Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

„Wir sind anfällig für Desaster“

Geschichte|Archäologie Gesellschaft|Psychologie

„Wir sind anfällig für Desaster“
Nicht nur mit der Zukunft kennt Paul Saffo sich aus, sondern auch mit den alten Maya, deren Sprache er beherrscht. Mit bild der wissenschaft sprach er über die Chancen heutiger Gesellschaften.

bild der wissenschaft: Bill Clinton sagte einmal, dass Handy und Internet in diesem Jahrhundert die Verbreitung der Freiheit bestimmen werden. Welchen Einfluss hat eine sich ständig entwickelnde Technologie auf die Globalisierung?

Saffo: Ein schönes Zitat! Wir werden Technologie stets dazu nutzen, uns neu zu erfinden – als Individuen, Gesellschaft und Kultur insgesamt. Das hat auch Auswirkungen auf die Globalisierung. Denken Sie an das Internet, das unser Verhalten total verändert hat. Vor Kurzem war unsere Arbeit noch eng mit unserem Wohnort verbunden. Heute arbeiten viele vom heimischen Computer aus für eine Firma, die mehrere Tausend Kilometer entfernt ist. Allerdings werden die einzelnen Kulturen auch weiterhin zu unterschiedlichen Auffassungen darüber kommen, wie man eine neue Technologie nutzt. Ein Beispiel ist das Handy: In Korea ist das „Texting“ – also das Verschicken von SMS – ziemlich weit verbreitet, während man in den USA das Handy überwiegend zum Telefonieren benutzt. In Israel ist es gesellschaftlich akzeptabel, während eines Abendessens ein Telefonat anzunehmen. In den USA wäre das undenkbar.

bdw: Die heutigen Gesellschaften werden immer komplexer, vor allem in ihrer Infrastruktur, Administration und Technologie. Macht diese Komplexität unsere Gesellschaft anfällig?

Saffo: Technologie ist stets so neu, dass wir ihre Funktionalität kaum begreifen. Viele Leute wissen gar nicht, dass sie über einen Satelliten kommunizieren, wenn sie an einer Tankstelle ihr Benzin mit Kreditkarte zahlen. Sie realisieren das erst, wenn dieser Satellit – wie jüngst geschehen – mal ausfällt und in den gesamten USA keine Transaktion mehr möglich ist. Es geht uns heute wie der Figur Blanche DuBois in dem Vierzigerjahre-Film „A Streetcar Named Desire“: „Ich habe mich immer auf die Hilfsbereitschaft von Fremden verlassen.“ Wir verlassen uns auf Maschinen und Computer, von denen wir nichts wissen, bis sie einmal zusammenbrechen. Das macht Angst!

Anzeige

bdw: Das heißt, dass unsere Gesellschaft für Desaster immer anfälliger wird?

Saffo: Ja, aber das liegt nicht an unserer Technologie, sondern an den Systemen, die wir um sie herum bauen. Wie bei der Verbreitung infektiöser E.coli-Bakterien in Kalifornien letzten Herbst: Das Problem kam zustande, weil man im Gegensatz zu früher, wo jeder Bauer seinen Spinat selbst vertrieb, nun eine Zentrale hat, die alles sammelt und verarbeitet. Diese Zentrale hat die Verunreinigung massenhaft verbreitet. Die Sachdienlichkeit unserer Systeme muss also ständig in Frage gestellt werden, um solche Desaster nach Möglichkeit zu vermeiden.

bdw: Die USA ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 in sämtlichen Bereichen führend. Wie lange wird das so bleiben?

Saffo: Dem möchte ich erst mal widersprechen. Man braucht mindestens zwei Supermächte, um überhaupt eine Supermacht-Hierarchie zu bilden. Die Macht der USA hat sowohl wirtschaftlich als auch kulturell drastisch abgenommen. Die US-Zentralbank Federal Reserve hat nicht mehr den Einfluss auf den globalen Markt wie noch vor zehn Jahren. Gleich geblieben ist einzig unsere militärische Macht. Und es ist wohl kein Zufall, dass das Militär das Lieblingsspielzeug von George Bush ist. Ob sich dieser Trend noch verstärkt, hängt von den Entwicklungen in China ab.

bdw: Hätte denn China das Zeug für eine zweite Supermacht?

Saffo: Ich denke schon. Aber Chinas Erfolg wird davon bestimmt, ob die Regierung die Erwartungen der eigenen Bevölkerung erfüllen kann. Es gibt Anzeichen dafür, dass sie auf dem besten Weg ist, aber dann kommen wieder besorgniserregende Nachrichten über Fabrikbesitzer, die ihren Arbeitern Geld dafür abknöpfen, dass sie sie überhaupt beschäftigen.

bdw: Welche Auswirkungen hat es, wenn China wieder aufsteigt?

Saffo: Das wäre wirklich gut für unsere Welt, denn es schafft Orientierung. Als wir noch zwei Supermächte hatten, war die Welt des Kalten Krieges sehr überschaubar. Ein Land war entweder mit den USA oder mit der Sowjetunion verbündet. Unsere heutige globalisierte Welt ist auf Sinnsuche. Individuen, Gesellschaften oder ganze Kulturen stellen sich die Frage „Wozu gehöre ich eigentlich?“. So hat der Aufstieg des islamischen Fundamentalismus nichts damit zu tun, dass eine Reihe von Leuten plötzlich religiös geworden wäre. Sie sind nicht religiöser als zuvor. Es geht um die Frage der Zugehörigkeit – in der gleichen Weise, wie sich Staaten, die nicht sozialistisch waren, während des Kalten Krieges auf die sozialistische Seite schlugen, und andere, die nicht kapitalistisch waren, auf die kapitalistische Seite.

bdw: Was könnte eine Erholung nach einer großen Weltwirtschaftskrise wie der von 1929 verhindern?

Saffo: Das ist Stoff für Science-Fiction-Autoren. Es geht darum, Fehler von früher zu vermeiden, nicht darum, Kassandra ähnlich zu rufen „Wir sind dem Untergang geweiht!“. Die Lehre aus dem Schwarzen Freitag ist die, dass ein Crash von etwas Unvorhergesehenem ausgelöst werden kann, bei dem alle hinterher sagen: „Wow! Ich hätte nie gedacht, dass das ein Problem wird.“ Wir müssen lernen, uns auch bei Unsicherheit wohl zu fühlen.

bdw: Der Untergang der Maya war eine Folge politischer Machtkämpfe und einer rasant wachsenden Bevölkerung, die nicht mehr versorgt werden konnte. Ist ein ähnliches Szenario für die Zukunft denkbar?

Saffo: Natürlich! Wir könnten theoretisch unsere Zivilisationen auslöschen und sogar die gesamte menschliche Rasse. Das halte ich allerdings für unwahrscheinlich. In der Tat hatten die Maya ein klassisches Umweltproblem und politische Konflikte. Die Parallele zur heutigen Welt ist offensichtlich.

bdw: Hängt das Überleben einer Kultur hauptsächlich davon ab, dass sie wirtschaftlich stabil ist und genug Ressourcen besitzt?

Saffo: Die Wirtschaft spielt in Kulturen immer eine Rolle – und umgekehrt. Das sehen Sie daran, dass es keinen einheitlichen Kapitalismus gibt: In den USA ist es unternehmerischer Kapitalismus, der auf die Märkte setzt und das Individuum mythologisiert. In Europa gibt es einen kulturellen Kapitalismus, bei dem die Kontinuität der Kultur wichtig ist. Im asiatischen Kapitalismus kommt es auf die Zugehörigkeit zu einem großen sozialen Netz an. Unter diesen Formen des Kapitalismus gibt es bereits kleine Streitigkeiten wie zwischen Airbus und Boeing: Sie halten sich gegenseitig vor, dass ihre Gelder aus unlauteren Quellen stammen, nämlich aus Rüstungsverträgen bei Boeing und aus Regierungsdarlehen bei Airbus. Tatsächlich wurden die schlimmsten Konflikte bislang nicht zwischen Anhängern eines komplett anderen „Glaubenssystems“ ausgetragen, sondern immer zwischen Anhängern des gleichen Systems.

bdw: Welche Nationen werden die besten Chancen haben zu überleben?

Saffo: Nationen werden zukünftig irrelevant, stattdessen werden wir einen Aufstieg der Städte oder Stadtstaaten erleben. Es gibt überall Anzeichen dafür, dass die nationale Kontrolle infrage gestellt wird: Der Bürgermeister von Shanghai sagt zur Regierung in Peking, dass sie ihm beim Bau des neuen Flughafens nicht hineinreden soll. Das wäre vor 20 Jahren noch völlig undenkbar gewesen!

bdw: Was wird passieren, wenn wir eines Tages ein großes globales Dorf sind?

Saffo: Oh nein, die Welt wird nie ein globales Dorf werden. Wir streben weiter in Richtung Diversität, die zudem flüchtig ist. In unserem Zeitalter wechseln wir unsere Kultur wie einen Fernsehkanal. Gehen Sie durch ein Wohngebiet in München: Der eine ist Buddhist, der andere Hindu, ein weiterer Katholik. Eine Gesellschaft wurde früher durch den Wohnort vorgegeben, den man sich nicht aussuchte. Alle gingen in die gleiche Kirche, und man traf seine Freunde im Café um die Ecke. Heute hat man seine engsten Freunde vielleicht in Tokio und pflegt die Beziehung durch Chatten.

bdw: Was wird aus nationalen Identitäten?

Saffo: Fragen Sie jemanden in Berlin „Wer bist du?“ und Sie bekommen Statements wie: „Ökonomisch gesehen trage ich Euros in der Tasche, kulturell definiere ich mich über einen europäischen Gesangswettbewerb, die NATO kümmert sich um meine militärischen Angelegenheiten, und ich bin auch noch deutscher Staatsbürger.“ Meine Güte! In Deutschland war Identität früher so wichtig, dass man über Grenzstreitigkeiten mit Belgien einen Krieg geführt hat! Heute ist sie egal.

Das Gespräch führte Désirée Karge/San José ■

Ohne Titel

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

ge|richts|me|di|zi|nisch  〈Adj.; Rechtsw.〉 die Gerichtsmedizin betreffend, von ihr stammend, zu ihr gehörig ● eine ~e Untersuchung anordnen

Gän|se|vo|gel  〈m. 5u; Zool.〉 Angehöriger einer weltweit verbreiteten Vogelordnung, mit den Familien der Siebschnäbler u. der Wehrvögel: Anseres

Zell|kern  〈m. 1; Biol.〉 Kern einer Zelle; Sy Zytoblast … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige