Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Kinder sind anders krank

Gesellschaft|Psychologie Gesundheit|Medizin

Kinder sind anders krank
Dank neuer Operationstechniken müssen viele Kinder nur noch kurz ins Krankenhaus. Aber: Immer mehr der kleinen Patienten leiden an bisherigen Erwachsenenkrankheiten – wie Angststörungen und Altersdiabetes. Das stellt die Ärzte vor neue Probleme.

Die Zeit, die Kinder heute in der Klinik verbringen, hat sich seit Anfang der Neunzigerjahre in der Allgemeinen Kinderheilkunde von durchschnittlich neun auf fünfeinhalb Tage verkürzt, in der Kinderchirurgie von sieben auf vier Tage. „Und das, obwohl mehr operiert wird als früher“, erklärt Ulrich Hofmann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie. Die Ärzte wagen mehr OPs, da die Anästhesie und insbesondere die moderne „ Schlüsselloch-Chirurgie“, bei der nur kleinste Schnitte und Zugänge nötig sind, die Zahl von Komplikationen entscheidend reduziert hat.

Kinder mit einem gebrochenen Bein dürfen im Durchschnitt schon nach fünf Tagen statt – wie noch vor einer Generation – nach sechs Wochen wieder nach Hause. Zudem kann heute etwa die Hälfte der Routineeingriffe wie Leistenbruch, Entfernung von Nasenpolypen oder von entzündeten Rachenmandeln ambulant vorgenommen werden.

Entsprechend gibt es in den Kinderkliniken immer weniger Betten. Daten des Statistischen Bundesamts belegen: Zwischen 1991 und 2004 haben von den Kinderabteilungen in der Allgemeinen Kinderheilkunde und in der Kinderchirurgie 90 von 539 geschlossen, und die Bettenzahl ist von 35 000 auf 23 000 geschrumpft.

Andererseits hat die High-Tech-Medizin auch dazu geführt, dass eine Patientengruppe zugenommen hat: die der schwer und chronisch kranken Kinder. In Deutschland kommen jedes Jahr rund 8000 Babys mit einem Herzfehler zur Welt. Starb vor wenigen Jahrzehnten noch jedes Zweite von ihnen bald nach der Geburt, ist es heute dank ausgefeilter Methoden nur noch jedes Zwanzigste. Auch extreme Frühgeburten, die ab der 24. Schwangerschaftswoche auf die Welt geholt werden, und Kinder mit angeborenen Fehlbildungen und schweren Erkrankungen schaffen inzwischen mit Hilfe von Spezialisten oft den Sprung ins Leben. Und von krebskranken Kindern überleben heute rund 80 Prozent.

Anzeige

„Sie gelten dann allerdings als chronisch krank und brauchen eine entsprechend intensive Versorgung“, sagt Wieland Kiess, Direktor der Universitäts-Kinderklinik in Leipzig. Die kann aufwendig sein: Die Kinder brauchen neben Operationen und Medikamenten oft Sprach-, Bewegungs- und andere Begleittherapien. Noch eine Patientengruppe beschäftigt Ärzte immer mehr: Kinder und Jugendliche mit Krankheiten, die früher nur Erwachsene hatten – wie Angsterkrankungen und Diabetes. Und: Immer jüngere Patienten müssen wegen psychosozialer und emotionaler Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten behandelt werden.

Das gilt bereits für Grundschüler, die vermehrt unter Ängsten, Depressionen und Schlafstörungen leiden. Auch die Zahl der kurzen Kriseninterventionen in der Psychiatrie ist erschreckend gestiegen: Registrierte man 1991 in Deutschland noch rund 20 000 Fälle in den Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie, mussten die Ärzte 2004 bereits 36 000-mal helfen. „Nach Selbstmordversuchen, Selbstverletzungen, Drogenmissbrauch und anderen Kurzschlusshandlungen in Krisen müssen Kinder und Jugendliche heute deutlich häufiger behandelt werden als noch vor wenigen Jahren“, betont Gunther Klosinski, ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Tübingen.

Die Gründe für die seelische Not sind vielfältig: Armut und Arbeitslosigkeit, Trennung der Eltern sowie der immer stärkere Erfolgs- und Leistungsdruck schaffen schon bei kleinen Kindern oft eine psychische Schieflage. Kinderpsychiater beobachten vermehrt Aufmerksamkeitsprobleme und Hyperaktivität als Reaktion auf Schwierigkeiten in der Familie. Gunther Klosinski befürchtet einen weiteren Anstieg: „Existenz- und Zukunftsängste werden uns künftig stärker beschäftigen.“

Mehr psychisch gestörte Kinder brauchen auch mehr Fachabteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Kliniken. Zwischen 1991 und 2004 kamen zu den 112 Abteilungen bundesweit 11 dazu – doch es sind vielerorts immer noch nicht genug.

Übergewichtige und Diabetiker sind die anderen Sorgenkinder der Mediziner. Europaweit sind nach WHO-Schätzungen bereits 14 Millionen Kinder übergewichtig. In Deutschland sind es nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts rund 2 Millionen Kinder. 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen bis 17 Jahre hierzulande sind zu dick, gut ein Drittel davon ist adipös, also extrem dick. Damit hat sich ihre Zahl in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt – mit dem entsprechenden Risiko für gravierende Folgeschäden.

Ein alarmierender Befund: Schüler mit dem Typ-2-Diabetes, also dem typischen Alterszucker, sind in den Kliniken keine Ausnahmen mehr. Der weltweit jüngste Typ-2-Diabetiker – ein übergewichtiger Deutscher – erkrankte mit fünf Jahren. Herz-Kreislauf- und Gelenkerkrankungen sind eine weitere Folge von Übergewicht – eine schwere Hypothek für den Rest des Lebens. Schon prophezeien Experten wie Jay Olshansky von der School of Public Health an der University of Illinois in Chicago, dass die Lebenserwartung künftiger Generationen sinken wird. Auf die Folgen müssen sich nicht nur Ärzte einstellen – auch die Familien werden lernen müssen, einen jugendlichen Diabetiker oder Herz-Kreislauf-Kranken zu betreuen. Untersuchungen, Behandlungen und Kuren gehören bei ihnen zum Alltag.

Die Pfunde zuviel peinigen auch die Seele. Extrem übergewichtige Kinder sind isolierter, haben mehr soziale Ängste und Depressionen als ihre Altersgenossen mit Normalgewicht. Das zeigen auch Untersuchungen von Beate Herpertz-Dahlmann, Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum in Aachen. Den Kindern fehlt oft die psychische Kraft zum Abnehmen, und sie müssen in einer Klinik betreut werden.

So gut die medizinische Betreuung dort auch ist – der Aufenthalt im Krankenhaus macht vielen Kindern Angst: Ihnen fehlt das vertraute Zuhause, sie sind viel allein und müssen fremde Menschen mit Spritzen und kalten Untersuchungsinstrumenten an sich heran lassen. Kleine Kinder, die noch nicht verstehen, was mit ihnen geschieht, empfinden ihr körperliches Leiden und die Behandlung des Arztes manchmal sogar als Bestrafung.

Diese Angst kann zu traumatischen Erfahrungen führen, unter denen viele noch später als Erwachsene leiden. „Wenn die Kinder acht, neun Monate alt sind, ist ein Krankenhausaufenthalt für sie besonders schlimm. Dann sind sie in der Fremdelphase und leiden sowieso unter Trennungsängsten“, sagt Gunhild Kilian-Kornell vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. Nach einem Krankenhausaufenthalt sind viele Kleinkinder deshalb verunsichert und abweisend, misstrauisch und extrem ängstlich.

1,5 Millionen Kinder und Jugendliche werden jährlich in Deutschland stationär behandelt. Besonders schwer haben es chronisch kranke Kinder, die sich etwa nach einer Knochenmarktransplantation in keimfreien Spezialräumen aufhalten müssen. Sie leiden extrem, wenn sie über Wochen hinweg keinen Körperkontakt zu ihren Eltern haben dürfen. Dazu kommt, dass sie durch ihre Isolation kaum Anregungen und Spielmöglichkeiten oder Ablenkung erhalten.

Für „normal“ kranke Kinder sind dagegen viele Kliniken in den letzten Jahren bedeutend kinderfreundlicher geworden. Galten die Eltern auf den Kinderstationen früher als störend für den Heilungsprozess, sind in vielen Krankenhäusern nun Eltern- Kind-Stationen eingerichtet. „Die Erfahrung zeigt, dass Kinder viel schneller gesund werden, wenn die Mutter oder eine andere Bezugsperson in der Nähe ist“, hat Jochen Scheel, Vorsitzender der Gesellschaft der Kinderkrankenhäuser und Kinderabteilungen in Deutschland (GkinD), beobachtet. Auch andere Ideen sorgen für eine raschere Gesundung: Teddys werden „mitbehandelt“, um Kindern die Angst vor Untersuchungen zu nehmen, Kinderbücher erklären den Ablauf von Operationen, und klinikeigene Computer machen Kontakte zu anderen kleinen Patienten und Freunden möglich (siehe Kasten „ Was gegen die Angst im Krankenhaus hilft“). Der Bonner Verein „ Die kleinen Patienten“ hat über 20 Kliniken kinderfreundlich umgestaltet – mit Lese- und Bilderbüchern, bunten Wegweisern und Betten, die die Kinder selbst bedienen können.

Ob die kleinen Patienten auch von einer räumlichen Umgestaltung der Kliniken profitieren, hat die Architekturpsychologin Rotraut Walden von der Universität Koblenz in einer Studie untersucht. Sie ließ im Oldenburger Kinder-Klinikum rund 160 Patienten, Mitarbeiter und trainierte Studierende die Effekte einer kinderfreundlichen Architektur einschätzen. Anhand eines Fragebogens beurteilten sie die Fassade, den Eingangsbereich, die Warte- und Aufenthaltsräume sowie die Krankenzimmer, die Intensivstation und die Ambulanz.

Die Ergebnisse zeigen, dass es bei einem Kinderkrankenhaus auf mehr ankommt als nur auf bunte Farben an den Wänden und eine Ecke mit Spielsachen. Helle, freundliche Räume, Orte der Ruhe und Geborgenheit, Rückzugsmöglichkeiten wie Höhlen und Nischen sowie die Nähe zum Schwesternzimmer sind entscheidend. Auch eine bessere Orientierung sorgt dafür, dass sich die Kinder wohler fühlen, ebenso Handläufe in greifbarer Höhe, die die kindliche Körpergröße berücksichtigen. „All das unterstützt letztlich den Heilungsprozess“, fand Walden heraus. Die Oldenburger Klinik gilt in Sachen Kinderfreundlichkeit bundesweit als Vorzeigeprojekt.

Nur an den Operationssälen lässt sich wegen höchster Hygieneanforderungen nicht viel verändern. Immerhin hat die Oldenburger Klinik den Weg in den OP-Saal, den Aufwachraum und die Intensivstation freundlich dekoriert. Im Aufzug ist eine Beleuchtung installiert, die an einen Sternenhimmel erinnert.

Das alles zahlt sich nach Überzeugung von Walden auch finanziell aus: „In der öffentlichen Meinung führt die kinderfreundliche Gestaltung einer Klinik auf Dauer zu einem Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Krankenhäusern.“ Ein wichtiger Aspekt in Zeiten, in denen Krankenhäuser immer stärker auch Wirtschaftsunternehmen sind. ■

Eva Tenzer, Wissenschaftsjournalistin in Oldenburg, berichtet in bdw immer wieder über gesellschaftlich brisante Themen – zuletzt in bdw 5/2006 über Hooligans.

Eva Tenzer

Ohne Titel

• Kinderfreundlich eingerichtete Kliniken und moderne Medizin lassen Kinder schneller gesund werden.

• Immer mehr Eingriffe werden heute ambulant vorgenommen.

• Verstärkte gesellschaftliche Probleme haben neue Krankheiten bei Kindern geschaffen.

Ohne Titel

Teddy-krankenhäuser

Medizinstudenten im norwegischen Trondheim hatten als Erste die Idee, Kindern die Abläufe im Krankenhaus besser zu erklären, indem sie deren Teddybären mitbehandeln. Die Stofftiere werden abgehört, abgetastet und bekommen einen Verband. So lernen Kinder spielerisch, was im Krankenhaus passiert, bevor sie selbst zu Patienten werden.

Außerdem können sich die angehenden Mediziner dabei im Umgang mit Kindern üben, eine kindgerechte Sprache entwickeln und lernen, typische Reaktionen von Kindern richtig einzuschätzen. Das erleichtert ihnen den späteren Kontakt. Die Idee wurde bereits an mehreren deutschen Universitätskliniken aufgegriffen und findet auch in Großbritannien und in Portugal zunehmend Verbreitung.

Lesestoff fürs Herz

Der Bundesverband Herzkranke Kinder (BVHK) hat ein Kinderbuch herausge-bracht, das herzkranke Kinder auf den Klinikaufenthalt und eine Operation vorbereiten soll: Kobold Mutz begleitet sie Schritt für Schritt durch die Klinik von den Voruntersuchungen bis zur OP. Am Ende des Buchs gibt es eine „Tapferkeitsurkunde“ .

Das sensibel geschriebene Buch erklärt Vorgänge im Krankenhaus in einer für Kinder gut verständlichen Sprache und wirkt so diffusen Ängsten entgegen. Das Buch wird über Kliniken und niedergelassene Kinderkardiologen gratis verteilt. Eltern können es auch direkt beim Verband anfordern – Internet-Adresse: www.bvhk.de.

Vernetzte Kinderwelt

Der Computer kann Kindern das Leben im Krankenhaus erleichtern. Etliche Kliniken stellen Notebooks mit kindgerechten Programmen zur Verfügung, mit denen ältere Kinder chatten, mailen und spielen können. „Gerade chronisch kranken Kindern, die sehr lange in der Klinik sind, gibt das die Möglichkeit, den Anschluss an Freundeskreis und Schule nicht zu verlieren“, sagt Martin Schrappe, Direktor der Klinik für Allgemeine Pädiatrie an der Kieler Universitätsklinik. Das Krankenhaus ist – wie 30 weitere Kliniken in Deutschland und Österreich – an das Projekt „ Vernetzte Welt für Kinder“ angeschlossen. Nach der Entlassung dürfen die kleinen Patienten ihr Passwort mitnehmen, um die neuen Kontakte aufrechtzuerhalten.

Die Internetseite www.medizity.de der Heidelberger Uniklinik richtet sich an kranke genau wie an gesunde Kinder und Jugendliche. Sie lernen dort viel über Krankheiten, medizinische Geräte, Untersuchungen und den Alltag im Krankenhaus, um Ängste abzubauen. Jedes Angebot ist mit einer passenden Altersempfehlung versehen. Geschichten, interaktive Spiele und Wissenstests verkürzen die Zeit im Krankenhaus, Links zu den Seiten anderer Kinder schaffen Kontakte. 80 000 Zugriffe im Monat zeigen, dass die Seite intensiv genutzt wird.

COMMUNITY Internet

Gesellschaft der Kinderkrankenhäuser und Kinderabteilungen in Deutschland:

www.gkind.de

Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin: www.dgkj.de

Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie: www.dgkch.de

Verein „Die kleinen Patienten“ für die kinderfreundliche Gestaltung von Krankenhäusern: www.diekleinenpatienten.de

Interaktive Seite der Heidelberger Universitäts-Kinderklinik: www.medizity.de

Lesen

Nimmt Kindern die Angst davor, was im Krankenhaus mit ihnen geschieht:

Janosch

Ich mach dich gesund, sagte der Bär

Beltz 2004, € 12,90

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Itai–Itai–Krank|heit  〈f. 20; Med.〉 durch Schwermetallspuren ausgelöstes Ausscheiden von Calcium aus dem menschl. Knochengerüst mit der Folge einer Körperschrumpfung [zu jap. itai … mehr

SGML  〈IT; Abk. für engl.〉 Standard(ized) Generalized Mark–up Language, zur strukturierten Darstellung von gegliederten Texten genormte Auszeichnungssprache [engl.]

ein|keim|blätt|rig  〈Adj.; Bot.〉 mit nur einem Keimblatt versehen ● ~e Pflanze Angehörige einer Klasse der Bedecktsamer mit krautigen, baumartigen u. strauchigen Individuen, auch mit ausgesprochenem Baumwuchs: Monocotyledoneae; … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige