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Deutschland in der SteinzeitDie Herren der Ringe

Allgemein

Deutschland in der SteinzeitDie Herren der Ringe
Stonehenge auf Deutsch – aber 3000 Jahre früher: Sachsen ist neben Bayern und Sachsen-Anhalt zu einem rituellen Zentrum der Jungsteinzeit geworden. Hier konzentrieren sich die meisten der neu entdeckten, 7000 Jahre alten Kreisgrabenanlagen.

Zehn Mann hat die Gemeinschaft bestimmt. Sie sollen um das Allerheiligste einen Graben ausheben – zweieinhalb Meter tief, drei Meter breit. Fast 100 Tage brauchen die Männer, bis sich der Kreis nach mehr als 200 Metern schließt. In den nächsten Jahren folgen drei weitere Gräben, konzentrisch um den ersten gelegt. Insgesamt schleppen die Steinzeitler 400000 Zehn-Liter-Eimer Erde beiseite.

Die Zeit: 4500 Jahre v.Chr. Das Ergebnis: eine der ältesten monumentalen Kultanlagen Europas – 3000 Jahre vor Stonehenge.

Der Autobahnbau im Dresdener Stadtteil Nickern hatte das religiöse Bauwerk der Vorzeit freigelegt. Zwei Jahre lang konnte Dr. Harald Stäuble die einmalige Kreisgrabenanlage aus der mittleren Jungsteinzeit so großflächig untersuchen, wie das vorher kaum irgendwo geschehen ist. Der Archäologe des sächsischen Landesamts für Archäologie ist von der Leistung der steinzeitlichen Erbauer tief beeindruckt: „Die Dresdener Anlage gehört zu den größten ihrer Zeit.“

Der Ausgräber kennt inzwischen den Lebenslauf des Heiligtums im Detail. Die Anfänge – noch in Leichtbauweise – waren vermutlich zwei Holzzäune. Die große Anlage begannen die Steinzeitler mit dem inneren Graben, um den sie drei weitere Kreise legten. Der äußerste Graben hat 123 Meter Durchmesser, der innerste 68 Meter. „Der Arbeitsaufwand war aber für alle vier Gräben gleich“, hat Stäuble errechnet. Denn es wurden annähernd die gleichen Erdmassen bewegt: Die kleineren inneren Gräben waren tiefer als die äußeren.

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Stäuble: „Die Arbeitszeit war die Einheit, nicht die Größe der Gräben. Es hieß: Ihr zehn Leute habt drei Monate Zeit, und ihr baut jetzt einen Graben.“ Die Arbeiter von ihren eigentlichen Aufgaben – der Nahrungsmittelproduktion – freizustellen, war das größte Opfer der Gemeinschaft. Länger als drei Monate auf die Arbeitskraft von zehn Menschen zu verzichten, wäre für die bäuerliche Gesellschaft der Steinzeit nicht tragbar gewesen.

„Die Grabenanlagen sehen sehr regelmäßig aus, sind es aber nicht. Sie waren perfekt geplant, aber in der Durchführung schlampig“, stellt der Ausgräber fest. Sie sind nicht kreisförmig, sondern eher Vierecke mit abgerundeten Ecken: Nach relativ geraden Strecken biegen die Gräben abrupt ab und nähern sich wieder der Kreisform an. Hatte man einzelne Trupps losgeschickt, die erst an den Ecken wieder zusammenfanden?

Die Bauarbeiten zogen sich über Jahre hin. Regenfälle hatten in die – lange offen liegenden – inneren Gräben so viel Erde rutschen lassen, dass diese mehrfach ausgebessert werden mussten. Den innersten hatten die jungsteinzeitlichen Erbauer in einer Sisyphus-Arbeit zweimal neu ausgehoben, den zweiten einmal erneuert. Die gesamte Anlage wurde mit großem Aufwand instand gehalten. Nach wenigen Jahren aber ereilte alle Gräben dasselbe Schicksal: Sie wurden absichtlich zugeschüttet, dem Erdboden gleichgemacht. Das Heiligtum wurde aufgegeben. Stäuble ist ratlos: „Warum?“ Keiner weiß es.

Sachsen mausert sich zu einem wahren Kultzentrum. Die Vierkreisanlage in Nickern steht nicht allein. Nur wenige Hundert Meter entfernt sind drei weitere Grabenwerke entdeckt worden. In Zwenkau bei Leipzig brachte der Braunkohletagebau zwei, eventuell sogar drei ebenso alte Anlagen zum Vorschein. Und im nicht weit entfernten Kyhna sind im Luftbild weitere vier Rondelle in den Kornfeldern zu erkennen.

Bisher kannte man solche vorgeschichtlichen Denkmäler hauptsächlich in Bayern und – vor allem – in Österreich, Tschechien, der Slowakei und Nordungarn. Nördlich der deutschen Mittelgebirge waren die Fundkarten leer. Erst nach der Vereinigung wurde Luftbildarchäologie auch im Osten Deutschlands möglich. Hilfreich waren Großprojekte wie Autobahntrassierungen und Braunkohletagebau, die riesige Flächen freilegten. Denn nur mit einem weiten Blick lassen sich die Monumentalbauten erkennen.

In Bayern wurden mit den Anfängen der Luftbildarchäologie 1977 die ersten prähistorischen Kreisgrabenanlagen identifiziert. Seit Anfang der achtziger Jahre erforscht Dr. Helmut Becker alle bayerischen Kreisgräben mit geomagnetischen Messungen. Der Leiter des Referats Archäologische Prospektion und Luftbildarchäologie am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege untersuchte in Niederbayern acht Kreisanlagen. Sie liegen vereinzelt, Kilometer voneinander entfernt. Wie die Kirche im Dorf, bildete das Grabenwerk den Mittelpunkt einer mehrere Hektar großen Siedlung, die mit einer Holzpalisade gegen die Außenwelt abgeschirmt war.

Das größte bayerische Bauwerk ist die Kreisgrabenanlage von Unternberg-Künzing. Knochenfunde und Holzkohlereste bestimmen den Baubeginn: 4800 bis 4600 v.Chr. Das Rondell hat einen Durchmesser von 100 Metern und besteht aus zwei inneren Holzzäunen und zwei fünf Meter tiefen Gräben. Für das Ausheben des auffällig tiefen Doppelgrabens und die Errichtung der Palisaden aus rund 2000 Stämmen errechneten die Archäologen einen Aufwand von mindestens 3300 Manntagen: Die zehn sächsischen Bauarbeiter von Nickern hätten für dreieinhalb Jahre abkommandiert werden müssen.

Auch die Gräben in Künzing sind über viele Jahre gepflegt und immer wieder ausgebessert worden. Aber nach etwa zwei Generationen wurde die Anlage plötzlich, noch während der Ausbesserungsarbeiten, aufgegeben. Stattdessen errichteten die bayerischen Steinzeitler einen kleineren Holzzaunkreis. Fehlten die Arbeitskräfte für Größeres?

Bei der Ausgrabung kam schön bemalte Keramik zum Vorschein, die aus Mähren stammte. Der Import unterstreicht eine auch geistige Verbindung und die Wanderung von Ideen zwischen Bayern, Sachsen und der Slowakei: Vor über sechseinhalb Jahrtausenden schufen Menschen in dieser Region ideengleiche Kultanlagen aus Gräben, Wällen und Holzpalisaden. Zu der Zeit war Stonehenge noch nicht einmal angedacht. In seiner heute bekannten Form entstand es erst um 1500 v.Chr. Da waren die deutschen Kreisgrabenanlagen schon längst „veraltet“, zugeschüttet und vergessen.

„Stichbandkeramik“ nennen die Archäologen die jungsteinzeitliche Kultur, die derartig aufwendige sakrale Stätten errichtete. Die Verzierung ihres Geschirrs mit Schmuckbändern aus einzelnen Einstichen gaben den Namenlosen eine wissenschaftliche Identität. Die Kreisgrabenanlagen in Österreich, Tschechien und der Slowakei wurden von anderen steinzeitlichen Gruppen errichtet. Die dortige „Lengyel-Kultur“ verzierte ihre Keramik mit bunter Bemalung. Im geistig-kulturellen Bereich aber gab es deutliche Übereinstimmungen – wie die gewaltigen Anstrengungen mit den monumentalen Kultbauten belegen: eine Religionsgemeinschaft, die in engem Kontakt stand?

Bei den Grabenwerken in der Zeit vor und nach den Stichbandkeramikern ist die Frage nach dem „Wofür“ einfacher zu beantworten: Sie bildeten meist nur die schützende Umfriedung einer Siedlung. In den stichbandkeramischen Anlagen dagegen finden die Archäologen keine Siedlungsspuren wie Häuser oder Abfallgruben. Die Areale sind leer. Als wehrhafter Zufluchtsort liegen sie zu ungünstig im Gelände, für einen Viehkral sind sie zu aufwendig. Was war dann ihre Funktion im 5. Jahrtausend v.Chr.? Antworten gibt es viele, Gewissheiten wenige.

Die meisten Interpretationen gehen in Richtung einer kultischen Nutzung. Bayerns Kreisforscher Becker stellt aufgrund seiner Messungen spezielle Überlegungen an: Sein liebstes Kind liegt im niederbayerischen Meisternthal. Die kleine Anlage (45 mal 36,5 Meter) mit nur einem Graben ist auf dem Messbild als Ellipse zu erkennen. Wenn eine geometrisch berechnete Ellipse darüber projiziert wird, decken sich die beiden fast haargenau. Becker: „Das ist kein misslungener Kreis, das ist eine bewusste Konstruktion.“ Die Tore der Anlage markieren Sonnenauf- und Sonnenuntergang an den Tag- und Nachtgleichen im Frühjahr und Herbst. Auch diese Ausrichtung ist zu exakt, als dass sie Zufall sein könnte. Der Münchner Archäologe ist überzeugt, dass in diesem Rondell auch die Sonnenwendtage und andere Kalendertage festgehalten sind. „Der Baumeister hatte den Auftrag, einen Bau zu entwerfen, der die wichtigsten Fixpunkte des Sonnenjahres beinhaltet. Meisternthal ist eine Meisterleistung.“ Mit dem Meisternthaler Rondell ist die erste bewusst konstruierte Ellipse gefunden worden.

Das Wichtige aber ist für Becker, „dass in Meisternthal der Versuch gemacht wurde, die Zeit zu fixieren. Indem die vier großen Sonnenstationen festgehalten wurden, haben Menschen hier zum ersten Mal nachweisbar die Zeit festgehalten“ – 4500 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung. Becker: „Ein Riesenschritt in der Kulturgeschichte!“

Eine Funktion als Kalenderbau konnte er allerdings nur in Meisternthal nachweisen. Die anderen Kreisanlagen Niederbayerns kennzeichnen meist allein die Sonnenwende. Wenn auch andere Forscher Beckers Theorie eines ausgefeilten Kalenderbaus eher skeptisch gegenüberstehen, ist doch sicher: Die stichbandkeramischen Anlagen in Bayern sind nach astronomischen Gesichtspunkten ausgerichtet.

Auch in Sachsen-Anhalt wurden bei Lufterkundungen Anfang der neunziger Jahre zwei prähistorische Kreise aufgespürt. In Goseck erforscht Prof. François Bertemes mit seinen Studenten seit 2002 eine spektakuläre stichbandkeramische Anlage. Bis 2007 soll sie in Gänze freigelegt sein. Doch bereits die bisherigen Ergebnisse lassen den Archäologen von der Universität Halle-Wittenberg vom „ ältesten Sonnenobservatorium Europas“ sprechen. Durch zwei der drei Eingänge in den Kreiswall ist am Tag der Wintersonnenwende der Sonnenauf- beziehungsweise -untergang zu beobachten. Der Gedanke scheint naheliegend, dass die „Himmelsscheibe von Nebra“ diesen astronomischen Kult fortsetzen könnte – doch die als erste Himmelskarte gedeutete Bronzescheibe mit ihren goldenen Gestirnen ist erst fast 3500 Jahre später geschaffen worden.

Der Goseck-Kreis ist weniger aufwendig gestaltet als die Vierfachanlage in Nickern. Dafür werfen zwei Gräber in seinem Inneren ein Licht auf die Rituale der Steinzeitler. An den menschlichen Skelettresten stellten die Archäologen Spuren von Fleischabschabungen fest. Bertemes sieht das als Beweis für blutige Opfer im Sonnenheiligtum.

Die Deutung als Sonnentempel ist jedoch nicht bei sämtlichen stichbandkeramischen Kreisgrabenanlagen plausibel. Der Dresdener Ausgräber Stäuble bezweifelt sogar generell solche astronomischen Ausrichtungen. Er hat sämtliche deutschen stichbandkeramischen Kreisbauten untersucht – es waren fast alle Himmelsrichtungen vertreten. „Da kann man die Sonne sozusagen jeden Tag im Jahr irgendwo beobachten.“ Schon die vier Nickern-Kreise sind jeweils unterschiedlich ausgerichtet.

Harald Stäuble resümiert: „Es ist falsch, die Anlagen auf eine Funktion zu reduzieren. Sie haben eine bedeutende zentrale Funktion gehabt, sie waren Treffpunkt für viele Aktivitäten – genau wie im Mittelalter der Marktplatz. Dort hat man auch Markt gehalten, den Zirkus besucht oder Leute geköpft.“

 

KOMPAKT

• Kreisgrabenanlagen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Bayern gehören zur ältesten Monumentalarchitektur der Menschheit. • Schon 3000 Jahre vor Stonehenge gab es hierzulande vergleichbare Kultbauten. • Die Gelehrten streiten sich: Sonnentempel oder Marktplatz?

Almut Bick

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