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Alles nur geklaut

Erde|Umwelt

Alles nur geklaut
Diebstahl gehört zum Lebensstil einiger Meeresschnecken. Sie nehmen Tieren und Pflanzen die kostbarsten Schätze ab. Jetzt haben Forscher die Geheimnisse ihres größten Coups ergründet.

Für den jungen Riffbarsch sah die bunte Schnecke sehr appetitlich aus. Er umrundete sie ein paar Mal und biss ihr dann beherzt in die Seite. Das hätte er besser nicht getan: Ein widerwärtiger Geschmack breitete sich in seinem Maul aus, die Lippen brannten wie Feuer. Rasch spuckte der Fisch das kleine Stück Schneckenfleisch wieder aus und suchte das Weite.

Besiegt hatte ihn eine Meeresnacktschnecke, genauer: eine Sternschnecke. Was so übel schmeckte, war Gift. Das ist in einem Meeresriff nichts Ungewöhnliches – wer in diesem dicht bewachsenen Biotop einen der knappen Plätze behalten möchte, hat oft gar keine andere Wahl, als seinen Nachbarn zu vergiften. Aber die Methode, mit der die Schnecke zu ihren gefährlichen Chemikalien gekommen war, ist ungewöhnlich: Sie hatte das Gift geklaut.

Mit dieser Art der Wirkstoffbeschaffung steht die Sternschnecke nicht allein: Sie ist Mitglied einer Familie von Meisterdieben mit etwa 6000 Arten, den Hinterkiemern – so genannt, weil sie ihre meist knallbunten Atemorgane am Hinterteil tragen. Das ist sogar in einem Korallenriff mit seinem großen Formenreichtum exzentrisch.

Und die Meeresschnecken belassen es nicht beim Chemikalienraub. Sie nehmen sich von anderen Meeresbewohnern alles, was nicht niet- und nagelfest und für sie von Nutzen ist: von Bio-Bomben bis hin zu kompletten Stoffwechselfabriken, die es ihnen ermöglichen, Solarenergie zu nutzen. Dabei gehen sie so raffiniert vor, dass Forscher erst vor einigen Monaten ihre wichtigsten Tricks entschlüsselt haben.

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Um Gift dreht sich alles im Leben von Sternschnecken. Das beginnt bei ihrer Beute, den Meeresschwämmen. Da diese Tiere weder weglaufen noch einen Angreifer beißen oder schlagen können, brauchen sie andere Methoden zur Selbstverteidigung: Sie sind so giftig, dass sie fast keine Fressfeinde haben – außer den Meeresschnecken. Die vertragen die aggressiven Chemikalien nicht nur, sondern sammeln sie und machen sie manchmal sogar noch giftiger. „Durch kleine chemische Modifikationen, zum Beispiel die Umwandlung einer Acetyl-Gruppe in eine OH-Gruppe, können sie die Giftwirkung auf mehr als das Zehnfache steigern“, sagt Heike Wägele, Zoologin an der Universität Bonn und Expertin für die Evolution der Opisthobranchia, wie die Hinterkiemer von den Forschern genannt werden. Die Sternschnecken lagern die Gifte in Vakuolen, großen Zellsäcken im Saum ihres „Mantels“, dem umhangartigen Oberkörper. Kräftige Muskeln umhüllen diese Chemikalienlager, um den Inhalt bei einem Angriff dem Gegner ins Maul zu schießen.

Wie die Schnecken das Hantieren mit den Giften überleben, ist den Forscher bislang ein Rätsel. Denn einige der toxischen Substanzen sind so tödlich, dass man die Weichtiere nicht mit Fischen zusammen in einem Aquarium halten kann. „Möglicherweise können die Schnecken die Substanzen entgiften, in dieser harmlosen Form durch ihren Körper transportieren und sie dann in den Vakuolen wieder scharf machen“, vermutet Wägele. „Das ist eine spannende Frage, die aber bislang noch keiner beantworten kann.“

Allerdings sind nicht alle Hinterkiemer bei ihrer Verteidigung auf Diebstahl angewiesen. Zwei besonders aggressive Stoffe können manche Schnecken selbst herstellen:

• Die Phylliden, eine Sternschneckengruppe, produzieren die mit Blausäure verwandten Alkylisocyanide, sehr toxische und übel stinkende Verbindungen.

• Die Flankenkiemer haben körpereigene Fabriken für Schwefelsäure, die sie Angreifern über eine große Drüse im Maul und über kleine Drüsen in der Haut entgegen schießen können.

Anders die Nesseldiebe, die Aeolidier: Sie brauchen ihre Beutetiere als Giftquelle. Diese Meeresnacktschnecken fallen durch ihre zahlreichen fächerförmigen oder fadenartigen Körperanhänge auf. Ihre Nahrung besteht aus „explosiven“ Tieren: Nesseln tragenden Korallen und See-Anemonen. Nesseln sind kleine Bio-Bomben voller hochwirksamer Gifte. Wer häufig im Meer schwimmt, kommt meist irgendwann in Kontakt mit einer Feuerqualle. Und der kann unangenehm sein. Bei den Nordsee-Quallenarten kommt es „nur“ zu Verbrennungen, aber bei tropischen Spezies wie der australischen „Sea Wasp“ kann ein tödlicher Herzstillstand die Folge sein.

Eine Nesselkapsel ähnelt einer Mine. Unter einem Deckel befindet sich die tödliche Ladung: der Nesselschlauch voller Gift und mit winzigen Stiletten und Widerhaken versehen. Ganz unten sitzt der Sprengsatz, ein biochemisches Konstrukt, das durch Änderung der Ionenverhältnisse in Bruchteilen einer Sekunde bis zu 140 Bar Druck entwickeln kann. Die Mine geht hoch, wenn eine Sinnes-Geißel an der Außenseite reagiert. Berührt ein Tier diesen Auslöser, sprengt sich der Zell-Deckel ab, und der Nesselhaken schießt heraus. Seine Stilette schneiden sich durch die Haut des Opfers, und der giftige Inhalt entlädt sich im Körperinneren.

Die Nesseldiebe sind nicht nur in der Lage, die Besitzer dieser hocheffektiven Verteidigungswaffen zu überrumpeln und aufzufressen, sie können sogar deren Bio-Bomben unbeschädigt übernehmen, sammeln und daraus eigene Nesselsäcke produzieren, die sie in die Spitzen ihrer vielen Fortsätze einbauen – als schmerzhafte Überraschung für einen Angreifer.

Die Kunst, komplette Zellen anderer Lebewesen zu übernehmen und in den eigenen Körper einzubauen, haben viele Hinterkiemer zu einem ganz anderen Zweck weiter entwickelt: zur Energiegewinnung. Ingo Burghardt, Zoologe an der Universität Bochum, hat dieses Phänomen zusammen mit Heike Wägele an den Phyllodesmium-Schnecken untersucht. Die Weichtiere fressen Weichkorallen, auf denen sie hervorragend getarnt leben, denn sie sehen selbst aus wie Korallen. Auf ihren Beutezügen stehlen sie ihren Opfern die Symbionten: Algen, die mit den Korallen zum beiderseitigen Vorteil zusammenleben. Die Tiere geben den Pflanzen ein Heim, in dem diese Photosynthese betreiben und ihren Wirt so mit energiereichen Kohlenhydraten versorgen können.

Die Schnecken integrieren die gestohlenen Algen in ihre Darmwand. Bei diesen Hinterkiemern ist das ein lichtdurchfluteter Ort, denn ihr Vertrauungstrakt ist ein riesiges Konstrukt, das fast das ganze Tier ausfüllt und selbst in den Fortsätzen stets dicht unter der Außenhaut sitzt. Für die Schnecken ist das Zusammenleben mit den Pflanzenzellen von großem Vorteil: Sie können lange Zeit ohne Nahrungsaufnahme überleben, da ihre Symbionten sie ernähren. Bis zu 260 Tage Hungern haben Burghardts Phyllodesmium-Schnecken überlebt, also ungefähr ein normales Schneckenleben lang. Melibe-Arten überdauerten sogar ein ganzes nahrungsloses Jahr in Wägeles Labor. „Die hungernden Tiere waren zwar nicht so groß und dick wie ihre fressenden Artgenossen, aber es ging ihnen so gut, dass sie regelmäßig Eier legten“, berichtet Heike Wägele.

Die Biologin ist davon überzeugt, dass die Symbiose mit den Algen die stammesgeschichtliche Entwicklung der Schnecken vorangetrieben hat. Wägele hat mithilfe von Gen-Daten die Stammbäume der Weichtiere untersucht und festgestellt, dass die Fähigkeit, Algen aufzunehmen, so etwas wie ein evolutionärer „ Kick“ gewesen sein muss. Sobald eine Schneckenart das konnte, veränderte sich stets ihr entwicklungsgeschichtliches Tempo: Sie eroberte dank ihrer Symbionten neue Nischen und unterteilte sich schneller in verschiedene Arten, als es ihre Vorfahren konnten. „ Das hatte eventuell ganz praktische Gründe“, sagt Wägele. „Eine Schnecke mit Symbionten kann relativ gefahrlos ihre Koralle verlassen und sich auf die Suche nach einer neuen Heimat machen. Sie hat ja ihr Pausenbrot immer dabei.“

Viel radikaler haben Meeresnacktschnecken wie Elysia das Energieproblem gelöst – mit einem revolutionären und im Tierreich einzigartigen Trick: Sie haben sich zu „tierischen Pflanzen“ entwickelt. Diese Schnecken sind eigentlich Pflanzenfresser. Sie haben nur einen einzigen Zahn im Maul, mit dem sie Algen anritzen und dann aussaugen können. „Ihr vorderer Verdauungstrakt ist nichts weiter als eine große Saugpumpe“, erläutert Wägele.

Die Schnecken verdauen aber nicht den gesamten Pflanzeninhalt. Einen Bestandteil schützen sie vor den Darmsekreten und verwenden ihn für eigene Zwecke. Elysia und ihre Verwandten stehlen den Pflanzen dabei ihre ureigenste Entwicklung, ihren evolutionären Vorteil – die Photosynthese-Maschinen, die Chloroplasten. Ähnlich wie bei den Algendieben werden diese Zellorganellen in den weit verzweigten Darmwänden unter der Haut verteilt, um ihren Wirt mit Nahrung zu versorgen.

Diese Symbiose ist für die Schnecken überlebenswichtig, wie die Biochemikerin Mary Rumpho von der University of Maine in Orono herausgefunden hat. Denn die Tiere werden ohne Chloroplasten geboren und müssen sich ihre Zell-Organellen daher selbst besorgen. „Haben sie dazu keine Gelegenheit, überleben sie schlichtweg nicht“, sagte Rumpho dem Fachblatt Science.

Gelingt jedoch die Vereinigung von Schnecke und Chloroplasten, geschieht etwas für Biologen Unerhörtes: Die pflanzlichen Zellorganellen überleben nicht nur in den Tieren, sie vermehren sich dort sogar. Das sollte eigentlich unmöglich sein. Chloroplasten waren vor Urzeiten selbstständige Bakterien, die Photosynthese betreiben konnten. Vor über einer Milliarde Jahren vereinigten sie sich dann mit anderen Einzellern, die diese Form der Energiegewinnung nicht beherrschten. Zusammen wurden sie eine der erfolgreichsten Lebensformen auf der Erde. Sie waren die Vorfahren der heutigen Pflanzen. Im Laufe der Evolution arrangierten sich beide Partner: Die Chloroplasten überließen ihrer Wirtszelle sogar große Teile ihrer Erbinformation. Die Folge: Moderne Zellorganellen sind ohne ihren Wirt nicht mehr teilungsfähig. Aber wie pflanzen sie sich dann in den Schnecken fort?

Rumpho und ihr Team fanden vor Kurzem des Rätsels Lösung. Wie bei den Meeresschnecken nicht anders zu erwarten, steckt ein Eigentumsdelikt dahinter: Die Erbinformation von Elysia enthält Pflanzen-Gene. Wahrscheinlich haben die Schnecken eine Form natürlicher Gentechnik für ihren Coup benutzt und Gene aus der Erbinformation der Algen herausgeschnitten, um sie in die eigene einzubauen. Nun können sie ihren Untermietern ein Heim bieten, dass alles hat, was sie brauchen. Rumpho ist überzeugt, einen Meilenstein in der Geschichte des Lebens auf der Erde gefunden zu haben: „Was wir hier sehen, ist nichts weniger als die Evolution der Photosynthese in einem Tier.“ ■

Weltweit hat Fotograf SOLVIN ZANKL nach Meeresschnecken gefahndet und sie vor Ort in einem schwarzen Mini-Aquarium fotografiert.

Thomas Willke

Ohne Titel

Riffe im Meer sind ein Eldorado für Krebsmediziner. Hier leben viele Tiere, die an ihrem Lebensort festgewachsen sind und keinen Schutzpanzer haben – darunter Weichkorallen, Schwämme und Seescheiden. Um sich vor Fressfeinden zu schützen, aber auch, um nicht von ihren Nachbarn überwuchert zu werden, benutzen viele Riffbewohner Gifte. Antibiose nennen Biologen diese aggressive Form der Lebensgemeinschaft, im Gegensatz zur Symbiose, in der Organismen zum Vorteil aller Beteiligten zusammenleben. „ Antibiotika“ heißen dementsprechend die chemischen Waffen der Riffbewohner: Substanzen, die andere Lebensformen am Wachsen hindern oder sie sogar töten.

Genau solche Chemikalien suchen Krebsforscher als Waffen gegen Tumorzellen. Einige Gifte aus dem Riff haben sich bereits in Tests bewährt. Am weitesten fortgeschritten ist die Entwicklung einer Substanz aus der Mittelmeer-Seescheide Ecteinascidia turbinata. Das in diesem Bereich führende Unternehmen, die spanische Firma PhamaMar, will sie unter dem Namen Yondelis auf den Markt bringen. Die klinischen Tests als Chemotherapeutikum gegen Weichteil-Sarkome sind erfolgreich abgeschlossen. Das Zulassungsverfahren bei der europäischen Arzneimittelbehörde läuft noch. Klinisch getestet werden im Augenblick:

· Aplidin aus der Seescheide Aplidium albicans. Es treibt Krebszellen in den zellulären Selbstmord.

· Dolastatin aus der Hinterkiemerschnecke Dolabella auricularia. Es hemmt die Mitose, die Verteilung der Chromosomen bei der Zellteilung.

· Kahalalid, ein Zytostatikum aus der Schnecke Elysia rufescens. Praktisch: Die Schnecke produziert das Gift nicht selbst, sondern stiehlt es der Alge Bryopsis – und die können Biotechniker problemlos in Kultur züchten, um große Mengen des Wirkstoffs zu gewinnen.

Ohne Titel

• Name: Hinterkiemer, alias „Opisthobranchia“

• Besondere Kennzeichen: grelle Farben, bizarre Körperformen

• Vergehen: trickreicher Diebstahl, Erschleichung evolutionärer Vorteile

• Aufenthaltsort: in allen Meeren, von der Antarktis bis zu tropischen Riffen, von der Meeresoberfläche bis in die Tiefsee

• Sexuelle Vorliebe: Zwitter-Sex

• Nächste Verwandte: Lungenschnecken wie die Weinbergschnecke

VORSICHT! Viele Opisthobranchia sind bewaffnet und gefährlich –p für Fische und Seesterne.

Ohne Titel

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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Re|so|nanz  〈f. 20〉 1 〈Phys.〉 Mitschwingen, Mittönen eines Körpers durch auf ihn einwirkende Schwingungen gleicher Wellenlänge (kann beim ungebremsten Anwachsen zur Resonanzkatastrophe führen) 2 〈Chem.〉 das Hin– u. Herschwingen von Elektronen innerhalb von ungesättigten Molekülen; … mehr

Wie|sen|knopf  〈m. 1u; unz.; Bot.〉 auf feuchten Wiesen vorkommendes Rosengewächs: Sanguisorba

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