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IM BANN DER LÖWENMENSCHEN

Geschichte|Archäologie

IM BANN DER LÖWENMENSCHEN
Die 30 000 Jahre alten löwenhäuptigen Figuren aus den Alb-Höhlen sind von Geheimnissen umgeben. Von Löwenmenschen aus geschichtlicher Zeit weiß man mehr: Sie waren der personifizierte Schrecken.

AN SENSATIONEN herrscht bei Nicholas Conard wahrlich kein Mangel. Auf einer Pressekonferenz im Mai 2009 gab der Archäologie-Professor, Leiter des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der Tübinger Universität, seinen jüngsten Coup bekannt: In den Sedimenten der Hohle-Fels-Höhle bei Schelklingen, am Ostrand der Schwäbischen Alb nahe Ulm, haben seine Mitarbeiter das älteste Kunstwerk der Welt entdeckt – eine 35 000 bis 40 000 Jahre alte Frauenstatuette aus Elfenbein (siehe Kasten S. 89 „Die Venus vom Hohle Fels”).

In anderen Alb-Höhlen, nur Katzensprünge vom „hohlen Felsen” entfernt, förderten die erfolgsverwöhnten Tübinger in ihren Grabungskampagnen die ältesten Musikinstrumente der Welt zutage. Es sind Flöten aus Schwanenknochen und aus Mammutelfenbein, ebenfalls um die 35 000 Jahre alt. Nicht minder sensationell ist der dritte Superlativ – aus denselben Fundstellen und derselben Entstehungszeit: Elfenbeinfiguren von „Löwenmenschen”. Auch das ist ein Meilenstein der Menschheitsgeschichte. Denn diese Löwenhäuptigen sind die ältesten handfesten Nachweise für transzendente Gedanken unserer fernen Vorfahren. Die waren vor rund 40 000 Jahren als erste anatomisch moderne Menschen in Europa eingewandert und hatten hier die jungpaläolithische Kultur des Aurignacien zur Blüte gebracht. Sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach die frühen Künstler gewesen.

Das erste Fragment der löwenköpfigen Elfenbeinfiguren mit Menschengestalt kam 1939 in der Hohlenstein-Stadel-Höhle ans Licht und wurde 1988 komplettiert. Doch ob- wohl diese Figur heute ein Weltstar ist – mit knapp 30 Zentimeter Größe und vorzüglichem Erhaltungsstand –, ist für Nicholas Conard der Fund der zweiten Löwenmenschenfigur etwas ganz Besonderes. Dabei macht sie mit gerade mal 2,5 Zentimeter Größe und stark verrundeten Konturen wenig her. 2003 war ein Grabungsteam unter Conards Leitung in der Hohle-Fels-Höhle darauf gestoßen.

„So klein die Figur auch ist”, sagt der gebürtige US-Amerikaner, „als ich sie damals das erste Mal in Händen hielt, hat die Erkenntnis mich regelrecht erschüttert. Ich habe sofort gesehen, dass das ebenfalls eine löwenköpfige Menschendarstellung ist. Damit war klar: Der erste Löwenmensch war kein Unikat, kein Zufallsprodukt, da es mehrere Figuren dieser Art gab. Vielleicht waren es einst sogar Hunderte.” Mittlerweile zählt Conard auch den 1931 in der Geißenklösterle-Höhle gefundenen „Adoranten” zu den Löwenmenschen-Darstellungen: ein Relief auf einem Elfenbeinplättchen, das eine stark verwitterte Figur mit erhobenen Armen zeigt.

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Anders als bei den ebenfalls in den Alb-Höhlen entdeckten Tierfiguren – Wildpferd, Mammut, Bison und andere – sind die Löwenmenschen Mischwesen aus Tier und Mensch. „Dahinter müssen weitreichende Ideen stecken, auch religiöse”, vermutet der Tübinger Archäologe. „Die Figuren sind mit Bedeutung aufgeladen. Man kann hier an die Kommunikation der Menschen des Aurignacien mit den Naturkräften denken, an Kontakte mit der Geisterwelt, an Schamanismus.” Wobei Conard persönlich kein Anhänger der Schamanismus-Hypothese ist: „So etwas kann man weder beweisen noch widerlegen. Ich konzentriere mich lieber auf eng umgrenzte Fragen, die ich durch naturwissenschaftliche Methoden entscheiden kann.”

WEGWEISER INS JENSEITS

Trotzdem gibt ihm zu denken, dass bereits 2003 in der Hohle-Fels-Höhle, zusammen mit dem Löwenmenschen Nummer zwei, das Elfenbeinfigürchen eines Wasservogels ans Licht kam – ausgerechnet: „Wasservögel sind sehr häufig die Begleiter sibirischer Schamanen, wie man auf historischen Fotos von Ethnologen sieht”, klärt Conard auf, „in Form von Federn, Bälgen oder Stickereien auf der Kleidung. Die Vögel sind schließlich von Natur aus Grenzgänger zwischen den Welten – zwischen dem Wasser, in das sie tauchen können, und der Luft. Auch ein Schamane will die Transition, den Übergang von der dies- seitigen Welt in die jenseitige, und sucht sich dazu spirituelle Wegweiser.” Es ist eine naheliegende Idee, dass auch die löwenköpfigen Figuren – leibhaftige Übergänge zwischen der Tier- und der Menschenwelt – schamanistischen Zwecken gedient haben. Aber diese Deutung ist beileibe nicht die einzige. „Kraft und Aggression” lautete der gemeinsame Nenner, auf den der 1997 verstorbene Tübinger Archäologe Joachim Hahn die eiszeitlichen Kunstwerke aus den Alb-Höhlen stellte: Die Tierfiguren, argumentierte Hahn, zeigten vorwiegend starke, voll ausgewachsene Tiere. Sie könnten ein abgestuftes Wertesystem widerspiegeln – wenn nicht Hierarchien, so doch zumindest Rollenverteilungen innerhalb einer Gruppe. Etwa so: Der erfahrenste Jäger des Clans, der die gemeinsamen Jagdzüge plant, darf sich die Löwenmenschenfigur (Hahn: „ein Superzeichen” ) ins Haar knoten oder sie auf seine Kleidung nähen – als sichtbares Zeichen seines Führungsanspruchs. Vielleicht handelt es sich auch um ein Symbol, das im Zentrum einer Kultgemeinschaft stand.

Susanne Münzel, Archäozoologin an der Universität Tübingen, verweist in diesem Zusammenhang auf eine Merkwürdigkeit. Ihr Spezialgebiet ist die Untersuchung der fossilen Tierknochen, die in den Sedimenten der Albhöhlen – teils im Achtal, teils im Lonetal nahe Ulm – ans Licht kamen. Darunter sind viele durchbohrte Tierzähne, die in Münzels Büro einen großen Karton füllen. Die Zähne wurden offenbar von den Menschen des Jungpaläolithikums als Ketten oder Anhänger getragen oder auf die Kleidung genäht. Aus der damals artenreichen Fauna sind durchbohrte Zähne aller möglichen Spezies vertreten – zum Beispiel von Bär, Hyäne, Vielfraß, Wolf und so weiter. „Es fällt auf, dass wir nur eine einzige Sorte in dieser Region niemals gefunden haben”, sinniert Münzel: „Als Schmuck genutzte Zähne von Höhlenlöwen.”

WARUM DER VERZICHT AUF TROPHÄEN?

Dabei wurden diese Tiere hier gejagt, weiß die Archäozoologin. In den Höhlensedimenten kamen Löwenknochen mit Schnittspuren von Feuersteinklingen zum Vorschein. Und trotzdem haben die Reißzähne dieses größten und prächtigsten Raubtiers des Eiszeitalters – laut Fundlage – nicht als Jagdtrophäen gedient. Respekt vor dem „ Bruder” des Clan-Kultwesens, des Löwenmenschen? „Vielleicht hatten die Menschen dieser Region es auf das Fell der Höhlenlöwen abgesehen und nicht auf die Zähne”, überlegt Susanne Münzel: Die Schnittspuren würden zum Fellabziehen passen. In weitere Spekulationen will die Naturwissenschaftlerin sich nicht verlieren.

Tatsache ist allerdings: In Felszeichnungen aus dieser Epoche in Frankreich und Nordspanien kommen Gestalten mit Wisentkopf vor, die sich anscheinend ein Fell dieses Tiers umgeworfen haben. Die berühmteste dieser Darstellungen ist der „Zauberer” in der Grotte des Trois Frères in den Pyrenäen. So wäre es nicht allzu weit hergeholt, sich einen Löwenmenschen-Kult vorzustellen – wo am Lagerfeuer tanzend der Schamane oder der beste Jäger des Clans mit übergehängtem Löwenfell in spirituellen Kontakt zum Herrn der Tiere tritt. Und wo löwenköpfige Elfenbeinfiguren, getragen von den Mitgliedern des Clans, ein Wir-Gefühl schaffen – eine Gestalt gewordene Abgrenzung von konkurrierenden Kultgemeinschaften.

Genug der Fantasie. Auch in geschichtlicher Zeit haben Mischwesen mit Menschengestalt und Löwenkopf die Mythen bevölkert. Um auf sie zu treffen, muss man die Höhlen der Schwäbischen Alb hinter sich lassen und weite Reisen durch Zeit und Raum unternehmen – bis in den Alten Orient. Schriftliche Zeugnisse künden von ihrer Bedeutung. Vier dieser Löwenköpfigen beeindrucken besonders. Gefürchtet waren sie, alle vier.

Mit starrem Blick aus Raubtieraugen fixiert Sechmet ihr Gegenüber. Schon seit dem 3. Jahrtausend v.Chr. residiert sie in Ägypten. Sie ist nicht nur die Stadtgöttin von Memphis, sondern auch die blutrünstige Göttin des Krieges. Der Pharao Amenhotep III. lässt um 1350 v.Chr. im Mut-Tempelbezirk von Karnak Hunderte von Statuen errichten, um ihr zu huldigen. Es ist sehr empfehlenswert, sich mit Sechmet gut zu stellen. Denn sie ist die dunkle Seite ihrer liebenswürdigen Zwillingsschwester, der katzenköpfigen Liebesgöttin Bastet. Sechmet regiert über Krankheit und Heilung, sie kann gnädig sein und Bittsteller beschützen – wenn sie will. Denn sie ist zugleich unberechenbar, bedrohlich und aggressiv. In Kriegszeiten lebt sie hemmungslos ihre Raubtiernatur aus. Dann mäht sie mit lustvoller Grausamkeit zu Hekatomben die Menschen nieder, rasend vor Wut, durch nichts zu besänftigen.

Um der zweiten Gestalt namens Lamastu (sprich: Lamaschtu) zu begegnen, muss man zurück ins 2. Jahrtausend v.Chr., nach Babylonien. Dort zittern die Hochschwangeren und die Mütter kurz nach der Niederkunft vor der Dämonin mit Löwenkopf. Lamastu ist heimtückisch. Lautlos und unbemerkt wie eine Schlange oder ein Vogel – sie kann fliegen und unterschiedliche Gestalten annehmen – gelangt sie ins Haus. Hier kann sie einer Schwangeren das ungeborene Kind aus dem Bauch stehlen, oder ein Neugeborenes aus seiner Wiege. Sie reißt es an sich, drückt es an ihre blutbespritzten Brüste und säugt es mit giftiger Milch, bis das Baby krank wird und stirbt. Der Mutter bringt sie Fieber und Schüttelfrost. Daher murmeln Beschwörungspriester während der Niederkunft Abwehrformeln, um die Dämonin zu bannen. Aus heutiger Sicht ist klar: Lamastu ist die Verkörperung des Kindbettfiebers.

Die dritte Gestalt wird erstmals bei Homer erwähnt, in der „ Ilias”. Dort hat der Kriegsgott Ares in der Schlacht zwei Begleiter. Sie heißen Deimos und Phobos. Deimos ist die Verkörperung der Furcht vor dem Kommenden: Er verwirrt die Sinne und lähmt den Menschen. Phobos hingegen – er trägt einen Löwenkopf – ist die pure Panik. Er springt den Krieger so plötzlich an wie ein Raubtier und treibt ihn augenblicklich zur Flucht.

Der Archäologe und Kunsthistoriker Josef Floren an der Universität Münster hat sich viel mit Phobos beschäftigt und dessen Spuren aus der Zeit Homers – die Ilias wurde vermutlich etwa 650 v.Chr. schriftlich fixiert – bis in die Spätantike verfolgt. „Es gibt eine ganze Reihe von Löwenmenschen-Figuren in der griechischen und römischen Kultur”, erklärt Floren. „Sie sind eindeutig von Phobos abgeleitete Personifikationen des Schreckens. Erstaunlich ist: Es gibt überhaupt keine monumentalen Figuren von Phobos, sondern ausschließlich Kleinkunst, beispielsweise Vasenmalereien und Reliefs.”

DAS GRAUSIGSTE ALLER GESICHTER

Homer schreibt, Phobos und Deimos seien auf dem Schild des Agamemnon dargestellt gewesen, zusammen mit einem weiteren, nicht minder furchteinflößenden Bildnis: dem Medusenhaupt. Aufgerissene, aggressiv starrende Augen, gefletschte Zähne: Wer der Gorgo Medusa ins grässliche Antlitz („Gorgoneion”) schaut, heißt es in der griechischen Mythologie, versteinert auf der Stelle vor Schreck. Auf diesen Effekt setzten die Griechen in der Schlacht und versahen ihre Schilde mit dem furchteinflößenden Kopf. Der Held Perseus soll ihn einst der Gorgo Medusa abgeschlagen haben. Nun sollte das Gorgonenhaupt andere erschrecken. Und es sollte böse Einflüsse abwehren. So starrte die Gorgo Medusa beispielsweise – noch ungeköpft – vom Westgiebel des Artemistempels in Kerkyra auf der westgriechischen Insel Korfu. In der Antike dienten Medusenhäupter als Kinderamulette gegen den „bösen Blick”. Diese Gorgo Medusa komplettiert die fürchterlichen Vier. Denn: „In seiner ursprünglichen Form stellt das Gorgoneion einen Löwenkopf dar”, sagt Thomas Hauschild, Ethnologie-Professor an der Universität Halle.

Das ist in den späten Ausprägungen des Medusenhauptes nicht mehr erkennbar. Künstler aller Epochen nahmen das antike Thema gerne auf. Doch bei ihnen mutierte das Schreckensgesicht zu einer vermenschlichten, bedauernswerten Kreatur, die am eigenen Unsegen litt – mit fahler Haut, weher Mimik und zu Schlangen verwandelten Haaren. Je weiter man in der Zeit zurückgeht, desto mehr verändert sich der Charakter der Medusen-Darstellungen zum „ Gefährlichen, Löwenhaften”, schreibt die emeritierte Würzburger Archäologie-Professorin Erika Simon („Die Sprache der Masken”, Königshausen & Neumann 2002).

Simon weiter: „Viele frühe Gorgoneia haben das Gebiss und die Mähne von Löwen, dazu kommt die weit heraushängende Raubtierzunge.” Die frühesten Funde von Medusenhäuptern sind Tonmasken aus dem Jahr 700 v.Chr., ausgegraben im griechischen Tiryns. Sie zeigen die Reißzähne und die breiten Nasen von Löwen. Die obere Gesichtshälfte ist eine Mischung aus Tier und Mensch. Auch die Ohren sind halb löwenhaft, halb menschlich und durchbohrt. Das zeigt, so Simon, dass sie Schmuck trugen, also wohl als weiblich galten. Die Archäologin vermutet, dass die Masken im Kult der Athena verwendet wurden. Die heraushängende Zunge wurde im 5. Jahrhundert v.Chr. aufgegeben, etwas später verschwanden auch die spitzen Eckzähne aus den Darstellungen.

VORLÄUFER: TIERFELL UND TIERMASKE

Aus der Zeit vor den Tiryns-Masken existieren keine weiteren Funde – hier betritt man zwangsläufig erneut das Reich der Spekulationen. Eine der interessantesten wird in der „Geschichte der griechischen Religion” von Martin P. Nilsson (C.H. Beck 1967) zitiert: Das Gorgoneion sei „eine Form der Ablösung früherer ritueller Bekleidung mit Tierfell und Tiermaske”. Womit sich, wenn diese Vermutung zuträfe, der Kreis zu den schamanistischen Riten der Steinzeit schließen würde.

Der gemeinsame Nenner, auf den die geschilderten vier löwenköpfigen Gestalten aus der geschichtlichen Epoche zu bringen sind, lautet: Schrecken. Doch daraus lässt sich rein gar nichts über die 30 000 Jahre alten Löwenmenschenfiguren ableiten, unterstreicht Christian Züchner. Der Erlanger Wissenschaftler, ein Spezialist für eiszeitliche Kunst, begründet: „Die Tierfiguren und die Ritzzeichnungen, die Tiere zeigen, waren mit Sicherheit Bedeutungsträger. Weil wir heute durch unsere abendländisch-christliche Kultur geprägt sind, verstehen wir das Bild eines Lamms in einer Kirche sofort als ,Lamm Gottes‘ und das Symbol einer Taube als ,Heiligen Geist‘. Da uns aber Zehntausende von Jahren von den Menschen des Jungpaläolithikums trennen, kennen wir deren Mythen nicht und können den Code daher nicht entschlüsseln.”

Und dieses Nichtwissen geht sogar noch weiter, sagt Züchner. Zweifellos sei der Löwenmensch aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle ein geistesgeschichtliches Denkmal allerersten Ranges. Doch ist das, was wir bei der Betrachtung der Figur zu sehen glauben, tatsächlich die Intention ihres Erschaffers? „Mich stört”, sagt der Erlanger, „dass so hartnäckig nur vom ,Löwenmenschen‘ gesprochen wird.” In der Statuette aus Mammutelfenbein steckt ein weiteres Tier, vermutet er.

Er erklärt: „Der Kopf mag der eines Löwen sein. Aber in den Formen und Proportionen der Beine erkenne ich eindeutig einen Bären – die Beine sind relativ kurz und die Füße plump, wie Tatzen.” Wenn man sich ein Foto eines aufgerichteten Grizzly-Bären ansehe, sagt Christian Züchner, falle die Ähnlichkeit sofort ins Auge. „Die Haltung der Figur wiederum hat etwas sehr Menschliches. Also ist das aus meiner Sicht eine Mischung aus drei Wesen: Löwe, Bär und Mensch.” ■

von Thorwald Ewe

DIE VENUS VOM HOHLE FELS

Sie ist 59,7 Millimeter groß, wiegt 33,3 Gramm, wurde aus einem Mammutstoßzahn geschnitzt und ist 35 000 bis 40 000 Jahre alt. Nur rüde Naturen machen sich über ihre Ähnlichkeit mit einem Brathähnchen lustig. Diese Häme hat die „Venus vom Hohle Fels” nicht verdient, denn sie ist eine Sensation: vermutlich die älteste figürliche Menschendarstellung – oder gar das älteste figürliche Kunstwerk der Welt. Ein Grabungsteam des Tübinger Archäologen Nicholas Conard fand die in sechs Fragmente zerplatzte Elfenbeinfigur in den Sedimenten der Hohle-Fels-Höhle nahe Schelklingen in Baden-Württemberg. Was hatte ihr Schöpfer im Sinn? „Eventuell ein Fruchtbarkeitssymbol”, sagt Conard. Den Erklärungsversuch „L’art pour l’art”, absichtslosen Zeitvertreib, lässt er nicht gelten: Erstens sei es Schwerstarbeit, dem extrem harten und spröden Elfenbein mit Feuersteinklingen zu Leibe zu rücken. Und zweitens, unterstreicht der Wissenschaftler: „Man macht niemals irgendetwas ,einfach nur so‘. Man verleiht einem Objekt, an dem man schnitzt, automatisch einen Inhalt.”

KOMPAKT

· Welche Ideen die Menschen des Eiszeitalters mit ihren Kunstwerken verbanden, wird für immer ein Geheimnis bleiben.

· Die Löwenmenschen-Figuren der Steinzeit könnten im Zentrum eines Kultes gestanden oder schamanistischen Zwecken gedient haben.

· Aus historischer Zeit ist die Bedeutung etlicher löwenköpfiger Gestalten bekannt.

MEHR ZUM THEMA

EVENT

Ein glückliches Zusammentreffen: Im selben Jahr, in dem die „ Venus vom Hohle Fels” der Weltöffentlichkeit vorgestellt wurde, findet Baden-Württembergs Große Landesausstellung 2009 statt – Thema: „EISZEIT – Kunst und Kultur”. Vom 18. September 2009 bis zum 10. Januar 2010 wird die üppige Steinzeit-Lady sich hier wie zu Hause fühlen. Denn die Ausstellungsgestalter präsentieren unter anderem eine stilisierte Höhle nach dem Beispiel des „Hohle Fels”: jener Höhle bei Schelklingen auf der Schwäbischen Alb, in deren Sedimenten man die aus Mammutelfenbein geschnitzte älteste Menschendarstellung der Welt entdeckt hat.

Veranstalter ist das Archäologische Landesmuseum Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie, und dem Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart. 900 Exponate aus aller Welt werden zu bewundern sein, darunter als Höhepunkte die ältesten Kunstwerke der Menschheit aus den Alb-Höhlen. Der erste Löwenmensch aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle wird ebenso wenig fehlen wie die Nummer zwei aus dem Hohle Fels oder die ältesten Musikinstrumente der Welt.

Aber wie es sich für eine moderne Ausstellung gehört: Die Besucher müssen nicht endlos an Vitrinen vorbeidefilieren. Auch Action ist geboten. Animationen und Inszenierungen zu den Themen Jagen und Sammeln, Wohnen, Feuer, Kleidung und Ernährung bieten Einblicke in die Überlebensstrategien und die Kultur der eiszeitlichen Bevölkerung. Ein Forschungsbereich lässt die Besucher hautnah erleben, wie Archäologen heute systematisch einen Höhlenfundplatz untersuchen.

Und es ist dafür gesorgt, dass es Kindern in der Ausstellung nicht langweilig wird: Sie können an den Wochenenden mit „echten Steinzeitmenschen” reden, die sich in Fellmontur unters Publikum mischen und aus ihrem Leben erzählen. In speziellen Programmen üben die jungen Besucher mit selbst gebauten Speerschleudern das Werfen und fertigen Höhlenmalereien an.

Ausstellungsort: Kunstgebäude Stuttgart am Schlossplatz 70173 Stuttgart

Kontakt: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg Außenstelle Konstanz Benediktinerplatz 5 78467 Konstanz Tel.: 07531/9804-0 Fax: 07531/68452 E-Mail: info@konstanz.alm-bw.de www.konstanz.alm-bw.de

Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr

Der reguläre Eintritt für Erwachsene beträgt 10 Euro. Es gibt diverse Ermäßigungen für Familien, Gruppen und so weiter. Näheres dazu und zu weiteren Veranstaltungen zum Thema Eiszeit, finden Sie im Internet unter: www.eiszeit-2009.de

LESEN

Zwar schon vor acht Jahren erschienen und daher ohne die seitdem gemachten Funde, aber immer noch sehr empfehlenswert wegen seiner guten Texte und Bilder:

Hansjürgen Müller-Beck, Nicholas J. Conard, Wolfgang Schürle (Hrsg.) EISZEITKUNST IM SÜDDEUTSCH-SCHWEIZERISCHEN JURA Anfänge der Kunst Theiss, Stuttgart 2006 € 14,90

Das reich bebilderte Begleitbuch zur aktuellen Großen Landesausstellung 2009 in Stuttgart (siehe „EVENT”):

EISZEIT Kunst und Kultur Thorbecke, Ostfildern 2009, € 24,90

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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