Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Der Dreh mit der Netzhaut

Allgemein

Der Dreh mit der Netzhaut
Durch eine ungewöhnliche Operation retten Leipziger Augenärzte Menschen vor dem Erblinden.

Bei Margot Reuss aus Bitterfeld fing es ganz langsam an: Alles, was sie sah, wurde unschärfer und grauer. „Dann ging es plötzlich rapide abwärts mit meiner Sehkraft“, erinnert sich die 82-Jährige. „Ich kriegte trotz Brille keinen Faden ins Nadelöhr, und Lesen ging selbst mit der stärksten Lupe nicht mehr. Später traute ich mich nicht mal mehr über die Straße, weil ich die Ampel nicht erkennen konnte.“ Die Diagnose ließ wenig Raum für Hoffnung: Altersbedingte Makula-Degeneration (AMD) – eine tückische Augenerkrankung, die bei aggressivem Verlauf innerhalb von Tagen oder Wochen zur Erblindung führen kann.

Margot Reuss litt an dieser aggressiven Variante, der so genannten feuchten Form der AMD. Ihr linkes Auge war fast blind und nicht mehr zu retten. Durch eine komplizierte Operation, erklärten ihr die Ärzte damals, gäbe es aber für das rechte Auge noch eine Chance. Doch das Risiko, durch den Eingriff zu erblinden, lag bei etwa 30 Prozent. Angesichts der nachtschwarzen Bedrohung entschloss sich Margot Reuss, das Wagnis einzugehen.

„Die Ursachen der AMD liegen hinter der Netzhaut“, sagt Peter Wiedemann, Chef der Universitätsaugenklinik in Leipzig. Dort kommt es, meist jenseits des 50. Lebensjahres, zu krankhaften Veränderungen. Die Gewebeschichten des Augenhintergrundes – Aderhaut und Pigmentepithel – versorgen die Netzhaut mit Nährstoffen und Sauerstoff. „Ist dieser Austauschprozess gestört, werden die Photorezeptoren in der Netzhaut ausgehungert und sterben langsam ab“, erklärt Wiedemann.

Bei der aggressiven feuchten Form der AMD versucht der Organismus, die mangelhafte Versorgung der Netzhaut durch Bildung neuer Blutgefäße aus der Aderhaut auszugleichen. „Das führt meist zu einer überschießenden Heilungsreaktion, bei der die Gefäße unter der Netzhaut ungestüm zu wuchern anfangen. Dann gerät das empfindliche Gleichgewicht der Nährstoffversorgung vollends aus den Fugen“, sagt Wiedemann. „Die Photorezeptoren degenerieren innerhalb sehr kurzer Zeit.“

Anzeige

Das Wuchern der Adern ist dabei auf jene Region des Augenhintergrundes begrenzt, die die so genannte Makula mit Blut versorgt. Die Makula – auch „Gelber Fleck“ genannt – ist der Fleck des schärfsten Sehens auf der Netzhaut: ein winziges Areal von wenig mehr als einem Millimeter Durchmesser, das für die Wahrnehmung von Farben und Kontrasten zuständig ist. Hier entsteht das Bild mit der schärfsten Auflösung. Alles, was wir fixieren, um es genauer zu betrachten, wird auf der Makula abgebildet.

Der chirurgische Eingriff sieht eine Drehung der gesamten Netzhaut vor. Dadurch kommt der Fleck des schärfsten Sehens auf einem gesunden Augenhintergrund zu liegen, und seine Photorezeptoren entgehen dem drohenden Hungertod. Diese heilsame Ortsveränderung der Makula ist möglich, weil sie sich nicht genau im Zentrum der fast kreisrunden Netzhaut befindet, sondern etwas seitlich davon in Richtung Schläfe. Die Operation erfordert ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl. „Der schwierigste Schritt ist, das fragile Sehhäutchen vom Augenhintergrund abzulösen, mit dem es sehr fest verhaftet ist“, erklärt Wiedemann.

Um die Netzhaut mit den Instrumenten besser erreichen zu können, entfernt man zunächst den Glaskörper vor ihr. Dann wird das hauchdünne Sehgewebe mit einer kleinen Schere an den Rändern vollständig kreisrund eingeschnitten und mit einer kalziumfreien Infusionslösung gespült. Sie löst die Klebstoff-Moleküle zwischen Netzhaut und Gewebeschichten des Augenhintergrundes. Erst dann kann die Netzhaut abgelöst und um etwa 20 Grad gedreht wieder aufgesetzt werden.

Das Risiko der OP liegt maßgeblich in der Ablösung der Netzhaut. „Wenn dabei zu viele Photorezeptoren zerstört werden, haben wir nichts gewonnen“, erläutert Wiedemann, „denn mit zerrissenen Rezeptorzellen kann man ebenso wenig sehen wie mit verhungernden.“ Mehrere deutsche Kliniken versuchen dieses Problem zu lösen (siehe bild der wissenschaft 7/2003, „Rettung für den Gelben Fleck“ in medinfo).

Die Leipziger Mediziner haben eine kalzium- und magnesiumfreie Infusionslösung entwickelt. Mit ihr kann die Netzhaut schneller und schonender abgelöst werden als mit den herkömmlichen Infusionslösungen. Die Idee entstand in Diskussionen mit dem Leipziger Neurophysiologen Andreas Reichenbach, der den Trick im Labor schon lange anwendet, um Netzhäute von Kaninchenaugen zu isolieren. „Also beschlossen wir, die Methode bei Patienten einzusetzen – und es hat funktioniert“, freut sich Wiedemann.

Doch mit der Drehung der Netzhaut alleine ist es nicht getan. Durch die Ortsveränderung der Makula entsteht in den Sehzentren des Gehirns ein schräg gestelltes Bild. Damit der Patient nach dem Eingriff nicht alles doppelt sieht, muss der Fleck des schärfsten Sehens in seiner räumlichen Ausrichtung wieder auf die ursprüngliche Position gebracht werden. Deshalb wird nach der Drehung der Netzhaut der gesamte Augapfel – um eben jene 20 Grad in die Gegenrichtung verdreht – neu an die Augenmuskeln angenäht. Zum Abschluss füllen die Ärzte das Augeninnere mit Silikonöl auf, um den zu Beginn der Operation entfernten Glaskörper zu ersetzen. Dadurch wird die Netzhaut am Augenhintergrund gehalten, und die Zellkleber können die Gewebeschichten wieder fest miteinander verkitten.

Margot Reuss hatte Glück: Als sie aus der Narkose erwachte, erblickte sie ein helles Leuchten. „Aber ich sah nicht nur das Licht, ich sah sogar die Lampe, aus der es kam“, berichtet die rüstige Rentnerin stolz. Die bestandene Sehprobe erfüllte nicht nur sie, sondern auch die Ärzte mit großer Freude. „Heute kann ich sogar wieder lesen“, sagt Margot Reuss. Und nur beim Fernsehen sieht sie zuweilen ein doppeltes Bild – ein Zeichen dafür, dass es niemals gelingt, die Makula wieder ganz exakt zu positionieren.

„Alternativ zu dieser Methode kann man die wuchernden Gefäße auch mit Laserstrahlen veröden“, sagt Wiedemann. Bei dieser photodynamischen Therapie wird dem Patienten ein Medikament ins Blut gespritzt, das die Gefäße für den Laserstrahl empfindlich macht. Diese Behandlung verlangsamt das Fortschreiten der Krankheit. Sie muss bei den meisten Patienten innerhalb der ersten zwei Jahre bis zu sechsmal wiederholt werden.

Beide Arten der Behandlung bekämpfen jedoch nur die Symptome der AMD und nicht ihre Ursachen. „Hier sind die Wissenschaftler gefragt“, betont Wiedemann. „Sie müssen herausfinden, warum die Gefäße unter der Makula zu wuchern anfangen. Wenn das geklärt ist, können wir gemeinsam nach besseren Therapieansätzen suchen.“

Sylvia Pieplow

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Dossiers
Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Esels|rü|cken  〈m. 4; Arch.〉 eine spätgot. Bogenform, steile Form des Kielbogens, spitzer, etwas geschweifter Bogen

Hohl|spie|gel  〈m. 5; Opt.〉 Spiegel mit nach innen gewölbter Fläche, der das Spiegelbild vergrößert; Sy Konkavspiegel … mehr

Pflan|zen|geo|gra|phie  〈f. 19; unz.〉 = Pflanzengeografie

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige