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Invasion der Würmer

Allgemein

Invasion der Würmer
Der Regenwurm, Liebling aller deutschen Gärtner, betreibt Kahlfraß in amerikanischen Wäldern und bedroht dort Pflanzen und Tiere.

Frühling im US-amerikanischen Minnesota Chippewa National Forest: Sonnenstrahlen dringen durch die noch unbelaubten Baumkronen bis auf den Waldboden. Doch wo ihnen bisher Wildkräuter die Blüten entgegen streckten, liegt die Erde brach. Stattdessen tummelt sich in der Erde grabend und wühlend ein in anderen Teilen der Welt gern gesehener Gast: der Regenwurm.

Hier in Nordamerika jedoch steht der fleißige Gräber seit kurzem auf der Fahndungsliste. Vorgeworfen wird ihm: Unbefugtes Eindringen in fremdes Territorium, übermäßige Gefräßigkeit und die Vernichtung eines Ökosystems.

Bereits seit zwei Jahrzehnten beobachten Anwohner und Förster in den USA an verschiedenen Stellen, dass die Nickende Waldlilie und andere Krautpflanzen ohne ersichtlichen Grund verschwinden. Erst Mitte der neunziger Jahre gerieten die Regenwürmer in Verdacht, schuld daran zu sein. „Bis dahin war den meisten nordamerikanischen Waldökologen nicht einmal klar, dass unsere Regenwürmer gar nicht einheimisch sind”, sagt die Ökologin Dr. Cindy Hale. Sie arbeitet seit 1998 am Forschungsinstitut für natürliche Ressourcen der University of Minnesota und untersucht den Einfluss des Wurms auf die amerikanische Pflanzenwelt.

Am Pranger stehen nicht amerikanische, sondern europäische Regenwürmer. Die einheimischen Regenwurmarten verschwanden vermutlich während der letzten Eiszeit aus großen Teilen Kanadas und dem Norden der USA, als gewaltige Gletschermassen das Land bedeckten. Auch nach dem Schmelzen der Gletscher vor etwa 12000 Jahren haben einheimische Arten das Land kaum zurückerobert. Die anpassungsfähigeren europäischen Regenwurmarten hatten es leichter: Als blinde Passagiere reisten sie in Form von Kokons in Wurzelballen und Tierhufen auf den Schiffen der weißen Siedler in die Neue Welt, wo sie sich in Gärten und Äckern breit machten. Lange fiel niemandem auf, dass die Bodenwühler eigentlich exotische Immigranten sind: Auch in den USA galt der Regenwurm bisher als Humus herstellender Nützling. „Und was die Wälder angeht”, berichtet Hale, „wurden in den letzten 20 Jahren sogar wilde Theorien aufgestellt, weshalb an vielen Stellen keine Würmer zu finden sind.”

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Den Weg in die Wälder finden die Regenwürmer erst seit einigen Jahrzehnten: Von alleine breiten sie sich nur langsam aus, weiter als fünf bis zehn Meter pro Jahr kommen sie nicht. Wie schon bei ihrer Einschleppung, spielt der Mensch auch bei ihrer Invasion in die Wälder die entscheidende Rolle: Neben Waldfahrzeugen, erzählt Hale, sind Angler die wichtigsten Verbreiter der europäischen Würmer, deren Zucht als Köder- und Kompostwürmer in Amerika ein eigener Industriezweig ist. „Und nach so manchem Angelausflug wird den übrig gebliebenen Ködern die Freiheit geschenkt – nach dem Motto: Würmer gehören doch schließlich in die Erde.” Auf diese Weise erobern sie die Wälder besonders von Seeufern aus, die es im Nordosten der USA reichlich gibt.

Was der „rege Wurm”, wie der Regenwurm in Deutschland im 17. Jahrhundert genannt wurde, in diesen Wäldern vorfindet, ist für ihn das gefundene Fressen: In den Laubwäldern Nordamerikas sammeln sich die herabfallenden Blätter Jahr für Jahr zu einer immer höheren Streuauflage an – denn seit 12000 Jahren war hier kein Wurm, der wie in europäischen Wäldern für einen raschen Abbau gesorgt hätte. Die einzigen einheimischen Laubzersetzer waren Pilze und Mikroorganismen. Durch den langsamen Abbau entstanden verschiedene Schichten: zuunterst die Mineralerde, die nach oben in den Waldboden aus bereits halb kompostierten Blättern übergeht. Die darauf liegende bis zu zehn Zentimeter dicke Laubstreuschicht bewohnen Pflanzen und Tiere, die auf diesen Lebensraum angewiesen sind. Ein solcher Spezialist ist der seltene Koboldfarn (Botrychium mormo), der im Gebiet der Großen Seen im Grenzgebiet zwischen den USA und Kanada zu finden ist. Er streckt nur im Spätsommer seinen gelbgrün schimmernden fleischigen Strunk aus der Blattstreu, dem Sonnenlicht entgegen.

Doch der Wurm vertilgt die dicke Laubstreuschicht innerhalb weniger Jahre und ersetzt sie durch mineral- und nährstoffreiche Humuserde. Mit fatalen Folgen: Wo der Wurm kreucht, ist mit dem Rückgang der Blattstreu auch der kleine Koboldfarn rar geworden. Andere amerikanische Pflanzen wie die große Trauerglocke, der Teufelskrückstock, die Blutwurz, die Waldlilie und das Solomonssiegel verschwinden ebenfalls. Nur die Pennsylvanische Segge und der Feuerkolben fühlen sich auf dem neuen Erdbett wohl.

Auch die Tierwelt scheint Schaden zu nehmen: Cindy Hale und ihre Forscherkollegen haben beobachtet, dass der am Boden nistende Pieperwaldsänger, ein spatzengroßer oliv-brauner Vogel mit gestreifter Brust, in den wurmbesiedelten Gebieten seltener geworden ist – ebenso wie kleine, Pilze und Insekten fressende Wühlmäuse, die nun durch ihre größeren, Würmer vertilgenden Artgenossen ersetzt werden.

Als der Biologe Michael Gundale von der University of Montana im Chippewa National Forest das Verschwinden des Koboldfarns untersuchte, brachte er den europäischen Rotwurm (Lumbricus rubellus) – auf Deutsch: der „Rote Schlüpfrige” – ans Licht. Er lebt ausschließlich in der Blattstreu und ist ein effizienter Laubvertilger.

Wo der Rotwurm auftaucht, bildet er die Vorhut für andere Regenwürmer, die als Tiefengräber oberflächliche Streu in ihre metertiefen Gänge ziehen und so großzügig die verschiedenen Schichten durchmischen. Zu ihnen gehört auch der bis 30 Zentimeter lange „eigentliche” Regenwurm, Lumbricus terrestris, auch Tauwurm genannt.

Damit gehen die Regenwürmer in Nordamerika genau der gleichen Arbeit nach wie ihre Kollegen in Europa – „Eingeweide der Erde” nannte Aristoteles sie treffend. Wieso dies jenseits des großen Teichs so drastische Konsequenzen hat, fand die Göttinger Ökologin Dr. Sonja Migge im vergangenen Jahr zusammen mit kanadischen Wissenschaftlern heraus: Die Blätter des in den kränkelnden Wäldern vorherrschenden Zuckerahorns sind für die Regenwürmer viel leichter verdaulich als die schwere Buchenblattkost europäischer Wälder.

Während in europäischen Wäldern noch im Frühjahr die Buchenstreu den Waldboden bedeckt und erst langsam für die Würmer schmackhaft wird, haben die „Kringler” den amerikanischen Waldboden bereits kahl gefressen. „Für europäische Ökologen mag dies unglaublich erscheinen”, sagt Sonja Migge. „Auch ich war skeptisch, bis ich mit eigenen Augen gesehen habe, was die Würmer in kurzer Zeit wegputzen können.”

Die Folge des Kahlfraßes: Der Mineralboden ist nicht mehr vor Erosion geschützt und trocknet zudem schneller aus. Denn es fehlt die Laubstreu, in der die Krautschicht des Waldes sonst im Frühjahr zu keimen und zu wurzeln beginnt. Und es fehlen die jungen Keimlinge des Zuckerahorns: Bis zu 100 von ihnen sprießen sonst pro Quadratmeter im Frühjahr aus dem Boden – in den wurmbesiedelten Gebieten gibt es fast keine.

Auch Bodenkundler wie Prof. Peter Groffman von der Cornell University sind durch den Wirbel um den Wurm alarmiert: Die Regenwürmer, so befürchtet er, werden die Nährstoffkreisläufe im Waldboden verändern. Denn die Streuschicht ist ein Nährstoffspeicher. Durch den beschleunigten Abbau werden die Nährstoffe Phosphor, Stickstoff und Kohlenstoff auf einen Schlag in ihrer löslichen Form freigesetzt. „Anstatt den Pflanzen also kontinuierlich über das Jahr hinweg zur Verfügung zu stehen, laufen die Nährstoffe nun Gefahr, ins Grundwasser ausgewaschen zu werden”, sagt Groffman. Der Ökosystem-Ingenieur Regenwurm wird so im fremden Territorium zum Amokläufer.

Doch wie bekommt man den Wurm in den Griff? Gift, das andere Waldbewohner ebenfalls töten würde, scheidet ebenso aus wie die Einführung eines Fressfein- des – etwa eines aus Neuseeland stammenden, Regenwürmer fressenden Plattwurms. Denn ein weiterer exotischer Eindringling könnte neue Probleme bringen.

Also bleibt der Wurm zur Bewährung auf freiem Fuß. Auflagen bekommt nicht der Wurm, sondern der Mensch: Nachdem Minnesotas Amt für Natürliche Ressourcen eine eigene Studie über die kringelnden Invasoren durchgeführt hatte, nahm es im Sommer 2003 die Anweisung in seinen Angler-Leitfaden auf, keine Köderwürmer mehr freizusetzen. Und als Bewährungshelfer bekommt der Wurm mit Cindy Hales Wurm-Überwachungsprogramm Horden engagierter Schüler an seine Seite, die ihn aufspüren und ihm auf Schritt und Tritt folgen sollen.

Anja Scholzen

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