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Titelthema – Dschingis Khan: Karakorum: Die Metropole taucht auf

Allgemein

Titelthema – Dschingis Khan: Karakorum: Die Metropole taucht auf
Europa fühlte sich als Nabel der Welt – doch die mittelalterliche Machtzentrale lag für 150 Jahre in der Mongolei.

Die Nächte sind kurz in Harhorin, zumindest meine: Um ein Uhr endet vorne im Hotel die Disco, zwei Stunden später beginnen Dutzende von Hundehorden ihre lautstarken Territorialkämpfe, kurz vor sieben Uhr ist Frühstück angesagt: Brot, Butter, Marmelade, Ölsardinen, Gurke, Zitronenwaffeln und, natürlich, Tee. Dann bricht die Truppe auf zur Ausgrabung. Eine Woche bin ich mit von der Partie.

Ein Blick zum Himmel gibt noch keine Gewißheit, ob die Arbeiten heute abermals durch Regen behindert werden, oder ob der vom ausdauernden Steppenwind verwirbelte Lößstaub wieder Haare und Nasenlöcher verklebt. Das Wetter gibt sich ungewohnt launisch in der Hochebene südwestlich der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator. Im weiten Land am Fuße des Changgai-Gebirges in einer langgezogenen Schleife des Flusses Orchon, zwischen buddhistischer Klosteranlage und elektrischem Umspannwerk suchen mongolische und deutsche Archäologen nach den Überbleibseln von Dschingis Khans legendärer Hauptstadt Karakorum, mongolisch: Harhorin.

Es ist die erste Grabungskampagne der eigens gegründeten „ Mongolisch-Deutschen Karakorum-Expedition (MDKE)“. Das Vorhaben ist hoch angesiedelt: Die Präsidenten der beiden beteiligten Länder haben die Schirmherrschaft übernommen. Die Latte liegt ganz oben: „Wir haben uns das Ziel gesetzt, die alte Hauptstadt der Mongolen … wieder auferstehen zu lassen“, so Dr. Hans-Georg Hüttel von der Kommission für Allgemeine und Vergleichende Archäologie (KAVA) des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI). Es ist die erste wissenschaftliche – und entsprechend behutsame – Grabung in der ehemaligen Mongolen-Metropole.

Nach zwei Monaten Arbeit in der Steppe gibt es vorerst mehr Fragen als eindeutige Befunde: Sind die ausgegrabenen Rundbauten Wachstuben oder Getränkebottiche? Gibt es für die freigelegten schwarzen Ziegelreihen eine andere Erklärung als „Heizungskanäle“ ? Die MDKE wird die veranschlagten fünf Jahre brauchen, um Struktur und Wesen der einstigen Welthauptstadt zu klären. Der Weg ans Ende der Welt ist heute kein Problem mehr.

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Ein- bis zweimal die Woche schafft die mongolische Fluglinie MIAT in vollbesetzten Airbussen mehrere Hundertschaften von Berlin über Moskau nach Ulan Bator. Durch die 60 zusätzlich eingebauten Sitze wird der Raum in dem Riesenvogel allerdings eng, selbst Menschen mit der Konfektionsgröße M bekommen Druckstellen an den Knien. Doch was ist das gegenüber den Strapazen, die Bruder Johannes von Plano Carpini 1245 auf sich nahm? Der Franziskanermönch reiste im Auftrag von Papst Innozenz IV. ins Mongolenreich, um Nachrichten über die so urplötzlich und verheerend ins Abendland eingebrochenen „Tartaren“ zu sammeln. Hinter Rußland von Mongolen-Posten zu Mongolen-Station weitergereicht, sah er während seiner zweijährigen Expedition Völker und Landschaften, von denen kein Europäer je gehört hatte. Die Reise war überaus mühsam, und des öfteren zweifelte er, ob „ wir in den Tod oder ins Leben gingen“, wie er in seinem Bericht „ Kunde von den Mongolen“ schrieb.

Aber Bruder Johannes kam bis zum Hof des frisch gekürten Großkhans Güyük. „Mehr als 4000 Gesandte hielten sich damals bei den Tartaren auf“, notiert er, darunter der Großfürst von Rußland, ein Sultan aus Bagdad, die Söhne des Königs von Georgien – und alle brachten Geschenke, Tribut oder das Angebot der Unterwerfung. Am Hof des Kaisers wurde über die Geschicke der Welt entschieden. Carpini kam nicht bis Karakorum, er wurde in einem Jagdlager, eine Tagesreise von der Mongolen-Metropole entfernt, zur Audienz empfangen. Er schreibt: „Es gibt hier nur wenige Dörfer und gar keine Städte mit Ausnahme einer Stadt namens Karakorum, die ziemlich ansehnlich sein soll.“

Für uns Reisende des 21. Jahrhunderts – Prof. Wolfgang Wurster, Dr. Burkhard Vogt vom DAI und ich – gestaltet sich die Tour nach Karakorum komfortabel: Bei strahlendem Wetter in bequemen Sitzen eines japanischen Allrad-Busses genießen wir die Fahrt durch eine Landschaft von endloser Weite, wo die Freiheit auch am Boden grenzenlos ist. Schwarzweiße Punkte in der Ferne signalisieren riesige Schaf- und Ziegenherden.

Rinder- und Yak-Trupps nötigen uns ab und an zum Anhalten, sie haben schon aufgrund ihrer Körpermasse Vorfahrt. Und überall Pferde, braun oder falbfarben, mit Reiter oder frei schweifend, in Gruppen oder solo. Abertausende Heuschrecken klappern wie mit Holzstäbchen, die Luft ist erfüllt vom Duft wilden Thymians – die reine Postkarten-Idylle: Wenn da nicht die Schlaglöcher wären und die Spurrillen und die Querrinnen. Erka, unser Fahrer bemüht sich sehr und kurbelt sich schier Knoten in die Arme, aber eines der Löcher trifft er immer – der Kopf schnellt gefährlich nah ans Wagendach. Nach neun Stunden und 370 Kilometern erreichen wir Karakorum. Hier endet die Asphaltstraße.

Von einer Hügelkette erläutert Ausgräber Hans-Georg Hüttel das ehemalige Stadtgebiet, dank seiner Hinweise lassen sich, zumindest in groben Zügen, die Umwallungen der 1,5 Kilometer großen Anlage ausmachen. Der Archäologe von der KAVA hat sich als mongolischen Arbeitsplatz das deutlich erkennbare Palastareal ausgeguckt. Sein Kollege, Dr. Ernst Pohl von der Universität Bonn, gräbt 500 Meter weiter im Stadtzentrum. Hier kreuzen sich offensichtlich zwei Hauptstraßen, rundherum deuten Erdwälle auf ehemalige Bebauung. Beide Archäologen haben das Problem, daß nicht nur rund 600 Jahre in die Steppe gegangen sind, seit Karakorum von den Chinesen zerstört wurde (1380), sondern zuvor schon rivalisierende Mongolengruppen beständig um „ihre“ Hauptstadt kämpften: Wer Karakorum besaß, war der wahre Mongole; Karakorum gab der Herrschaft die Legitimation.

Die Metamorphose von der realen Stadt zum Mythos setzte früh ein und dauert an. Hüttel: „Karakorum ist heute mehr eine Idee als eine Siedlung“ – aber eine machtvolle. Neben der Übervater-Figur des Dschingis Khan ist die Stadtwüstung Symbol für die nationale und kulturelle Identität auch der heu-tigen Mongolen. Sie hatten 70 Jahre unter kommunistischer Herrschaft darauf verzichten müssen.

Dennoch weht keine Nationalflagge über dem Grabungs-Filzzelt, dem traditionellen „Ger“ der Mongolen. Der Besucher stolpert über unebenes Gelände, Grasbüschel und niedrige Büsche versperren einen Blick aufs Ganze. Spontane Erkenntnis will sich, wie so oft bei Ausgrabungen, nicht einstellen. Die eigentlichen Herren des Areals sind die Mäuse – kein Quadratmeter ohne mindestens fünf Mäuselöcher. Das Stadtgebiet ist von der Unesco für viel Geld eingezäunt worden. Das hält zwar die Touristen, nicht aber Nomaden und deren Tiere ab: Vor kurzem mußten die Archäologen ungewohnte Arbeit verrichten und eine Kuhherde von der Grabung treiben. Im Gelände dominiert das gewaltige Geviert des buddhistischen Klosters Erdennesuu, in dessen 420- mal 420-Meter-Mauer so mancher Stein aus der alten Mongolenhauptstadt verarbeitet worden ist.

Auf den beiden Grabungen werkelt eine Schar mongolischer und deutscher Archäologie-Studenten, einheimischer Arbeiter, Geophysiker von der Bonner Universität und Vermessungsexperten von der Fachhochschule Karlsruhe. Mittags kommt das Essen auf Rädern aus der Küche des angemieteten Hotels, das mit mitteleuropäischen Augen nicht so genau betrachtet werden darf. Die Abende sind öde, wenn man nicht noch zu arbeiten hat. Das russische Fernsehen ist so fremd wie das mongolische, Unterhaltung im Ort ist Fehlanzeige – Harhorin ist so trostlos wie eine Western-Kulissenstadt nach Ende der Dreharbeiten.

Ganz anders muß es hier vor rund 700 Jahren ausgesehen haben. 1220 gab Dschingis Khan den Befehl zur Gründung einer zentralen Stadt für sein ausuferndes Reich; er selbst hat sie wohl nicht mehr erlebt. Auch nach seinem Tod 1227 war Karakorum eher ein fester Platz für die nomadisierenden, auf Ochsenkarren montierten Palastzelte der mongolischen Aristokratie. 1235 ließ Dschingis-Sohn und Nachfolger Ögödei Khan die Siedlung mit Ziegelmauer und Erdwall umgeben und feste Häuser errichten. Seinen Palast – vermutlich ein dreischiffiger, an den Seiten offener Hallenbau – errichtete ihm ein chinesischer Architekt. Zumindest die Verwaltung des Reiches war nun fest in Karakorum angesiedelt. 1260 verlegte Kubilai Khan die Hauptstadt nach Peking. Karakorum blieb, trotz politischen und wirtschaftlichen Niedergangs, Symbol für die mongolische Einheit.

Der flämische Franziskaner-Mönch Wilhelm von Rubruk kam 1254, ausgesandt vom französischen König Ludwig IX., als erster Europäer nach Karakorum. Er beschrieb die Hauptstadt der Mongolen detailliert: „Es gibt da zwei Stadtviertel, das der Sarazenen, wo der Wochenmarkt stattfindet. Das andere ist das Stadtviertel der Nordchinesen, die durch die Bank Handwerker sind. Ferner sind da zwölf Götzentempel (buddhistische Tempel, die Redaktion) und zwei Moscheen, sowie am äußersten Ende der Stadt eine christliche Kirche.“ Trotz dieser offensichtlichen multikulturellen Gesellschaft urteilte der Mönch geringschätzig über Karakorum: „ Die Stadt ist nicht so stattlich wie der Marktflecken St. Denis (bei Paris, die Redaktion)“. Andere schauten genauer hin oder waren nicht so voreingenommen. Der arabische Geograph und Historiker al-Umari (1301 bis 1349) sah später „eine prächtige Stadt, Garnison eines Großteils der kaiserlichen Truppen und Produktionszentrum für feine kostbare Textilien und Luxusartikel. Sie hat unter ihrer Bevölkerung vortreffliche Künstler und Handwerker.“

Einen Handwerker streicht auch Rubruk heraus: Der französische Goldschmied Guillaume Boucher, als Kriegsgefangener am mongolischen Hof, hatte für den Kaiser einen silbernen Wunderbaum konstruiert. „Innerhalb des Baumes gehen vier Röhren bis zu seinem Gipfel empor … Eine dieser Röhren läßt Wein aus sich herausfließen, die andere vergorene Stutenmilch, die dritte ein Honiggetränk, die letzte Reisbier … Außerhalb des Palastes ist eine Vorratskammer, in der die Getränke aufbewahrt werden.“ – Vier wohl voluminöse Vorratsgefäße für verschiedenartige Getränke – Hans-Georg Hüttel wurde hellsichtig, als der Magnetometer mit 500facher Intensität ausschlug und vier massive, kreisrunde geomagnetische Anomalien im Erdboden anzeigte. Sollten hier vielleicht …?

Es waren nicht die erhofften flüssigen Grundlagen des wundersamen Baumes. Freigelegt wurden vier Rundbauten, die innen jedoch rechteckig ausgemauert waren. „Über diesen Zusammenhang müssen wir noch nachdenken“, meint Hüttel. Interpretationshilfe bekommt er von einem mongolischen Archäologie-Kollegen: Es könnten die Dienststuben der vier Kommandanten der Palastwachen gewesen sein. Hüttel heftet dankbar ab im Ordner: Erklärungen.

Zwei Wochen später kommt eine lakonische E-Mail aus Karakorum in die Redaktion: „ …möchte ich Ihnen mitteilen, daß es sich bei unseren vier Rundbauten um Öfen aus dem 13. bis 14. Jahrhundert handelt. Die Wachhäuschentheorie unserer mongolischen Freunde ist damit obsolet.“ Fortsetzung folgt? Da scheint die Sachlage bei Dr. Ernst Pohl in der City klarer zu sein. Der Archäologe von der Universität Bonn ist „elend langsam“ vorangekommen, denn knapp unter der Oberfläche fing bei ihm schon die Vergangenheit an. Gleich an acht Stellen seines Areals kamen Schieferplatten auf Kanälen aus senkrecht gestellten ungebrannten Ziegeln zum Vorschein. Jeweils an einer Seite waren die Steine schwarz verschmaucht – durch zirkulierende Heißluft? Pohl ist sicher, hier auf eine mittelalterliche Fußbodenheizung gestoßen zu sein. Derlei wird für den Palast überliefert, warum sollte es nicht auch im Haus eines reichen Händlers oder eines Diplomaten zu finden sein? Noch hat die Pohl-Crew keine Hausstruktur dingfest machen können, und auch die zeitliche Einordnung ihrer Funde ist noch ungeklärt. Doch eines steht schon fest: Im Zentrum tat sich was. Pohl: „Wir haben in Karakorum für eine kurze Zeit ein unheimlich breites Spektrum von kulturellen Einflüssen vom ganzen eurasischen Kontinent. Diese Schlaglichter zu erwischen – das ist unser Wunsch.“ Fortsetzung folgt im nächsten Jahr.

Eine zeitnahe Fortsetzung brachte ein anderer archäologischer Solitär in der Steppe: Eine Autostunde von der Dschingis-Metropole entfernt erheben sich in der Einöde völlig ungeschützt die beeindruckenden Reste der uigurischen Haupt-stadt Harbalgas aus dem 8. und 9. Jahrhundert n.Chr. Von den erodierten, immer noch sechs Meter hohen Umfassungsmauern schweift der Blick über innere Stadt, Palastruine und Burganlage. Vor mehr als 1200 Jahren wurde hier für etwa ein Jahr-hundert das innerasiatische Reich der turkstämmigen Uiguren verwaltet – ein noch ungehobener Schatz für Archäologen.

Beim abschließenden Besuch in der deutschen Botschaft in Ulan Bator führt uns die Hausherrin mit Salat und einer köstlichen selbstgefertigten Quiche wieder zu mitteleuropäischen Speisegewohnheiten zurück. Und Botschafter Klaus F. Schröder erzählt von seinem Ausflug nach Harbalgas: Im Bereich der Innenstadt suchte da ein Trupp nicht-mongolischer Menschen mit Metalldetektoren den Boden ab. Immer wenn die Geräte Erfolg meldeten, gruben die Fremden und schickten den einheimischen Führer fort: Er sollte nicht sehen, was sie aus dem Boden klaubten. Das waren sicher keine Archäologen. P.S. E-Mail von Hans-Georg Hüttel kurz vor Redaktionsschluß: „ …handelt es sich eindeutig um Brennöfen für Terrakotten, Ziegel etc. … Sollten die C14-Daten die frühe Zeitstellung (13. Jahrhundert) bestätigen, wäre das aufregend. Dann müßten wir davon ausgehen, daß wir so etwas wie die Bauhütte des Palastes erwischt haben … Noch sind wir eher skeptisch … In einem halben Jahr wissen wir mehr.“

Kompakt Für das mittelalterliche Europa lag die Mongolei jenseits der Welt. Von dieser Weltgegend war nichts bekannt. Karakorum ist auch für die heutigen Mongolen das Symbol für die Einheit ihrer Nation. Deutsche Archäologen helfen bei der Wiederauferstehung der ehemaligen Mongolen-Metropole.

Michael Zick

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