„Use it or loose it“ empfehlen Wissenschaftler gegen die alltägliche Hirnalterung. Doch wer als 50-Jähriger noch anfängt, Klavier zu spielen oder Italienisch zu lernen, wird feststellen, dass auch das trainierte Hirn schlapper geworden ist. Wie aber passiert das, was geht im Schädel vor? Warum haben wir im Seniorenalter noch einen umfassenden deutschen Wortschatz, beherrschen ohne nachzudenken die deutsche Grammatik, können aber neue Fremdsprachen nur noch mit Mühe lernen? Warum verliert man im Alter schneller die Orientierung, vergisst eher aktuelle Ereignisse, kann sich aber an vergangene Zeiten und vor langer Zeit besuchte Orte gut erinnern? Und wie lässt sich erklären, dass Sport und Bewegung anscheinend die grauen Zellen fit hält?
Während die Forschung über die Entwicklung vom kindlichen Gehirn viel weiß, ist das ganz normal alternde Gehirn ab etwa dem 40. Lebensjahr noch Terra incognita. Erst in den Neunzigerjahren begannen Forscher mit Einführung der Magnetresonanztomographie, die Entwicklung und Alterung des Hirns und der kognitiven Leistungen zu verfolgen. Durch frühere Studien wussten sie, dass das Gehirn im Alter schrumpft. Und sie nahmen an, dass seine Plastizität, also die Fähigkeit, neue Nervenverbindungen zu knüpfen, abnimmt. Die Daten der noch jungen Langzeitstudien sind zwar bislang relativ dünn, doch zeigen sie einen Trend: Die Hirnalterung ist viel komplizierter als gedacht. Sie verläuft individuell höchst unterschiedlich, ist über die Zeit nicht linear, und sie vollzieht sich je nach Hirnregion sehr unterschiedlich.
Neu und rätselhaft ist die Erkenntnis, dass die Schrumpfung des Denkorgans nicht, wie man bisher annahm, auf einem massiven Verlust von Nervenzellen (Neuronen) beruht. Tatsächlich büßt der Mensch zwischen voller Hirnentwicklung und Tod nur 10 Prozent seiner Neuronen ein. Der Hirnschwund geht im Wesentlichen auf den Verlust von weißer Gehirnsubstanz zurück. Diese weiße Substanz besteht vor allem aus der fettartigen Myelinschicht, die die Ausläufer von Nervenzellen umhüllt. Nur mit Myelin isolierte Nervenfortsätze können Reize ausreichend schnell leiten. Daraus könnte man schlussfolgern, dass mit zunehmendem Schwund der Isolationsschicht die Reizleitung – und damit auch das Denken – schlichtweg langsamer wird. Ob das tatsächlich der Fall ist, wird derzeit untersucht.
Der Neuronenverlust geht übrigens nicht unbedingt mit einem kognitiven Leistungsabfall einher, nicht einmal im Hippocampus, der Zentrale für die Koordination des episodischen Gedächtnisses und der Orientierung. Obwohl diese kognitiven Leistungen im Alter mehr leiden als andere Fähigkeiten, fanden die Forscher bisher kein auffällig massives Neuronensterben. Aber sie entdeckten subtilere Veränderungen an den Nervenzellen, etwa Veränderungen in der Zellmorphologie, der zellulären Vernetzung und der Kalziumströme.
Die bisherigen Erkenntnisse betreffen nur die „normale“ Alterung, sie erklären nicht das individuelle Altern. Mysteriös ist nach wie vor, warum das Gehirn überhaupt altert. Dazu gibt es mannigfaltige Theorien: Einige Forscher glauben, dass spezielle Alterungs-Gene angeschaltet werden, andere meinen, dass genetische Mutationen das Denkorgan schädigen. Wieder andere postulieren negative Einflüsse der Hormone, des Immunsystems oder freier Radikale. Übereinstimmung herrscht lediglich darin, dass sich keine der Theorien als widerlegt ad acta legen lässt.
Es gibt übrigens auch gute Nachrichten vom alternden Hirn: Die lange gültige Lehrmeinung, wonach im Alter keine neuen Nervenzellen entstehen können, ist überholt. Bekannt ist: Neue Neuronen können nach Verletzungen entstehen. Die dafür nötigen Stammzellen fand man im Hippocampus und im Riechkolben. In den Hinterhautlappen, den Occipitallappen, in denen unter anderem das primäre Sehzentrum angesiedelt ist, suchten Forscher allerdings vergeblich nach neuen Neuronen. Jegliche Plastizität in diesen Arealen funktioniert also, indem sich neue Nervenverbindungen bilden. Auch im Alter ist das Gehirn noch plastisch, wenn auch weniger als in der Jugend. Studien mit Profimusikern zeigen, dass Expertenwissen bis ins hohe Alter genutzt und auch ausgebaut werden kann. In den Hirnen alternder Ratten bilden sich neue Neuronen, wenn die Tiere in abwechslungsreicher Umgebung leben.
Und: Ältere Menschen können Informationen besser miteinander verknüpfen und analysieren. Die Wand zwischen den Hirnhälften fällt, die Hemisphären arbeiten zunehmend gemeinschaftlich – vielleicht kompensiert das Hirn so die sinkende Leistungsfähigkeit. Auch das Temperament passt sich den kognitiven Fähigkeiten an – man lässt sich nicht mehr so schnell frustrieren und kann besser mit Unsicherheit umgehen.
Emotionale, negative Empfindungen verknüpft das ältere Hirn anscheinend mit bewusstem Denken im Stirnhirn. Dieses besondere neurale Netz führt dazu, dass viele Ältere positive Informationen bewusster wahrnehmen und negative Ereignisse dagegen unterdrücken. Dass Menschen im Alter oft gelassener sind als in der Jugend, haben sie demnach ihrer Hirnstruktur zu verdanken. Karin Hollricher ■