Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Der Geier ist der Boss

Allgemein

Der Geier ist der Boss
Auf dem Göbekli Tepe im Südosten Anatoliens offenbaren frische Funde eine ganz neue Gedankenwelt – und die bisher älteste menschliche Darstellung des Steinzeit-Tempels.

„Da muss man erst dreimal Luft holen, bevor man weiterdenkt“, analysiert Klaus Schmidt seine Situation in der hügeligen Einöde Südostanatoliens. Der Prähistoriker des Deutschen Archäologischen Instituts hat in seiner jüngsten Grabungskampagne auf dem Göbekli Tepe erneut eine Einmaligkeit aufgedeckt. Da das seit nunmehr zehn Jahren hier im ältesten Tempel der Welt regelmäßig passiert, mag man das Wort Sensation kaum mehr in den Mund nehmen.

Der atemberaubende Fund der Herbstkampagne 2006 lieferte die erste Menschendarstellung in den steinernen Reliefs der Tempel-Stelen – kopflos, aber mit einem Phallus. Die anatolischen Steinzeitler haben ihr künstlerisches Werk mit einem 70 Zentimeter großen, vollplastisch dargestellten Raubtier ergänzt, das sie an einem der Kalksteinpfeiler kopfüber hinabpirschen ließen. Ein majestätischer Geier und ein riesiger Skorpion erweiterten den sowieso schon gut bestückten neolithischen Reliefzoo. „Das ist alles viel zu neu und viel zu komplex für Schnellschüsse bei der Interpretation“, übt sich Schmidt notgedrungen in Bescheidenheit. Und: Die neuen Funde sind mit nichts aus der Zeit zu vergleichen.

Vor rund 11 500 Jahren, also hart an der Grenze zur Altsteinzeit, streiften Jäger und Sammler-Gruppen durch die anatolischen Steppen, lebten von Beeren und Bären und kannten weder feste Häuser noch tönerne Töpfe. Aber für ihre Götter und das Jenseits bauten sie auf dem Göbekli Tepe, einem Bergsporn in der kargen Gebirgswelt Kurdistans, einen Tempel der Extraklasse. Die Räume haben einen Durchmesser von bis zu 20 Metern. Die Pfeiler, am Stück aus dem Kalkstein gepickelt, ragen 3, teilweise sogar 5 Meter in die Höhe und wiegen bis zu 50 Tonnen. Sie stellen mit ihrer T-Form und angewinkelten Armen an den Seitenflächen stilisierte Menschenfiguren dar und sind mit naturalistischen Reliefs zahlreicher Tiere geschmückt: Leopard, Fuchs, Keiler, Schlange, Wildesel, Ente, Rind, Insekt, Gazelle, Kranich, Tausendfüßer.

Derlei geistige und körperliche Kraftakte hatte die Wissenschaft den „tumben“ Frühsteinzeitlern bislang nicht zugetraut – Großarchitektur und Kunst lange vor der Sesshaftigkeit und 7000 Jahre vor den Pyramiden.

Anzeige

Wer waren diese Leute und was trieb sie an? Klaus Schmidt kann auch nach zehn Jahren Arbeit in Anatolien keine endgültige Antwort geben. Sein Dilemma: Die Grabung ist mit nichts vergleichbar. Trotz intensiver Suche haben die Archäologen noch kein zweites Göbekli Tepe entdeckt. Jeder Fund muss aus sich selbst heraus und den anderen Befunden erklärt werden. Eine für Archäologen reizvolle, aber auch riskante Situation.

Mit jeder Kampagne tauchen neue Fragen auf. Warum wurde die Kultanlage auf dem Berg nach rund 2000 Jahren Nutzung abrupt aufgegeben? Und noch rätselhafter: Warum wurde der Tempel sorgsam zugeschüttet, quasi begraben? Als Grund mutmaßt der Vorgeschichtler neue religiöse Vorstellungen einer inzwischen sesshaft gewordenen Gesellschaft, die an den Flüssen siedelte und Ackerbau und Viehzucht betrieb.

Und die Piktogramme, die neben den Reliefs auf den Tempelstelen auftauchen? Den Begriff Schrift will Schmidt für die abstrakten (Balken, Sichel, Buchstabe H, Kreis) und kleinfigürlichen (Schlange, Fuchs, Schaf) Zeichen nicht benutzen. Aber „neolithische Hieroglyphen“ nennt er sie schon, denn „hier wollten Menschen anderen Menschen dauerhaft etwas mitteilen“ (bild der wissenschaft 4/2005, „Die ersten Hieroglyphen“).

Für einen „reichen und komplexen Symbolschatz, mit dem etwas mitgeteilt und verstanden werden konnte“, so Schmidt, sprechen nun auch die neuesten Funde. Das vollplastische und mit seinen gefletschten Zähnen sehr naturalistische Raubtier an der Brustseite des Pfeilers wurde so aufwendig und sorgfältig mit Steinwerkzeug aus dem Monolith skulptiert, dass ihm eine besondere Bedeutung zukommen muss. Auch der schroffe Gegensatz zwischen dem realistisch-runden Tier und dem stilisiert-kubischen Pfeiler muss eine symbolische Bedeutung haben. Die Darstellung ist auch für heutige Betrachter ungewohnt – warum läuft das Tier nach unten, wozu dieser kunsthandwerkliche Aufwand?

Das Unikat beantwortet Klaus Schmidt immerhin eine andere Frage: Woher stammen die im Füllschutt verborgenen Tierskulpturen, und warum weisen mindestens fünf Pfeiler an der Frontseite heftige Bruchkanten auf? Offenbar trugen etliche T-Stelen solche Tierplastiken an sich, die irgendwann gewaltsam weggeschlagen wurden – „das mutet bilderstürmerisch an wie zur Reformationszeit hierzulande“, meint Schmidt.

Eine abermals andere Symbolwelt offenbart der Pfeiler 43 mit seinem überbordenden Bildinventar: An der durch eine neolithische Steinbank begrenzten unteren Kante taucht der älteste Mensch auf dem Göbekli Tepe auf: nackt, kopflos, mit einem Arm und Geschlecht fristet er neben den anderen Akteuren der Szenerie ein untergeordnetes Dasein. Darstellungen kopfloser Menschen mit einem Geier über sich erscheinen erst 2000 Jahre später wieder auf den Wandgemälden der steinzeitlichen Großsiedlung Catal Hüyük. Neben dem Männlein reckt ein noch nicht definierter, eventuell hühnerartiger Vogel seinen Hals, links verschwinden ein Fuchs und eine Schlange im Gemäuer. Darüber fläzt sich ein riesiger Skorpion, er ist der Erste auf dem Göbekli.

Richtig spannend wird die Bildgeschichte auf dem Pfeilerkopf: Neben Ibis, Schlange und zwei H-Zeichen hockt ein wohl als Küken zu deutender Vogel. Darüber füllt, ebenfalls erstmalig in der Göbekli-Ikonographie, ein geflammtes und gebündeltes Motiv die Fläche. „Was das sein soll, weiß ich noch nicht“, muss Schmidt passen. Darüber nehmen drei Taschen oder Henkeleimer die ganze Breite des Pfeilerkopfes ein. An den Griffen betonen ein Frosch, ein Raubtier und ein Vogel die Individualität des jeweiligen Behältnisses – wenn es denn welche sind. Klaus Schmidt erinnern sie eher an die Gau-Standarten auf ganz frühen ägyptischen Darstellungen 6000 Jahre später. Altorientalische Mischwesen tragen allerdings ähnliche Täschchen.

Der Star des Ensembles aber ist eindeutig ein großer – vielleicht sitzender – Geier mit gespreizten Flügeln. Dessen Stellung erinnert Schmidt an eine Geste, „die wir aus altorientalischen Herrscherbildern kennen“. Auch das wäre rund sechs Jahrtausende später. Der Geier vom Göbekli ist nicht nur ein Geier – er ist so dominierend und in Aktion, dass er eindeutig zur Hauptperson des Bildes wird. Er hat es dem Ausgräber angetan: „Das ist eindeutig der Boss. Die anderen Individuen sagen auch was aus, aber er hat das Sagen.“ Nicht nur der Ausgräber wüsste gar zu gern: Was sagt er uns? ■

Michael Zick

Ohne Titel

Die neuesten Funde auf dem Göbekli Tepe sind als lasergescannte Repliken in der Ausstellung DIE ÄLTESTEN MONUMENTE DER MENSCHHEIT in Karlsruhe zu bewundern. Auch etliche Originale aus früheren Grabungen und anderen archäologischen Stätten werden ausgestellt. Die exquisite und umfassende Steinzeit-Schau startet am 20. Januar 2007 im Badischen Landesmuseum im Karlsruher Schloss und ist bis 17. Juni geöffnet.

Eintritt: € 8,– (ermäßigt € 6,–)

Telefon: 0721|926 2828

E-Mail: info@landesmuseum.de

Internet: www.monumente2007.de

COMMUNITY LESEN

Klaus Schmidt

SIE BAUTEN DIE ERSTEN TEMPEL

Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger

C.H. Beck München 2006, € 24,90

ISBN 3-406-53500-0

DIE ÄLTESTEN MONUMENTE DER MENSCHHEIT

Theiss, Stuttgart 2007

Das Begleitbuch zur Ausstellung –

als broschierte Museumsausgabe € 24,90, als Hardcoverausgabe € 29,90

ISBN 3-806-22072-7

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Aus|läu|fer  〈m. 3〉 1 letzter, flacher od. schmaler werdender Berg eines Gebirgsmassivs, Vorberg 2 〈Bot.〉 Seitentrieb, Spross; … mehr

Blut|ge|rin|nung  〈f. 20; unz.; Med.〉 Erstarren des Blutes innerhalb eines Blutgefäßes

Sei|den|gras  〈n. 12u; unz.; Bot.〉 dem Pampasgras ähnl. Gras wärmerer Zonen: Erianthus ● Japanisches ~ hohes Gras mit z. T. gebänderten Blättern: Miscanthus sinensis … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige