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PANIKSTÖRUNG? PANIKMACHE!

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

PANIKSTÖRUNG? PANIKMACHE!
Psychische Störungen nehmen zu – behaupten Krankenkassen und Ärzteverbände. Panikmache – sagen Psychologen. Was stimmt?

In der Öffentlichkeit und bei Experten haben psychische Störungen den Ruf, die „Epidemie das 21. Jahrhunderts“ zu sein. Große US-Studien, die seit den 1970er-Jahren durchgeführt wurden, hatten eine deutliche Zunahme vor allem an Depressionen bei jüngeren Menschen prognostiziert.

Auch in Deutschland scheinen sich seelische Probleme zu häufen, glaubt man der Techniker Krankenkasse (TK). Die berichtet in ihrem Gesundheitsreport 2009, dass Krankschreibungen aufgrund psychischer Störungen 2008 abermals um rund 8 Prozent zugenommen hätten: von 140 auf 151 Fehltage pro 100 Personen. Bereits für den Zeitraum 2000 bis 2004 hatten die Versicherungen TK, DAK und AOK ein Plus an Fehltagen aufgrund seelischer Leiden von rund 20 Prozent errechnet. Verantwortlich für den Anstieg von Depressionen, Suchterkrankungen, Burnout-Syndrom und Sozialphobien sollen gesellschaftliche Probleme sein wie die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust.

Betrachtet man die Studien genauer, ergibt sich allerdings ein anderes Bild: Heute scheint es kaum mehr Leidende als vor 50 Jahren zu geben. Das hat Dirk Richter, Gesundheitswissenschaftler an der Fachhochschule Bern, mit Kollegen der Universität Münster in einer Übersichtsstudie kürzlich herausgefunden. „Die großen US-Studien hatten viele methodische Probleme“, meint Richter, der 44 Arbeiten aus Westeuropa, Nordamerika und Australien unter die Lupe genommen hat. In manchen Studien hatte man ältere Probanden gebeten, sich an vergangene Seelenzustände zu erinnern. Da sich die Befragten zum Teil schlecht erinnern konnten, entstand der Befund, dass psychische Störungen in jüngeren Generationen zunehmen. Richter fand auch bei psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter keinen Trend nach oben.

Richter kann zwar nicht beweisen, dass die Zahl psychischer Erkrankungen gleich bleibt. „Doch die Studie liefert klare Indizien, die gegen eine Zunahme sprechen“, sagt Jürgen Fritze von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Die tatsächliche Entwicklung nachzuzeichnen, fällt deshalb schwer, weil es bis 1980 keine gute Feldforschung gab. Die Daten waren zum Teil fehlerhaft, weil nicht die Allgemeinbevölkerung, sondern Patienten in Kliniken befragt wurden. Zudem kamen immer wieder neue diagnostische Definitionen und Messinstrumente hinzu. 1980 wurde in den USA das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM), die „Diagnostik-Bibel“ der Psychiater, komplett erneuert. Die neue Version trug zwar dazu bei, einen Konsens zwischen verschiedenen Lehrmeinungen zu schaffen. Durch sie gerieten aber auch verstärkt seelische Probleme ins Visier der Psychologen, die sie früher nicht beachtet hatten, etwa die Panikstörung. Im heutigen DSM stehen 297 Diagnosen – vor 50 Jahren zählte das Manual lediglich 106. Auch der in Deutschland verwendete Krankheitskatalog ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation orientiert sich an dem umstrittenen Handbuch. „Gute Daten hat man nur, wenn man viele Jahre mit immer demselben Instrument misst“, erklärt Richter. Doch das ist nur in wenigen Studien geschehen.

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GEFÜHLTE STEIGERUNG DER ZAHLEN

Depressionen sind heute weniger mit Vorurteilen behaftet und erfahren eine größere öffentliche Aufmerksamkeit als noch vor wenigen Jahren. Mehr Menschen vertrauen sich Psychologen oder Hausärzten an, die psychische Störungen inzwischen besser erkennen können. Fakt ist, dass immer mehr Menschen mit einer entsprechenden Diagnose aus den Praxen kommen. „Dieser Trend ist zu begrüßen, weil deshalb wohl mehr Betroffene angemessen behandelt werden“, freut sich Fritze. Dadurch steigt aber auch die Zahl der psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeitstage. Jede dritte Frühverrentung wird mittlerweile mit einer psychischen Störung begründet, belegt eine Statistik der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Vor zehn Jahren war es lediglich jede fünfte. Zudem werden mehr Psychopharmaka und Psychotherapien verschrieben. „All das führt zu einer gefühlten Steigerung der Zahlen“, meint Allan Horwitz, Soziologe an der Rutgers University in New Jersey und Autor des Buchs „The loss of sadness“ mit dem vielsagenden Untertitel „Wie die Psychiatrie normale Sorgen in depressive Störungen verwandelt hat“ (siehe Kasten „Mehr zum Thema“).

Das Problem: Die stärkere Wahrnehmung wird von verschiedenen Gruppen missbraucht. „Krankenkassen können damit steigende Kosten begründen, obwohl der Krankenstand in den letzten Jahren eher rückläufig ist“, meint Richter. Auch Ärzteverbände sprechen gern von rasant steigenden Zahlen, wenn es darum geht, politisch Druck auszuüben. So klagte die Delegiertenversammlung der Landesärztekammer Hessen in einer Resolution 2006: „Ärzte können wegen fehlender Finanzmittel nicht angemessen auf die steigende Zahl psychisch Kranker reagieren.“ Die Gewerkschaft Verdi warnte kürzlich sogar, dass durch die Finanzkrise der Leidensdruck von Bankangestellten erheblich zunehme. Die Folge werde ein massiver Anstieg psychischer Krankheiten sein. Doch das ist reine Spekulation. Horwitz meint, dass sogar Wissenschaftler davon profitieren, wenn psychische Leiden als neue Epidemie angesehen werden – sie könnten so leichter finanzielle Mittel einwerben. In den letzten Jahren kam es zu einem wahren Boom von Veröffentlichungen. Allein zum Thema Depression verzeichnete die Datenbank medline im Februar 2009 über 224 000 Arbeiten.

Auch die Pharmaindustrie ist Nutznießerin der Propaganda. Antidepressiva und Antipsychotika liegen laut dem Arzneimittelreport 2008 mit einem Umsatzanteil von 7,5 Prozent auf Platz 1 der verschriebenen Medikamente. „Psychopharmaka werden immer häufiger Menschen verschrieben, die lediglich eine schwierige Lebensphase durchmachen“, meint Norbert Schmacke, Gesundheitswissenschaftler an der Universität Bremen. Der ehemals bei der Pharmafirma Lilly angestellte John Virapen geht mit seiner Kritik noch weiter. In seinem Buch „Nebenwirkung Tod“ beschreibt er, wie das Krankheitsbild Depression seit den 1980er-Jahren gezielt aufgebauscht wurde. „Man erfindet neue Konsumentengruppen, indem man den Katalog einfach dicker macht“, meint Virapen. Lilly stellt unter anderem „Prozac“ gegen Depressionen her, das in den letzten Jahren in den USA zur Lifestyle-Droge avanciert ist.

WEDER DRAMA NOCH BAGATELLE

Den Vorwurf, normale Stimmungen oder Persönlichkeitsmerkmale würden als psychische Leiden umgedeutet, kann DGPPN-Experte Fritze nicht nachvollziehen: „Das ist wissenschaftlich nicht fundiert.“ Und Frank Jacobi, Psychologe an der Technischen Universität Dresden, warnt: „Psychische Störungen erneut zu bagatellisieren, nur weil die Pharmaindustrie einen Nutzen von der öffentlichen Würdigung der Krankheitslast hat, ist populistisch.“ Unklar ist derweil, inwieweit Probleme am Arbeitsplatz oder die Finanzkrise tatsächlich Spuren in der Seelenlandschaft hinterlassen. „Es ist Spekulation, wie sich gesellschaft-liche Veränderungen auf die Psyche auswirken – insbesondere auf Störungen wie Schizophrenie oder Psychosen“, sagt Jacobi. „Hier wird viel dramatisiert.“

Aktuelle Studien, wie die von Ronald Inglehart, Politologe an der University in Michigan, der 350 000 Menschen weltweit befragt hat, bescheinigen westlichen Gesellschaften eine hohe Lebensqualität. Und: Schwere Depressionen sind der wichtigste Risikofaktor für Suizide. „Wenn die Zahl Depressiver wirklich steigen würde, müsste auch die Zahl der Selbstmorde zunehmen“, meint Richter. Doch die ist seit knapp 30 Jahren rückläufig. ■

KATHRIN BURGER, Wissenschaftsjournalistin in München, war überrascht, wie wenig harte Fakten es zu dem brisanten Thema gibt.

von Kathrin Burger

GUT ZU WISSEN: DEPRESSION

Depressionen gibt es, seit es Menschen gibt. Auch Berühmtheiten wie Martin Luther, Charles Darwin und Winston Churchill litten wahrscheinlich darunter. Etwa 5 Prozent der Deutschen sind derzeit depressiv – doppelt so viele Frauen wie Männer. Etwa 15 Prozent der Patienten nehmen sich das Leben. Depressionen machen etwa 80 Prozent aller psychischen Störungen aus.

Von einer „depressiven Episode“ spricht man, wenn drei der folgenden Symptome länger als zwei Wochen anhalten: depressive Verstimmung, Lustlosigkeit, Gewichtszu- oder -abnahme, Schlaflosigkeit oder exzessives Schlafbedürfnis, psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung, Müdigkeit oder Energieverlust, Gefühle von Wertlosigkeit oder Schuld, Konzentrations- und Entscheidungsschwierigkeiten, Todes- oder Selbstmordgedanken.

Die Diagnose ist schwierig, weil es keine Laborwerte oder bildgebenden Verfahren gibt, mit denen sich eine Depression eindeutig von einer normalen Trauer trennen lässt. In beiden Fällen laufen im Gehirn die gleichen Stoffwechselprozesse ab. Allerdings tritt eine Depression im Gegensatz zu einer Trauer ohne ersichtlichen Grund auf. Zahlreiche Kritiker bemängeln, dass in Arztpraxen zunehmend unsauber getrennt werde. Auch in der Umgangssprache ist von „depressiver Verstimmung“ die Rede, wenn eine normale Niedergeschlagenheit gemeint ist. Bei der Ursache von Depressionen könnten die Gene eine Rolle spielen. Denn: Die psychische Krankheit tritt in vielen Familien gehäuft auf. Daneben gibt es zahlreiche psychologische Erklärungsansätze.

Behandelt wird medikamentös, etwa mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern und/oder mit einer kognitiven Verhaltenstherapie. Parallel dazu können Yoga oder andere sportliche Betätigungen helfen. Die Elektrokrampftherapie wird bei schweren Depressionen angewandt, wenn Antidepressiva nicht wirken.

KOMPAKT

· Angeblich nimmt schon seit Jahren die Zahl der psychischen Erkrankungen zu.

· Fest steht: Die Diagnoseverfahren sind genauer geworden, und die Leiden werden nicht mehr totgeschwiegen.

· Psychologen befürchten, dass Ärzte zu leichtfertig Psychopharmaka verschreiben und dass sich die Grenze zwischen gesund und krank verschiebt.

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LESEN

John Virapen NEBENWIRKUNG TOD Korruption in der Pharma-Industrie Mazaruni Publishing Neudenau 2008, € 16,90

Allan V. Horwitz, Jerome C. Wakefield THE LOSS OF SADNESS How Psychiatry Transformed Normal Sorrow Into Depressive Disorder Oxford University Press 2007, ca. € 27,–

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