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Täuschend echte Scheinwelt

Technik|Digitales

Täuschend echte Scheinwelt
Informatiker aus Saarbrücken haben ein Verfahren entwickelt, mit dem sich dreidimensionale Bilder und Animationen realistisch und in Echtzeit darstellen lassen – auch auf gewöhnlichen PCs und Spielkonsolen.

Die letzte Tür schließt sich leise. In völliger Stille sitzt eine kleine Gruppe Auserwählter. Alle starren gebannt auf eine große Projektionswand. Dort ist die Design-Studie eines neuen Autos zu sehen. Ist das wirklich nur ein Bild – und nicht das Auto selbst? Jedes Detail erscheint so realistisch, dass man glaubt, es greifen zu können. Der Glanz des Lacks, die Struktur der Polster, die Narbung des Leders und selbst die Holzkonsole des Armaturenbretts scheinen echt zu sein. Wer will, kann um das Auto herumgehen, es von oben oder unten betrachten, einsteigen und einzelne Feinheiten genauer anschauen – alles kein Problem. Ein Mausklick am Computer genügt, und am Auto ändern sich Lackierung, Frontgestaltung oder Details im Innenraum.

Ermöglicht wird das durch eine neue interaktive Visualisierungstechnologie, die der Informatiker Philipp Slusallek, Inhaber des Lehrstuhls für Computer-Graphik an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, entwickelt hat: das Echtzeit-Ray-Tracing. Diese Technologie wird im Projekt-Visualisierungszentrum von Volkswagen in Wolfsburg weltweit erstmalig für Produktentwicklung eingesetzt. Sie erlaubt den Ingenieuren und Designern nicht nur, Objekte fast ohne Zeitverzug dreidimensional darzustellen, zu bewegen und zu verändern, sondern sie verarbeitet auch physikalisch korrekt Beleuchtungseffekte wie Schatten, Reflexionen, Lichtbrechung und indirekte Beleuchtung. Das lässt die Objekte naturgetreu erscheinen.

Mit der bisher zur Darstellung von Grafiken auf dem Rechner genutzten Rasterisierungstechnik lassen sich zwar Objekte dreidimensional im richtigen Verhältnis von Form, Größe und Farbe abbilden. Dennoch sah man auf den ersten Blick, dass sie nicht real sind. Eine fotorealistische Visualisierung muss auch Lichteffekte berücksichtigen, wie sie etwa durch die indirekte Beleuchtung anderer Objekte entstehen. Erst sie machen die Darstellung lebendig.

Die glänzende Bildqualität der Ray-Tracing-Technologie ist zwar seit rund 20 Jahren bekannt, doch das Verfahren war bisher für eine praktikable Anwendung viel zu langsam: Das Erzeugen eines einzelnen Bildes nahm oft mehrere Stunden in Anspruch. Trotz eines hohen Forschungsaufwands für die Entwicklung verbesserter Hard- und Software änderte sich daran kaum etwas – bis Slusallek vor sieben Jahren die Ray-Tracing-Technologie mit neuen Ideen bereicherte und weiterentwickelte. Mit seinem Forscher-Team gelang es ihm, das Verfahren etwa um das 30-Fache zu beschleunigen – ein erster wichtiger Schritt hin zu einem interaktiven Einsatz in der Produktentwicklung oder in der Unterhaltungsindustrie.

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Beim Ray Tracing wird die Physik des Belichtungsvorgangs eines Films simuliert. Dazu ermittelt ein mathematischer Algorithmus den Weg der Lichtstrahlen – ausgehend von jedem Pixel des Films einer virtuellen Kamera durch die Linse zurück in die dreidimensionale Szene. So lässt sich herausfinden, welche Objekte von diesem Pixel aus sichtbar sind. Bislang musste jeder einzelne Lichtstrahl berechnet werden – und das dauerte. Slusallek erzielte den entscheidenden Durchbruch, indem er erkannte, dass Strahlen nebeneinander liegender Pixel weitgehend die gleichen Berechnungen erfordern. Die Schlüsselidee dabei war, eine Gruppe benachbarter Strahlen gemeinsam zu verfolgen, um deren Kohärenz – ihr Maß an Übereinstimmung – herauszufinden und zur Vereinfachung der Bildrekonstruktion zu nutzen.

Die hohe Rechenleistung heutiger Computerprozessoren macht sich gerade dieses kohärente Verhalten zu eigen. So benötigt ein Zugriff in den Hauptspeicher eines PCs über 500 Rechentakte. Liegen die Daten jedoch in einem schnellen Zwischenspeicher, dem so genannten Cache, kann der Prozessor in nur zwei bis drei Takten darauf zugreifen. Auf diese Weise funktioniert auch der neue Ansatz beim Ray-Tracing-Verfahren: Fast immer muss für Berechnungen auf Daten zugegriffen werden, die ein benachbarter Lichtstrahl schon zuvor benötigt hat und die daher noch in einem schnell zugänglichen Zwischenspeicher bereitliegen.

Trotz der 30-fachen Beschleunigung reicht die Rechenleistung von PC-Prozessoren – selbst bei einfachen Szenen und mittlerer Auflösung – bloß für eine interaktive Darstellung von maximal zehn Bildern pro Sekunde. Für einen industriellen Einsatz genügt das bei Weitem nicht. Um die Rechenleistung weiter zu steigern, nutzte Slusallek, dass die vielen Lichtstrahlen eines Bildes unabhängig voneinander sind und sich daher auf mehreren Computern parallel berechnen lassen. Eine Verdopplung der Zahl an eingesetzten Rechnern halbiert somit die für die Kalkulation erforderliche Zeit.

Das funktioniert unter bestimmten Bedingungen bei Hunderten gleichzeitig operierenden Computerprozessoren und ist die Basis der heutigen Anwendungen – beispielsweise im Projekt-Visualisierungszentrum des Volkswagen-Konzerns in Wolfsburg. Dort sind 40 leistungsfähige PCs mit jeweils zwei Prozessoren zu einem „Großrechner“ zusammegeschaltet. Das gewährleistet die nötige Power, um die etwa 20 Millionen Bildpunkte der dreidimensionalen Designstudie eines Automobils in Originalgröße rasch zu berechnen. Wird das virtuelle Fahrzeug auf einer rund fünf mal zwei Meter großen Projektionswand, der Powerwall, präsentiert, können die Entwickler hervorragend Lichtreflexe, Oberflächenstrukturen sowie ausgefallene Lack- und Innenraumvarianten beurteilen – genauso leicht wie an einem echten Modell. Dadurch können bereits in der Design-, Planungs- oder Konstruktionsphase zuverlässig Entscheidungen getroffen werden – lange bevor das erste Fahrzeug gebaut wird.

„Obwohl die Technologie immer noch im Prototypenstadium steckt, lassen sich bereits jetzt durch den Einsatz eines virtuellen Modellautos enorme Entwicklungskosten einsparen“, sagt Peter Zimmermann, der verantwortliche Forschungs- und Entwicklungsleiter bei VW. Denn für die Erstellung einer wirklichkeitsgetreuen Studie am Computer muss man nur etwa ein Zehntel der Baukosten eines echten Modellfahrzeugs von 600 000 Euro aufwenden. Gleichzeitig verkürzt sich die Entwicklungszeit um sechs bis acht Wochen. „Unser Ziel ist es, durch die Nutzung aller möglichen virtuellen Techniken die Gesamtkosten des Produktentstehungsprozesses um etwa 30 Prozent zu senken“, gibt Zimmermann die Marschrichtung vor.

Bei VW wird für alle Fahrzeugprojekte seit Ende 2004 die neue Visualisierungstechnologie verwendet. „In zwei bis drei Jahren werden wir sie neben Wolfsburg in weiteren Visualisierungszentren einsetzen“, sagt Zimmermann. Zuvor müssen die Ingenieure jedoch den Aufwand an Hardware auf ein sinnvolles Maß reduzieren. Im Moment wird für das Ray-Tracing-Verfahren deutlich mehr Equipment an Rechnern und technischem Zubehör benötigt als bei den bislang gebräuchlichen Verfahren.

Die Firma inTrace in Saarbrücken, die als Spin-Off-Unternehmen aus der Universität des Saarlands hervorgegangen ist, vertreibt die Soft- und Hardware für die Ray-Tracing-Technologie. Inzwischen nutzen auch Audi, BMW und DaimlerChrysler Ray-Tracing. Die Flugzeugindustrie – konkret Airbus und Boeing – ist ebenfalls interessiert. Airbus Hamburg hat die Technologie gekauft und setzt sie inzwischen in ihrem Visualisierungszentrum ein.

Für ein komplettes, originalgetreues 3D-Modell einer Boeing 777 müssen die Daten von mehr als 350 Millionen Teilflächen verarbeitet werden. Der Speicherplatz dafür beträgt 30 Gigabyte – das entspricht dem Inhalt von über 40 CDs. Planern und Konstrukteuren ermöglicht Ray Tracing, sich am Bildschirm interaktiv durch das virtuelle Flugzeug zu bewegen und dabei jedes einzelne Detail unter die Lupe zu nehmen – von der Turbine über das Fahrwerk und die mehrere Hundert Kilometer lange Elektroverkabelung bis zur kleinsten Schraube oder Niete. Neue Flugzeugmodelle ließen sich in ihrer Gesamtheit testen, wodurch offenkundige Probleme vor dem Baubeginn behoben werden könnten. Peinliche und teure Pannen wie beim Bau des neuen Airbus 380, für den der Start der Serienfertigung wegen Schwierigkeiten beim Verlegen der elektrischen Leitungen bereits zweimal verschoben werden musste, sollen sich dadurch künftig vermeiden lassen, hoffen die Flugzeugingenieure.

Die Einsatzmöglichkeiten der Ray-Tracing-Technologie sind äußerst vielfältig. Sie reichen von der Visualisierung medizinischer Volumendaten – wie Röntgenbilder oder Kernspintomographien – über die Darstellung extrem kleiner oder großer 3D-Modelle von neuen Produkten bis hin zur interaktiven Simulation komplexer Beleuchtungsszenarien, die sich für den architektonischen Entwurf von Gebäuden oder zur Entwicklung neuer Scheinwerfer nutzen lassen. Da die Strahlengänge des Lichts in Scheinwerfern sehr komplex sind, war zur Beurteilung der Beleuchtungseigenschaften bisher der Bau teurer Testmodelle unerlässlich. Setzt man stattdessen die realistische Visualisierungstechnologie ein, können Kosten von rund 100 000 Euro pro Testmodell gespart werden.

Auch in die Kinos kommt Ray-Tracing wohl bald in voller Bandbreite. Die Visualisierungstechnologie könnte die Produktion von Filmen und Werbespots entscheidend vereinfachen. Dazu stehen die Saarbrücker Forscher schon mit der Filmindustrie in Kontakt – beispielsweise mit dem Hollywood-Studio Pixar, das mit dem Animationsfilm „Nemo“ einen Kracher landete. In dem neuen Kinofilm „Cars“ wurde Ray-Tracing bereits intensiv genutzt. Die Saarbrücker programmierten ein „Plugin“ zur Modellierung und Animation von Filmszenen.

Während bisher nur grob zu erahnen war, wie eine Szene endgültig aussehen würde, stellt das neue Modellierungswerkzeug laufend die vom Designer gerade bearbeitete Ansicht in voller Bildqualität in einem separaten Fenster auf dem Display dar. Im Rechner modellierte Spielszenen lassen sich damit schon während des Entwicklungsprozesses beurteilen und gegebenenfalls korrigieren.

Die Computerspiele-Hersteller zeigen entsprechend großes Interesse an der neuen Grafik-Technologie. Für den privaten Anwender ist ihr Einsatz allerdings erst dann praktikabel, wenn es schnellere und kompaktere Mikrochips für PCs gibt, die das Zusammenschalten vieler einzelnen Rechner überflüssig machen. Gelingt es, solche hochleistungsfähigen Ray-Tracing-Grafikchips zu entwickeln, werden die Programmierer Computerspiele kreieren können, die so wirklichkeitsnah sind, dass der Spieler das Gefühl hat, in einer anderen Welt zu sein.

Das Team um Philipp Slusallek entwickelte den Prototypen eines vollprogrammierbaren Grafikchips – die so genannte Ray-Processing-Unit (RPU) –, der auf der Basis der Ray-Tracing-Technologie arbeitet. Auf diesem einzelnen kleinen und billig herstellbaren Chip wird die Leistung vieler Prozessoren konzentriert, um die neue Visualisierungstechnologie für den Massenmarkt tauglich zu machen. Der Prototyp des RPU-Chips erreicht eine Echtzeit-Darstellung von bis zu 20 Bildern pro Sekunde. Dabei sind die Ressourcen noch längst nicht ausgeschöpft: Denn der Chip läuft bisher nur mit einem Vierzigstel der Geschwindigkeit heutiger Prozessoren und nutzt nur ein Fünfzigstel der Hardware-Ressource.

Der Saarbrücker Informatik-Professor Philipp Slusallek ist fest davon überzeugt, dass in wenigen Jahren große Teile der 3D-Grafik-Technologie auf dem neuen Verfahren basieren werden. Dazu arbeiten er und sein Forscherteam eng mit großen Unternehmen aus der IT-Branche zusammen. So verwendet Intel den Ray-Tracing-Code bereits, um die Grafikdarstellung ihrer Prozessoren zu optimieren. Die internationalen Konzerne IBM, Sony und Toshiba nutzen das Know-how aus Saarbrücken in dem von den drei Unternehmen gemeinsam entwickelten Hochleistungsprozessor „ Cell“, der beispielsweise in der neuen Spielkonsole Playstation-3 von Sony seinen Dienst verrichtet.

Nicht mehr allzu fern scheint auch folgende Perspektive zu sein: Mit Hilfe von Ray Tracing kann sich jeder Spieler über einen digitalen Doppelgänger in das Spiel kopieren und beobachten, wie er reagiert und die Fassung verliert, wenn er von einem virtuellen Gegner bedroht wird. ■

Christine Ritschel arbeitete zunächst als Physikerin in der Forschung. Jetzt leitet sie ein Büro für Wissenschafts- und Technologie-Kommunikation in Saarbrücken.

Christine Ritschel

Ohne Titel

• Die Ray-Tracing-Technik zur Darstellung von authentisch wirkenden Computerbildern ist jetzt endlich anwendungsfreundlich.

• Automobile oder Flugzeuge können dadurch einfacher, schneller und preisgünstiger entwickelt werden.

• Grafikkarten, die das Verfahren nutzen, machen Computerspiele verblüffend realistisch.

COMMUNITY Internet

Website der Professur für Computergraphik am Institut für Informatik der Universität des Saarlands: graphics.cs.uni-sb.de/

Homepage der Firma inTrace, die das Echtzeit-Ray-Tracing-Verfahren vermarktet:

www.intrace.com

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