte er gar absichtlich Flächen durch Brandrodung frei? Fest steht, daß Menschen in Reichwalde oft Rast gemacht haben – sowohl altsteinzeitliche Jäger aus der Endphase der letzten Eiszeit als auch Menschen der Mittelsteinzeit. Archäologe Dr. Jürgen Vollbrecht hat Lagerplätze aus beiden Epochen gefunden. Holzkohle, Steingeräte und verkohlte Knochen wiesen ihm den Weg.

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Zwei 14000 Jahre alte Feuerstellen aus der Altsteinzeit lagen direkt am Fluß. Es ist kaum Abfall vorhanden, ebensowenig Spuren einer Zeltkonstruktion. Vollbrecht schließt daraus, daß die Jäger hier nur eine kurze Pause unter freiem Himmel machten. Sie versammelten sich wohl zu einem schnellen Imbiß an einem Lagerfeuer und schärften ihre Waffen. Unbrauch-bar gewordene Pfeilspitzen warfen sie weg und ersetzten sie durch neue. Abgeschlagene Steinsplitter dokumentieren dem Grabungsteam in Reichwalde das Nachschärfen und die Anfertigung von Steingeräten.

Wenige Jahrhunderte danach staute sich im späteiszeitlichen Wald bereits das Wasser. Die jüngeren Menschenspuren liegen denn auch etwas erhöht auf einer Sanddüne oberhalb des Sees – wieder haben Feuerstellen die Zeit überdauert. Diesmal waren es Menschen der Mittel-steinzeit, die vor ungefähr 8500 Jahren ihr Lager aufschlugen. Mehrmals kamen sie zum See zurück, um hier zu rasten.

Im Gegensatz zum perfekt erhaltenen Wald hat sich an den Lagerplätzen fast kein organisches Material erhalten. Die altsteinzeitlichen Fundstellen liegen zeitlich noch vor dem konservierenden Grundwasseranstieg, und die Menschen der Mittelsteinzeit ließen sich sowieso oberhalb der Wasserlinie nieder. So sind die Holzschäftungen der Steinwerkzeuge zerfallen und die Knochen von Mensch und Tier im sauren Erdboden zersetzt worden. Ausgräber Jürgen Vollbrecht konnte also bloß auf Steingerätfunde zurückgreifen, um sich ein Bild vom Leben der Menschen zu machen. Dennoch gelang es ihm, damit die neuen Jagdmethoden nachzuweisen, mit denen die Steinzeitmenschen auf die Veränderungen ihrer Umwelt reagiert haben.

In der offenen Tundrenlandschaft der fortgeschrittenen Eiszeit war bis etwa 12500 v.Chr. die Speerschleuder gebräuchlich – ein Jagdgerät, mit dem der Jäger den Speer mit großer Wucht auf Tiere schleudern konnte. Doch schon an den ältesten Lagerplätzen in Reichwalde, etwa aus dem Jahr 12000 v.Chr., fand der Archäologe Zeugen neuer Waffen: kleine drei-eckige Steinspitzen. Im gerade erst eingewanderten, noch lichten Kiefernwald hatten die Steinzeitler Pfeil und Bogen erfunden.

Im später immer dichteren Wald mußten die Menschen ihre Methoden weiterentwickeln, wie die Funde aus der Mittelsteinzeit belegen: Jetzt tauchen merkwürdig zu-geschlagene Pfeilspitzen auf. Sie sind trapezförmig und wurden – wie die Archäologen rekonstruierten – scheinbar widersinnig mit der breiten Querseite nach vorn in den Pfeilschaft gesetzt.

Was auf den ersten Blick unbrauchbar scheint, ist schlicht genial. Mit einem gefiederten Schaft versehen, dreht sich der Pfeil beim Abschuß. Wenn sich die breite Spitze des „ Querschneiders“, wie die Forscher diesen Pfeilspitzentyp nennen, in das Fleisch eines Tieres bohrt, hinterläßt sie eine üble, ausgefranste Wunde. Das Opfer blutet stark und hat nicht mehr lange die Kraft zur Flucht. Im dichten Wald, der nun in der Warmzeit das Land bedeckt, ist das sehr nützlich: Eine gut sichtbare Blutspur führt zum erlegten Tier im Unterholz. Das Klima ist die Ursache all dieser Veränderungen in Umwelt und Leben der Men-schen. Der Glücksfund des versunkenen Waldes in der Oberlausitz läßt die Epoche vor rund 13000 Jahren wieder auferstehen. Michael Friedrich formuliert das so: „In den Jahrringen der Baumquerschnitte ist das damalige Klima gespeichert.“

Die erfahrenen Dendrochronologen lesen aus der Dicke der Jahresringe die klimatische Situation ab. Die ist am Ende der Eiszeit besonders spannend: „In diesem Zeitraum findet ungeheuer viel statt. Wir haben Erwärmungen, wir haben Abkühlungen, alles in relativ kurzer Zeit. Und wir können zum allerersten Mal jahrgenau auflösen, was passiert ist“, begeistert sich der Hohenheimer Forscher. Die spezifische Abfolge unterschiedlich dicker Jahresringe in Reichwalde beweist, daß der Mensch der späten Eiszeit sogar mehrmals mit raschen, starken Temperaturschwankungen fertig werden mußte. So stiegen innerhalb von nur 20 bis 40 Jahren, also während eines einzigen Menschenlebens, die Temperaturen im Jahresmittel um bis zu sechs Grad Celsius. Und das in einer Ära, wo kein Kraftwerksschlot oder Autoauspuff treibhauswirksame Gase ausstoßen konnte. Dagegen wirkt der vieldiskutierte Temperaturanstieg unserer Zeit geradezu mä-ßig: ganze 0,6 Grad Celsius im globalen Jahresmittel der letzten 100 Jahre. Im Januar dieses Jahres allerdings pro-phezeiten die Klimaforscher des IPCC, des UN-Ausschus-ses zum Klimawandel in Genf, unter mehreren Szenarien auch eines mit zehnmal so hohen Werten für das 21. Jahrhundert – also eine Erwärmung in der Größenordnung vom Ende der letzten Eiszeit.

Im Reichwalder Moor bietet die größte Landschaftszerstörung unserer Tage paradoxerweise auch die größten Chancen für die Archäologen. Der Braunkohlentagebau baggert in der Oberlausitz ganze Dörfer und Landstriche weg. In seinem Vorfeld müssen allein bis zum Ende dieses Jahres zehn Quadratkilometer archäologisch untersucht werden, bevor alles unwiederbringlich verschwindet. Es wird die größte Grabungsfläche Deutschlands sein. Was das sächsische Landesamt für Archäologie einerseits vor riesige Organisationsprobleme stellt, kann seinen Wissenschaftlern auf der anderen Seite neue spannende Ergebnisse liefern. Die ersten Baggerschnitte ins benachbarte Moorgebiet haben bereits weitere eiszeitliche Hölzer zutage gefördert.

Auch eine neue Fundstelle mit Relikten mittelsteinzeitlicher Jäger wurde angeschnitten. Jürgen Vollbrecht hofft, daß sich an Lagerplätzen, die noch entdeckt werden, organisches Material besser erhalten haben könnte. Er wartet schon lange auf einen hölzernen Pfeil und Bogen. Die vage Hoffnung auf menschliche Reste will der Wissenschaftler nicht nähren. Das hält er für unwahrscheinlich – auch wenn es natürlich zu schön wäre, auf eine gut erhaltene Moorleiche aus der Steinzeit zu stoßen. Da der im Ötztal gefundene Vorzeitmensch „Ötzi“ getauft wurde, müßte ein mooriger Steinzeitler aus der Lausitz denn wohl „Lausi“ heißen.

# Ein Archiv aus Eis und Holz Globale Erwärmung ist nicht die einzig mögliche Klimazukunft der Erde. Eiszeiten treten zyklisch auf, sagen die Paläoklimatologen. An Eisohrkernen, die eine Art Klima-Archiv sind, lesen sie einen Rhythmus von zirka 100000 Jahren ab. Die Warmphase zwischen zwei Eiszeiten dauert meist nur etwa 10000 Jahre. Und seit dem Ende der letzten Eiszeit sind bereits 11620 Jahre vergangen. Der Paläobotaniker Michael Friedrich von der Universität Hohenheim, der aus Jahrringen uralter Bäume das Klima vergangener Jahrtausende rekonstruiert, macht kein Hehl aus seiner Überzeugung: „Wir haben sicherlich schon einen Großteil unserer Warmperiode hinter uns gebracht. Eigentlich laufen wir auf die nächste Eiszeit zu.“ Eine sichere Voraussage hält er für schwierig. Denn letztlich, sagt der For-scher, „ist das Klima ein chaotisches System“.

Er konzentriert sich auf die hölzernen Klimazeugen der Vergangenheit. Ein Baum produziert im Frühjahr ein anderes Holz als im Sommer. Durch diesen Wechsel von „Frühholz“ und „Spätholz“ lassen sich im Stammquerschnitt die Wachstumsschübe jedes Jahres identifizieren. Je nach den Lebensbedingungen fallen die Jahresringe breiter oder schmaler aus. Die Pflanze reagiert zum Beispiel auf Trockenheit oder Kälte mit weniger Wachstum. Wenn man die verschiedenen Ringbreiten in ein Diagramm überträgt, ergibt sich eine charakteristische Kurve. Die Paläobotaniker an der Universität Hohenheim haben für diese „Dendrochronologie“ Pionierarbeit geleistet: Aus den Jahrringkurven von mehreren 10000 Stämmen erarbeiteten sie eine Jahrring-Chronologie.

Sie werteten vor allem Eichenholzfunde aus den Kiesbetten der großen süddeutschen Flüsse aus. Die älteste Eiche, die sie finden konnten, hat 8480 v.Chr. zu wachsen begonnen. Erst in dieser Zeit war die Eiche aus dem Mittelmeergebiet in unsere wärmer gewordenen Gefilde vorgedrungen. Davor hatte die Kiefer die Wälder beherrscht. Auch an ihren Stammquerschnitten kann man Jahre ablesen, aber die Verknüpfung von Kiefern- und Eichenchronologie zu einem gemeinsamen Kalender hat lange Zeit Schwierigkeiten bereitet. Vor drei Jahren erst gelang den Hohenheimer Wissenschaftlern der Durchbruch in die Vergangenheit: Die gemeinsame Kiefern- und Eichenkurve reicht jetzt, mit kleineren Unterbrechungen, beeindruckende 14400 Jahre zurück.

Kompakt Einzigartig in Mitteleuropa: Ein ganzer Wald vom Ende der Eiszeit hat sich in einem Moor der Oberlausitz erhalten. In den Jahresringen der Bäume sind gewaltige Klimaschwankungen dokumentiert. Lagerplätze von Jägern zeigen, wie der Mensch damals auf das veränderte Klima reagierte.

Bdw community INTERNET Viel zum Thema Klimawandel: http://www.ipcc.ch Lesen Mit fachlichem Tiefgang: Josef Klostermann DAS KLIMA IM EISZEITALTER Primus 1999 DM 78,–

Behandelt zwar nur das letzte Jahrtausend, bietet aber viele generelle Aha-Effekte: Rüdiger Glaser KLIMAGESCHICHTE MITTELEUROPAS 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen Schweizerbart 2001 DM 59,–

Kontakt Landesamt für Archäologie Zur Wetterwarte 7 01109 Dresden Tel: 0351 | 89 26 – 601 Fax: 0351 | 89 26 – 666 archsax@archsax.smwk.sachsen.de

Michael Friedrich Universität Hohenheim Institut für Botanik (210) 70593 Stuttgart Tel: 0711 | 459 – 21 96 Fax: 0711 | 459 – 33 55 michaelf@uni-hohenheim.de

Abenteuer Archäologie In nächsten Heft lädt bdw Sie zu Zeitreisen in Deutschland und den angrenzenden Nachbarländern ein: Auf einer 80 mal 54 Zentimeter großen Faltkarte sehen Sie die 45 attraktivsten archäologischen Fundstätten – teils vor Ihrer Haustür, teils in einer Tagestour erreichbar. Die Rückseite der Karte bietet Ihnen kompakten Service: Adressen, Telefon-nummern, Öffnungszeiten und Veranstaltungen vor Ort.

Almut Bick

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