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Per Anhalter durchs Sonnensystem

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Per Anhalter durchs Sonnensystem
Paderborner Mathematiker tüfteln an energiesparenden Flugbahnen für Raumsonden.

Es hört sich an wie Science-Fiction: Ein Raumschiff fliegt jahrelang durchs All und schließlich zur Erde zurück, ohne unterwegs ein einziges Mal seinen Raketenantrieb benötigt zu haben. Mit ihrer Sonde Genesis ist die amerikanische Raumfahrtagentur NASA dieser Vision sehr nahe gekommen. Genesis sammelt seit Ende 2001 auf einer sorgfältig berechneten Flugbahn Partikel des Sonnenwindes ein. Im September 2004 soll sie diesen Sonnenstaub zur Erde bringen. Mit der Analyse der wenigen Milligramm Wasserstoff und Helium sowie von Spuren schwererer Elemente wollen Wissenschaftler ergründen, wie unser Sonnensystem entstanden ist. Genesis fliegt auf so genannten Verbindungsbahnen: extrem energiesparenden Routen, die zwar lang sind, aber die Gravitationsverhältnisse im Sonnensystem so ausnutzen, dass ganz neue finanzielle und wissenschaftlich-technische Spielräume entstehen.

Einmal eingeschlagen verfolgt die Sonde diese Route von selbst, angetrieben durch die Schwerkraft von Sonne und Erde. „ Wenn wir die Mission ohne den kleinsten Fehler berechnen könnten, hätte das Raumfahrzeug den gesamten Weg zurückgelegt, ohne ein einziges Mal die Triebwerke zu zünden“, sagt Martin Lo vom Jet Propulsion Laboratory der NASA. Da es aber nur Näherungslösungen gibt, sind von Zeit zu Zeit Kurskorrekturen notwendig.

Zu dem internationalen Team, das die Reiseroute von Genesis ausgetüftelt hat, gehörten auch Wissenschaftler von der Universität Paderborn unter der Leitung von Michael Dellnitz. Der Mathematik-Professor vergleicht die Verbindungsbahnen mit dem Weg eines idealen – das heißt reibungslosen – Pendels, das senkrecht nach oben steht. In dieser instabilen Lage genügt den Gesetzen der Physik zufolge ein kleiner Schubs, und das Pendel schwingt einmal herum, um schließlich wieder in die Ausgangsstellung zurückzukehren. Ähnlich könne man sich die Verbindungsbahnen vorstellen, denen das Raumschiff folgt, ohne dazu selbst Energie einsetzen zu müssen, so Dellnitz. Sie seien energetisch günstig, aber aufgrund der Instabilität schwierig zu berechnen.

Um solche treibstoffsparenden Flugbahnen zu finden, genügt es nicht, wie bis vor kurzem üblich, nur zwei Objekte zu betrachten – etwa die Raumsonde und die Erde oder die Sonde und die Sonne. Stattdessen mussten Mathematiker erst das so genannte Drei-Körper-Problem meistern, das bis vor wenigen Jahren als unlösbar galt: Wie bewegen sich drei Körper – etwa Raumschiff, Erde und Sonne – unter dem Einfluss der gegenseitig wirkenden Schwerkräfte?

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Die Natur muss dieses Problem nicht lösen – sie verhält sich einfach so, wie es das Gravitationsgesetz näherungsweise beschreibt. Doch dieses Verhalten zu berechnen, bereitet den Himmelsmechanikern seit langem Kopfzerbrechen, weil es keine geschlossene Formel gibt, um das Ergebnis auszurechnen – stattdessen sind Näherungs- und Störungsrechnungen nötig, bei denen die Zwischenergebnisse immer wieder als Ausgangspunkte für weitere Rechnungen dienen (iteratives Verfahren).

Schon vor mehr als 100 Jahren bewies Henri Poincaré, dass es prinzipiell unmöglich ist, die Flugbahnen dreier sich gegenseitig beeinflussender Massen exakt zu berechnen. Der französische Mathematiker wollte dies mit Papier und Stift bewerkstelligen. „ Mit Hilfe von Computern und ausgeklügelten Verfahren können wir heute die Bahnen zumindest näherungsweise ermitteln“, erklärt Dellnitz. „So lassen sich Missionen fliegen, die früher gar nicht denkbar waren.“

Der Trick: Da das Raumfahrzeug sehr klein ist, kann seine Wirkung auf die beiden anderen Körper vernachlässigt werden. Die Forscher nehmen daher vereinfachend an, dass Sonne und Erde um ihren gemeinsamen Schwerpunkt kreisen, während die Raumsonde durch die Gravitation der beiden beschleunigt wird.

Auch eine Tour entlang der Monde des Jupiter wäre so möglich: Sie wäre wissenschaftlich besonders interessant, weil auf manchen der Monde Bedingungen herrschen, die Leben ermöglichen könnten – in Ozeanen unter den Eispanzern. Martin Lo brütet bereits über einer NASA-Mission mit dem Namen „Jupiter Icy Moons Orbiter“.

Selbst bei einer Reise zum Mond ließe sich auf Verbindungsbahnen Treibstoff sparen. „Allerdings wäre ein Raumschiff dann länger unterwegs“, betont Dellnitz. Denn die Bahnen winden sich in vielen Kurven durch den Weltraum. Kürzeste Strecken bieten sie nicht. Doch ist eine Raumsonde erst mal ins All geschossen, braucht sie auf ihnen kaum Antriebsenergie, um durch unser Sonnensystem zu fliegen. Konkret benötigt sie nur einen Bruchteil derjenigen, die auf klassischen Bahnen nötig wäre, bei denen neben der Sonde nur ein Himmelskörper bei der Bahnberechnung berücksichtigt wird.

Eine Schlüsselstellung in den Berechnungen von Dellnitz und Lo nehmen die Orte ein, an denen sich sämtliche Kräfte gegenseitig ausgleichen. Dort würde ein Raumschiff seine Position relativ zu Sonne und Erde nicht verändern. Der italienische Mathematiker Joseph Louis Lagrange erkannte bereits vor rund 200 Jahren, dass es genau fünf solcher Orte gibt. Ihm zu Ehren werden sie Lagrange-Punkte genannt.

Die Genesis-Sonde kreist derzeit um einen dieser Punkte, der 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt zwischen Sonne und Erde liegt. Zu einem anderen Lagrange-Punkt könnte in einigen Jahren eine ehrgeizige Mission der europäischen Weltraumagentur ESA namens Darwin starten. Darwin soll aus sechs Raumsonden mit Teleskopen an Bord bestehen, die sich gemeinsam auf die Suche nach erdähnlichen Planeten in anderen Sonnensystemen begeben. Einen Planeten neben dem gleißenden Licht einer Sonne auszumachen, ist in etwa damit vergleichbar, aus 1000 Kilometer Entfernung eine Kerze neben einem Leuchtturm erkennen zu wollen. Am besten geeignet für diese Aufgabe sind Infrarot-Aufnahmen von mehreren miteinander gekoppelten Teleskopen im All. Dazu müssen die Abstände zwischen den Teleskopen aber millimetergenau bestimmt sein. Dellnitz‘ Arbeitsgruppe hat bereits eine Flugbahn kalkuliert, auf der die Teleskope mit geringem Aufwand beieinander gehalten werden können. Lo arbeitet an der Route für ein ähnliches Unternehmen namens Terrestrial Planet Finder, das die NASA plant.

Beim Drei-Körper-Problem tritt das auf, was Mathematiker unter Chaos verstehen: Die kleinste Veränderung an der Flugbahn kann sich zu riesigen Abweichungen aufschaukeln. „Wenn man das Raumschiff nur anpustet, kann das dazu führen, dass es davonfliegt und nie mehr zurückkehrt“, erklärt Lo. Doch allmählich gelingt es den Forschern, das Chaos in den Griff zu bekommen. Lo und Dellnitz reden von einem Paradigmenwechsel, der bevorstehe. Neue mathematische Theorien und ausreichend Computerpower werden die Raumfahrtindustrie revolutionieren – und nicht nur sie.

Bisher arbeiten die Forscher in der Regel mit Gleichungen, die ein stark vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit darstellen, dafür aber relativ leicht handzuhaben sind. Nun versuchen sie sich zunehmend an Ansätzen, die die Realität viel genauer widerspiegeln, bei denen sich indes kleine Fehler zu fatalen Auswirkungen aufschaukeln können. Beispiele sind Meeresströmungen, Erdbeben oder Anwendungen der Automechanik. Zumindest bei den Flugbahnberechnungen habe die neu entwickelte Mathematik das Chaos beherrschbar gemacht, meint Lo: „Genesis ist der Führer in diese schöne neue Welt.“

Nicht nur Genesis und künftige Raumsonden fliegen auf Verbindungsbahnen. Kometen und Planetoiden sausen ebenfalls auf ihnen entlang. Für Martin Lo ist unser Sonnensystem von einem Netz sich windender Tunnel durchzogen, die den Kuiper-Gürtel jenseits des Pluto mit allen Planeten und der Sonne verbinden.

Nikolaus Kopernikus und Johannes Kepler haben Planeten beschrieben, die isoliert voneinander um die Sonne kreisen. Doch in Wirklichkeit schwirren Kometen und Planetoiden kreuz und quer durch das Sonnensystem. Lo spricht von „interplanetaren Superhighways“: „Einige Planetoiden dürften eine ähnliche Flugbahn nehmen wie Genesis.“ So könnte etwa der Killer-Meteorit, der das Aussterben der Dinosaurier verursacht hat, auf diesem Weg gekommen sein. Das Wissen über solche Flugbahnen ließe sich nutzen, um künftige Meteoriten auf Erdkurs gezielt abzulenken. Los kühne Vision: „Noch fantastischer: Man könnte sie dauerhaft einfangen und ihre Bodenschätze abbauen.“

Wolfgang Blum

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