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Fromme sind nicht besser

Allgemein

Fromme sind nicht besser
Wer einer Religion angehört, hofft meist, sich moralisch von der grauen Masse der Nichtgläubigen abzuheben. Mit Recht?

Es gibt keine einzige Kultur, in der nicht irgendeine Form von Gottesdienst verrichtet wird. Und bei allen vordergründigen Differenzen und Eigentümlichkeiten weisen die verschiedenen Religionsgemeinschaften doch einige wiederkehrende Muster auf. Sie verschreiben rituelle Praktiken, die intensive Gemeinschaftserlebnisse ermöglichen, und sie geben Anleitungen zur Kommunikation mit einem überirdischen Schöpfergott. Vor allen Dingen aber weisen sie ihren Schäfchen den Weg zu einer moralischen Lebensführung – durch Gebote und Verbote, Tugenden und die Bereitstellung einer übernatürlichen Vaterfigur, die jegliche Verfehlung observiert und bis über den Tod hinaus ahndet.

Der Biophilosoph Daniel Dennett von der Tufts University in Massachusetts sieht in diesem Aspekt sogar das A und O des Gottesglaubens. „Die tief verwurzelte Achtung, die den verschiedensten Arten von Religion entgegengebracht wird, basiert offenbar auf der Vorstellung, dass jene, die religiös sind, gute Absichten haben, versuchen, ein moralisch gutes Leben zu führen, den ernsthaften Wunsch hegen, nichts Böses zu tun und mögliche Missetaten wiedergutzumachen.“ Damit ist oft die Überzeugung verbunden, die Menschen seien von Natur aus böse und verdorben und darauf bedacht, sich gegenseitig zu schaden – sofern sie nicht durch eine religiöse „Zwangsjacke“ daran gehindert würden.

In der Tat haben die meisten Religionen barmherzige Samariter wie Mutter Teresa sowie vielfältige karitative Hilfswerke vorzuweisen. Aber sie haben stets ein Janusgesicht: eine lange Kette religiöser Kriege, im Namen Gottes begangener Grausamkeiten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Um die moralische Überlegenheit der Gläubigen auf die Probe zu stellen, testeten Psychologen und Soziologen, ob Fromme sich in alltäglichen Lebenssituationen anständiger, ehrlicher und hilfsbereiter verhalten als der Rest der Welt. Aktuelle Untersuchungen bestätigen auch mit neuen Fragestellungen, was Forscher seit mehr als 75 Jahren immer wieder herausgefunden haben: Religiöse Menschen haben die Rechtschaffenheit nicht für sich gepachtet.

Ein zentraler Aspekt unseres sittlichen Empfindens besteht darin, moralische Gefühle wie Schuld, Scham, Dankbarkeit oder Vergebung zu durchleben und nach ihnen zu handeln. Die Psychologin June Price Tangney von der George Mason University in Virginia hat in den letzten Jahren mehrere Tausend Personen auf ihr moral-emotionales Profil durchleuchtet. Mit dem Ergebnis: „Es war nicht der geringste Einfluss der religiösen Orientierung auf die Häufigkeit und Intensität der mit Moral verbundenen Emotionen nachzuweisen.“ Den Versuchspersonen wurden zahllose moralische Dilemmas vorgelegt – knifflige Konfliktsituationen, für die es keine Hauruck-Lösungen gab, und die sehr differenzierte moralische Erwägungen forderten. Resultat: Zwischen dem Grad der Religiosität und den gewählten Problemlösungen bestand kein messbarer Zusammenhang.

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Seit einigen Jahren nehmen Wirtschaftswissenschaftler die soziale Einstellung ihrer Probanden mit „ökonomischen Spielen“ aufs Korn. Beim Ultimatum-Spiel zum Beispiel erhält Spieler A 100 Euro, die er mit dem ihn unbekannten Spieler B teilen muss. Wenn Spieler B das Angebot ablehnt, gehen beide leer aus, wenn er akzeptiert, darf jeder seinen Teil behalten. Ähnlich das Diktator-Spiel: Hier kann Spieler A einen Geldbetrag willkürlich aufteilen, Spieler B jedoch kein Veto einlegen.

Das Ergebnis ist, dass sich die meisten Spieler uneigennütziger verhalten, als die klassische Ökonomie vorhergesagt hätte: Geber rücken von sich aus einen größeren Teil der Beute heraus, als erforderlich wäre. Nehmer schlagen als „ unfair“ erachtete Angebote unter Verzicht auf ihren eigenen Anteil in den Wind. Der Wirtschaftswissenschaftler Jonathan Tan von der Europäischen Hochschule in Frankfurt an der Oder besetzte kürzlich beide Spiele mit mehr oder weniger religiösen Personen. Ernüchterndes Fazit: Weder als Geber noch als Nehmer legten gläubige Spieler eine sozialere Einstellung an den Tag.

Das passt zu den Tests, die die Psychologen Hugh Hartshorne und Mark May der Yale University bereits 1928 an 11 000 Kindern im Alter zwischen 8 und 16 Jahren unternahmen. Die Kinder konnten scheinbar unbemerkt die Antworten eines anderen abschreiben oder bei Spielen oder häuslichen Pflichten schummeln. In der überwältigenden Mehrheit der Studien betrieben die religiösen Kinder genauso oft ein falsches Spiel wie ihre ungläubigen Kameraden. Die einzige Ausnahme lieferte eine Studie an religiösen Sonntagsschülern: Sie mogelten etwas mehr als andere.

Im Jahr 1960 gaben 92 Prozent der religiös orientierten Studenten bei einer Umfrage in den Vereinigten Staaten an, es sei moralisch falsch, zu betrügen. Aber 87 Prozent unterstrichen die Aussage: „Wenn alle anderen betrügen, warum nicht ich auch.“ Und bei einer Umfrage unter 2000 US-Jugendlichen machten 1993 selbst 70 Prozent der strenggläubigen Mormonen kein Geheimnis daraus, gelegentlich zu schummeln. Dieser Trend wird durch weitere Studien bestätigt, rekapituliert der Psychologe Bernard Spilka von der University of Denver im aktuellen Handbuch der Religionspsychologie: „Obwohl religiöse Menschen dazu neigen, sich für ehrlicher zu halten als nichtreligiöse, sprechen Befunde dafür, dass es keine oder gar eine negative Beziehung zwischen Religiosität und Ehrlichkeit gibt.“

Ähnlich stehe es um die Tugend der Barmherzigkeit, die in allen Religionen groß geschrieben wird. In den ersten Befragungen schrieben gläubige Probanden sich selbst eine etwas größere Bereitschaft zu, Menschen in Notlagen zu helfen. Aber als Wissenschaftler testeten, ob diesen Worten Taten folgen, „zeigte sich deutlich, dass religiöse Menschen sich nicht mehr für Notleidende einsetzen als andere“. Die Forscher „verloren“ adressierte Briefe und hakten nach, wer diese Fundstücke weiterleitete, sie gaben Testpersonen Gelegenheit, einem geistig zurückgebliebenen Kind oder einer verarmten Familie Beistand zu leisten, oder sie täuschten eine Autopanne vor und überprüften, wer dem Pechvogel uneigennützig aus der Patsche half. „Bei keinem Test beeindruckten die frommen Probanden durch ein Samaritertum“, stellte Spilka fest.

Das gilt auch für die 40 Schüler eines Priesterseminars, die der US-Psychologe Daniel Batson von der Princeton University in den Siebzigerjahren unter die Lupe nahm. Sie erhielten den Auftrag, in einem Nebenraum einen Vortrag über die Tugend des barmherzigen Samariters zu halten. Auf dem Weg zum Vortragsort begegneten sie einem zusammengekauerten Mann, dessen Keuchen und Stöhnen einen medizinischen Notfall ahnen ließen. Nur 16 der 40 angehenden Geistlichen, die gerade über das Prinzip der Barmherzigkeit sinnieren mussten, boten irgendeine Form der Unterstützung an. Der Grad ihrer Frömmigkeit war dabei völlig unerheblich. Zum gleichen Ergebnis kamen die US-Soziologen Samuel und Pearl Oliner 1988 in einer Untersuchung über die Motive jener Bürger, die während der Nazizeit Juden gerettet hatten. „Die Retter unterschieden sich von den Inaktiven weder durch ihre religiöse Identifizierung, durch ihre religiöse Herkunft noch durch die Intensität ihres Glaubens.“

Gläubige gelten trotzdem bei vielen ihrer Mitmenschen als „ Musterbürger“, weil ihre Gottesfurcht sie angeblich davon abhält, Verbrechen zu begehen. Laut Spilka bescheinigen statistische Analysen ihnen tatsächlich einen sehr schwachen Trend, seltener kriminell zu werden – allerdings nicht in allen Studien. Auf der anderen Seite ergaben mehrere Erhebungen, dass die überwältigende Mehrheit aller US-amerikanischen Gefängnisinsassen eine starke Nähe zu Gott für sich reklamiert. Nicht einmal ein Prozent der Häftlinge outet sich als Atheisten. Das ist aber vielleicht nur eine Folge des Gefängnislebens oder eine Strategie, die darauf abzielt, eine vorzeitige Entlassung zu erschwindeln.

Unleugbar ist dagegen die Affinität von religiösen Menschen zu extremistischer Gewalt. Zwar wurden in den Neunzigerjahren „nur“ 25 Prozent der internationalen terroristischen Akte von religiös motivierten Tätern verübt, bescheinigt der US-Terrorismusexperte Bruce Hoffman. Aber 60 Prozent aller Toten gingen auf das Konto dieser Tätergruppe. Die schlimmsten Anschläge, die über acht Tote forderten, wurden sogar allesamt von religiös motivierten Tätern verübt. „Während weltlich motivierte Terroristen selten die Auslöschung großer Menschengruppen anstreben, weil solche Exzesse ihren Zielen schaden, legen es die Religiösen oft gerade auf solche Gemetzel an“, sagt Hoffman.

Auch der Zusammenhang zwischen Religiosität und Vorurteil ist deutlich messbar: Umso stärker die religiöse Orientierung ist, desto voreingenommener sind Menschen gegen Homosexuelle, Farbige – und gegen religiöse Minderheiten. Psychologe Spilka fasst zusammen: „Es hat etwas Bestürzendes, dass sich ausgerechnet jene, die die religiöse Lehre besonders ernst nehmen, als die Intolerantesten erweisen.“ Damit zwingt sich eine Schlussfolgerung auf: Religion besitzt kein Monopol auf Moral.

Dabei hatten Evolutionspsychologen wie Richard Alexander von der University of Michigan angenommen, die natürliche Auslese habe die Religion in unseren Köpfen installiert, um dem nackten Daseinskampf eine moralische Dimension einzuhauchen. Für den Harvard-Psychologen Steven Pinker war diese Deutung schon immer schwer nachvollziehbar. Warum sollte die Evolution den Umweg über ein aufwendiges und kostspieliges religiöses Glaubenssystem wählen? „Warum impft sie den Menschen nicht einfach intensive soziale Gefühle wie Vertrauen, Loyalität, Güte oder den Sinn für Fairness ein?“ ■

Rolf Degen ist Diplom-Psychologe und freier Wissenschaftsjournalist in Bonn. In bdw 2/2006 berichtete er über den sozialen und evolutionären Nutzen des Schamsgefühls.

Rolf Degen

Ohne Titel

• Frömmigkeit erzeugt keine besseren Menschen.

• Religiöse Menschen lügen und betrügen nicht seltener als Atheisten, sie sind auch keineswegs barmherziger oder sozialer.

COMMUNITY Fernsehen

Das Wissensmagazin „nano“ hat in Zusammenarbeit mit der Redaktion von bild der wissenschaft einen Bericht über Evolution und Religiosität, Glaube und Moral produziert. Erstausstrahlung ist in 3Sat am Donnerstag, den 25. Januar 2007, um 18.30 Uhr. Wiederholungstermine und mehr bei: www.3sat.de/nano

Lesen

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Richard Dawkins

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Bantam, London 2006, € 17,89

Rüdiger Vaas

DIE EVOLUTION DER RELIGIOSITÄT

Universitas Bd. 61, Nr. 11 (2006), S. 1116–1137

Differenzierte und interdisziplinäre Texte zum komplexen Verhältnis von Evolutionstheorie und Theologie:

Ulrich Lüke

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Ulrich Lüke, Jürgen Schnakenberg, Georg Souvignier (Hrsg.):

Darwin und Gott

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004 € 39,90

Sigurd M. Daecke (Hrsg.)

Gottesglaube – ein Selektionsvorteil?

Chr. Kaiser, Gütersloh 2000 (vergriffen)

Neurotheologie – Überblick und Kritik:

Rüdiger Vaas

GOTT UND GEHIRN

In: Peter R. Sahm u.a. (Hrsg.):

DER MENSCH IM KOSMOS

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Wissenschaft, Philosophie, Religion und Menschenbild:

Michael Schmidt-Salomon:

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Evolution, Religion und Moral:

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DIE ZEHN GEBOTE IM 21. JAHRHUNDERT

Wagenbach, Berlin 2005 € 16,50

Internet

Homepage der Giordano-Bruno-Stiftung zum Evolutionären Humanismus:

www.giordano-bruno-stiftung.de

Evangelisches Bildungswerk Hospitalhof Stuttgart mit zahlreichen Vorträgen zu Naturwissenschaft und Religion:

www.hospitalhof.de

Religiosität und Demographie:

web.uni-marburg.de/ religionswissenschaft/ journal/mjr/art_blume_ germ_2006.html

Homepage von Richard Dawkins und seiner Stiftung:

richarddawkins.net /

Homepage von William Irons:

www.wcas.northwestern.edu/ anthropology/faculty/irons.html

Homepage von Richard Sosis:

www.anth.uconn.edu/ faculty/sosis/

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