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Irren ist ärztlich

Allgemein

Irren ist ärztlich
Behandlungsfehler gehören zum medizinischen Alltag. Die Folgen sind oft tödlich. Neuerdings wollen Ärzte offener über ihre Fehlbarkeit reden – und ihr Handeln sicherer machen.

Arndt Nollert ist erst 27, aber die Vergangenheit möchte er aus seinem Leben am liebsten herausschneiden. „Wenn ich ständig an den Arndt von früher dächte, dann würde ich irgendwann durchdrehen“, sagt er. In seiner Stimme liegt dabei Entschlossenheit – und Wut.

Früher, das war die Zeit vor jenem Tag, als Arndt Nollert für einen kleinen, vielleicht sogar unnötigen Eingriff das Krankenhaus von Erbach im Odenwald betrat. Eine Routinesache, so hieß es. Man wollte Arndts Nasenscheidewand operieren, damit er besser Luft bekäme.

Aber der Eingriff misslang. Der Arzt durchstieß die Schädelbasis und schlitzte eine große Kopfader auf. Blut schoss heraus. Nur mit Glück konnte das Gefäß noch geflickt werden. Arndt, ein begeisterter Sportler, trug schwere Hirnschäden davon und sitzt seitdem im Rollstuhl.

Es gibt viele Geschichten wie die von Arndt Nollert – zum Beispiel die von einem Mann, der neun Jahre in der Psychiatrie verbrachte, weil sich die Ärzte mit der Diagnose geirrt hatten. Ein Kind, das man wegen eines falsch berechneten Geburtstermins zu früh entband, wird sein Leben lang behindert sein. Und eine junge Frau, die sich bei einer simplen Kniespiegelung für eine Vollnarkose entschied, verstarb auf dem Operationstisch, weil der Beatmungsschlauch nicht richtig eingeführt worden war.

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Während solch drastische Fälle stets für – meist kurzfristiges – Aufsehen sorgen, ist das Problem im Grunde viel weiter gesteckt. Denn Behandlungsfehler, so mehren sich die Stimmen der Experten, gehören zum medizinischen Alltag. „Patienten und Ärzte wissen, dass in der Medizin täglich Fehler passieren“, äußerte sich unlängst Günther Jonitz, Präsident der Berliner Ärztekammer, „aber kaum jemand will dieser Tatsache ins Auge sehen.“

Zwar verlaufen die meisten Fehltritte glimpflich und sind ohne Folgen. Doch die Zahl der Patienten, die dauerhaft Schaden nehmen, wenn Medikamente falsch verabreicht, Operationen fehlerhaft durchgeführt oder Komplikationen verkannt werden, dürfte dennoch beträchtlich sein. Es gebe inzwischen unbestreitbare Belege, „dass medizinische Fehler täglich Gefahren mit sich bringen“, kommentierten die Harvard-Mediziner Saul Weingart und Lisa Iezonni jüngst im renommierten Fachblatt „ Journal of the American Medical Association“. Ihre Kollegen Chunliu Zhan und Marlene Miller sprachen in derselben Zeitschrift von Behandlungsschäden als einer „führenden Todesursache“.

Nun jedoch wollen Ärzte offener über ihre Fehler reden – und sie damit auch besser vermeiden helfen.

Tatsächlich brennt Medizinern das Problem zunehmend auf den Nägeln. Bereits rund 40000-mal im Jahr sehen sie sich allein in Deutschland mit Fehlervorwürfen von Patienten konfrontiert. Zu diesem Ergebnis kommen der Essener Mediziner und Krankenkassenexperte Martin Hansis und der Bremer Medizinrechtler Dieter Hart, die für eine vom Robert-Koch-Institut veröffentlichte Analyse die Verfahrensstatistiken von Ärztekammern, Landgerichten und Versicherungen ausgewertet hatten. Demnach werden jedes Jahr von den so genannten Schlichtungsstellen der Landesärztekammern und dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen jeweils rund 10000 Fehlerverfahren bearbeitet. Hinzu kommen offizielle Gerichtsverfahren sowie Direktvergleiche zwischen Geschädigten und Ärzteversicherern. In etwa 12000 der 40000 Verfahrensfälle lasse sich ein Behandlungsfehler durch ein Fachgutachten nachweisen, schätzen Hansis und Hart. Allerdings: Ärztliche Irrtümer, die gar nicht erst zu einem Fehlerverfahren führten, wurden bei ihnen nicht erfasst.

„Die tatsächliche Zahl der Behandlungsfehler dürfte weit höher liegen“, argumentiert Christian Zimmermann vom Allgemeinen Patienten-Verband. Zimmermann zufolge nehmen jährlich rund 100000 Deutsche durch eine unsachgemäße Behandlung Schaden, 25000 von ihnen verlieren ihr Leben – eine Annahme, die noch vor kurzem in den Ohren vieler Ärzte völlig grotesk geklungen hätte. Heute wird sie jedoch von verschiedenen Expertenschätzungen gestützt – und manchmal sogar übertroffen.

So kam das amerikanische Institute of Medicine in seinem vor einigen Jahren veröffentlichten Report „To err is human“ – „Irren ist menschlich“ – zu dem Schluss, dass jährlich 44000 bis 98000 US-Patienten durch Behandlungsfehler sterben. Die Experten hatten für ihre Hochrechnung empirische Detailstudien herangezogen, bei denen insgesamt rund 45000 Patientenakten aus Krankenhäusern in den US-Staaten New York, Utah und Colorado ausgewertet worden waren.

Doch auch hierzulande gibt es beunruhigende Schätzungen. So rechnete der Hannoveraner Pharmakologe Jürgen Frölich kürzlich vor, dass allein auf den internistischen Krankenhausstationen in Deutschland bis zu 58000 Menschen pro Jahr tödlichen „ Nebenwirkungen“ erliegen – wobei etwa jede zweite durch einen Medikationsfehler, beispielsweise eine falsche Dosierung, verursacht werde.

Bisher gängige Schätzungen waren von 12000 bis 20000 Todesfällen ausgegangen. Frölich hatte sich bei seiner Analyse auf eine norwegische Untersuchung gestützt, bei der im Gegensatz zu den US-Studien nicht nur die Krankenakten ausgewertet, sondern bei verstorbenen Patienten auch Blutproben entnommen und Autopsien durchgeführt worden waren. Den Ergebnissen der norwegischen Studie zufolge müsse man tatsächlich mit weitaus mehr tödlichen Arzneimittelnebenwirkungen rechnen als bisher geglaubt, rechtfertigt Frölich seine hohe Schätzzahl. Schon die „ normalen“ unvermeidlichen Wirkungen von Medikamenten können gefährlich sein:

• Manche Herz- und Entwässerungsmedikamente können gefährliche Herzrhythmusstörungen verursachen. • Schmerzmittel vom Typ des Aspirins führen mitunter zu bedrohlichen Magenblutungen. • Chemotherapeutika schädigen nicht selten das Knochenmark und schwächen die Immunabwehr.

Besonders kritisch wird die Situation, wenn ein Mensch Arzneimittel bekommt, die er gar nicht braucht oder in falscher Dosierung erhält. Oft sind die Ursachen banal, wie Erhebungen der Universität Kiel und der Schweizer Organisation Cirsmedical zeigen: Da werden Spritzen mit falschen Inhalten injiziert, weil sie am falschen Platz lagen, Etiketten nicht gelesen und darum Medikamente in zehnfach überhöhter Dosierung gegeben oder die von der Arzthelferin ausgestellten Rezepte ungeprüft unterschrieben. Manchmal fehlt Ärzten aber auch das nötige Fachwissen für die Arzneimittelauswahl – und die Bereitschaft, in einem Fachbuch nachzuschlagen.

Als Gründe für Fehler gaben Ärzte bei den Erhebungen unter anderem an: • „Es war gerade voll, schnell zwischendurch erledigt.“ • „Ich hatte den betreffenden Absatz des Arztbriefes nicht gelesen. Ich hatte mir zu wenig Zeit zum vollständigen Durchlesen genommen.«

Ebenso verhängnisvoll ist mangelnde Kommunikation: „Mir war mein Behandlungsauftrag im Rahmen der Herzmedikation nicht klar, so haben weder der Kardiologe noch ich selbst die Werte kontrolliert.“

Wie prekär die Lage ist, machte unlängst auch der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen deutlich, der in seinem Gutachten vom Februar 2003 die Daten aus den USA auf die hiesige Situation übertragen hatte. Der Hochrechnung zufolge verlieren jährlich etwa 30000 bis 80000 Deutsche infolge von Krankenhausbehandlungen ihr Leben, wobei ein Großteil der Todesfälle auf Behandlungsfehler zurückgehen könnte. Insgesamt forderten diagnostische und therapeutische Interventionen mehr Opfer als etwa Dickdarmkrebs, Brustkrebs oder Verkehrsunfälle, konstatierten die Experten.

Die Kritiker freilich sehen in all dem nur Zahlenspiele. So hat Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, die von Jürgen Frölich hochgerechneten Zahlen zu tödlichen Medikationsfehlern als „nicht seriös“ zurückgewiesen. Sie dienten lediglich dazu, „Patienten zu verängstigen“.

Wahr ist: Wirklich verlässliche und umfassende Fehlerstatistiken gibt es weder hier noch anderswo. Oft ist nicht einmal klar, wann man von Behandlungsfehlern sprechen kann und wann nicht. So hat ein Team um den US-Mediziner Eric Thomas gezeigt, dass unterschiedliche Gutachter bei der Analyse von Patientenakten mitunter zu entgegengesetzten Schlüssen kommen. Aber selbst wenn man nur bei Übereinstimmung zweier Experten von einem echten Fehler spräche, würde sich die Zahl der vom Institute of Medicine hochgerechneten Fehlbehandlungen und Toten lediglich um die Hälfte reduzieren, argumentieren die Forscher.

„Allerdings ist es kurzsichtig, sich an der exakten Zahl von Todesfällen festzubeißen“, fügen sie ihrer Analyse hinzu. Denn unabhängig davon, wie viele Zehntausende es sind: Dass die Zahl der Behandlungsfehler gesenkt werden müsse, stehe außer Frage.

Das Eingeständnis kommt freilich einer Art Kulturrevolution in der Ärzteschaft gleich. Angesichts der hohen Fehlerquote, so kommentierte noch vor drei Jahren der Harvard-Mediziner James Reinertsen, „ist es seltsam, dass wir so wenig über unsere Fehler sprechen“. Offenbar steckten tief sitzende Ängste hinter der Scheu, eigene Irrtümer zuzugeben – Ängste vor der Demütigung durch Kollegen, vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und vor gerichtlichen Konsequenzen. Zudem hingen viele Mediziner noch immer dem heroischen Bild des Arztes an, der keine Fehler macht.

„Meine Chefs waren noch fehlerfrei, qua Definition sozusagen“, erinnert sich RKI-Gutachter Martin Hansis an seine Ausbildung als Unfallchirurg. Inzwischen seien viele Ärzte ehrlicher. Auch Patienten-Vertreter Christian Zimmermann macht in Deutschland – wo die Medizin lange Zeit durch quasi-militärische Strukturen jegliche Systemkritik verhindert habe – einen allmählichen Bewusstseinswandel aus. Fast scheint es, als würden Ärzte beginnen, sich nicht mehr ihrer Fehlbarkeit zu schämen.

Zumindest gilt das für manche. „Ich möchte einfach mit Kollegen darüber reden können, wo beim Operieren Probleme entstehen“, begründet der Essener Gefäßchirurg Fritz Stagge seinen Vorstoß im NAV-Virchow-Bund, einem Verband für niedergelassene Ärzte. Stagge, der selbst eine Praxis betreibt und dort ambulant operiert, würde gern ein Internetforum einrichten, in dem sich Verbandsmitglieder freimütig, aber anonym über ihre Fehler austauschen können. Allerdings gebe es innerhalb des Verbandes Bedenken, dass Ärzte, wenn auch auf Umwegen, mit juristischen Konsequenzen zu rechnen hätten, wenn sie allzu offen eigene Fehler schilderten. Doch gerade als niedergelassener Arzt – als „Einzelkämpfer“, wie Stagge sagt – brauche man ein solches Angebot.

Freilich weiß auch Stagge, „dass es ziemlich lange dauert, bis ein Chirurg zugibt, dass er irgendwo vielleicht eine ganz kleine Schwierigkeit hat“. Er selbst kennt die Mechanismen, die ein Eingeständnis der eigenen Fehleranfälligkeit verhindern. „Als ich mit der Praxis anfing, hatte ich große Schulden und dachte manchmal: Oh Gott, wenn jetzt was passiert – was wird dann?“

Hinzu kommt: Die Ärzte zittern vor dem Strafgesetzbuch. Strafrechtliche Kunstfehlerprozesse – bei denen Mediziner zu Gefängnisstrafen verurteilt werden können – sind in der Praxis allerdings äußerst selten. Vielmehr geht es fast immer darum, in zivilrechtlichen Verfahren oder in außergerichtlichen Einigungen über Schmerzensgeld und Schadensersatz zu verhandeln.

Doch zumindest prinzipiell könne jeder ärztliche Eingriff als Körperverletzung geahndet werden, sagt Zimmermann. „Ein Arzt, der einen Fehler einräumt, muss damit rechnen, dass ihn der Staatsanwalt belangt.“ Dieser vor mehr als hundert Jahren eingeführte Rechtsgrundsatz verstärke freilich die Tendenz vieler Mediziner, bei einem Fehlerverdacht möglichst zu mauern.

„Die Patienten kommen längst nicht immer zu ihrem Recht“, sagt Zimmermann. Denn zieht ein Geschädigter vor Gericht, muss er dem Arzt in aller Regel nicht nur den Fehler nachweisen. Ebenso muss er belegen, dass tatsächlich der ärztliche Fehler und nicht der Krankheitsprozess selbst seine Gesundheit geschädigt hat – ein Nachweis, der ausgesprochen schwer zu führen ist. Und bei den außergerichtlichen Einigungen, beispielsweise über die Schlichtungsstellen der Ärztekammern oder bei Direktvergleichen mit den Ärzteversicherern, ist der Patient auf die Kooperation der Gegenseite angewiesen. Nicht selten sind zermürbend lange Verfahren die Folge.

Um die zu vermeiden, hat der Gesundheits-Sachverständigenrat vorgeschlagen, eine so genannte verschuldensunabhängige Haftung einzuführen, wie sie beispielsweise in skandinavischen Ländern üblich ist. Das Prinzip dabei: Behandlungsschäden werden gewissermaßen wie Unfälle betrachtet, die im riskanten Medizinbetrieb mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit unweigerlich auftreten. Dementsprechend zahlen die Versicherer, auch ohne dass man durch einen langwierigen Rechtsstreit einen individuellen Schuldigen dingfest machen muss. Die Frage von Schuld und Sühne verliert dann ihre Bedeutung.

Ohnehin halten viele Experten die Suche nach dem Schuldigen für wenig hilfreich, wenn man die Fehlerursachen verstehen will. „ Die Mehrzahl der Behandlungsfehler entsteht nämlich keineswegs durch Faulheit, Böswilligkeit oder Unwissen einzelner Ärzte“, argumentiert der Kieler Fehlerforscher Ferdinand Gerlach. Vielmehr lägen die Ursachen oft in der Verkettung organisatorischer Mängel und banaler Irrtümer – eine Verkettung freilich, die zu katastrophalen Ergebnissen führen kann.

Christian Zimmermann hat ein Beispiel: „Wenn einem Patienten das falsche Bein amputiert wird, dann heißt es: Die Ärzte sind zu dumm, rechts und links zu unterscheiden. Aber so ist es natürlich nicht.“ Es zeige sich meist, dass während der Operationsvorbereitung die Röntgenbilder umgekehrt aufgehängt wurden, jemand das Operationsfeld falsch markiert hatte, die Patientenakte nicht im Operationssaal war oder der Operateur sie nicht mehr kontrollierte, weil er sich auf seinen Assistenten verließ.

Tatsächlich seien Fehlerquellen wie Stolperfallen in viele Behandlungsabläufe eingebaut, urteilt James Reinertsen. „Die Fehler warten nur darauf, gemacht zu werden“ – wenn nicht von diesem Arzt, dann vom nächsten. Meist seien sie daher kein Zeichen von persönlichem Versagen, sondern von Defiziten im System.

Freilich ist die Einsicht nicht neu. Aus Risikoindustrien wie der Atomwirtschaft oder der Luftfahrt weiß man seit langem, dass komplexe Systeme – in denen verschiedenste technische Geräte zum Einsatz kommen und mehrere Akteure reibungslos zusammenarbeiten müssen – besonders störanfällig sind.

In der Fliegerei habe sich daher über viele Jahre hinweg eine wahre „Fehlerkultur“ entwickelt, berichtet Beat Brändle, Flugkapitän bei der Swiss. So würden nicht allein die vom Flugschreiber registrierten Unregelmäßigkeiten systematisch ausgewertet. Die Piloten könnten auch selbst nach jedem Flug Schwierigkeiten melden und um eine Fehleranalyse nachsuchen. „Es macht sich schlecht, wenn ein Pilot das nicht tut und hinterher rauskommt, dass etwas schief gelaufen ist“, sagt Brändle. In den meisten gemeldeten Fällen handele es sich zwar um wenig schwerwiegende Vorkommnisse. Doch genau die, so die Überlegung, dienen quasi als Fehlerquellen-Seismograph: Sie zeigen Schwachstellen auf, noch bevor sie zur Unglücksursache werden.

Die Idee will der Baseler Anästhesist Daniel Scheidegger nun auch für die Medizin nutzen. Scheidegger, der eng mit Brändle zusammenarbeitet, hat ein inzwischen für alle Schweizer Ärzte zugängliches Fehlermeldesystem aufgebaut. Auf einer geschützten Internetplattform können Mediziner anonym über kritische Zwischenfälle berichten – im Fachjargon „Critical incidents“ –, die in ihrer Alltagspraxis aufgetreten sind und den Patienten hätten gefährden können. „Manchmal entdecken wir Dinge, die wir in unserer eigenen Abteilung 20 Jahre gemacht haben und die zwar gut gemeint, aber gefährlich waren“, beschreibt Scheidegger.

Tatsächlich haben inzwischen verschiedenste internationale Studien eine ganze Reihe von Schwachstellen im alltäglichen Medizinbetrieb zu Tage gefördert. So fanden Zürcher Ärzte, dass Medikamenten-Zwischenfälle auf einer Neugeborenen-Intensivstation unter anderem deshalb auftraten, weil die handschriftlichen Anordnungen des Arztes nicht korrekt in den Medikamentenplan übertragen wurden oder die Dosierung – etwa wegen einer versehentlich drangehängten Null – zehnfach zu hoch ausfiel. Und laut einer Analyse von Ferdinand Gerlachs Team, die Fehlermeldungen von Hausärzten auswertete, ist selbst der Einsatz von Praxis-EDV-Systemen ein möglicher Fallstrick – beispielsweise, wenn beim Ausdrucken eines Rezepts auf dem Bildschirm statt des Heuschnupfenmittels „Lisino“ das Blutdruckmittel „Lisinopril“ angeklickt oder die Patientendatei von „Lindner, Martin“ mit jener von „Lindner, Markus“ verwechselt wird.

Nun will Gerlach in einer weitergehenden Forschungsstudie ein Fehlermeldesystem einsetzen, an dem sich nicht nur die niedergelassenen Ärzte, sondern auch die Praxismitarbeiter, Apotheker und Patienten beteiligen können. In England und Wales – wo das Thema ähnlich wie in den USA sehr viel mehr Aufmerksamkeit erfährt als in Deutschland – ist sogar ein flächendeckendes Meldesystem für Ärzte und Patienten geplant.

Freilich: Fehler melden allein genügt nicht. „Wir wissen aus anderen Bereichen des Qualitätsmanagements, dass Fehleranalysen nur dann nicht verpuffen, wenn sie auch zu Veränderungen in der alltäglichen Routine führen“, sagt Gerlach. Hilfreich könnte es beispielsweise sein, obligatorische Checklisten für das Praxisteam einzuführen oder Rezepte auf besonders nebenwirkungsreiche Medikamente nach dem Vier-Augen-Prinzip stets noch einmal zu prüfen.

Welchen Wert derlei Vorsorgemaßnahmen besitzen, kann bisher allerdings niemand sagen. Ein Grundproblem ist: Manche Fehlervermeidungsstrategien, beispielsweise der Einsatz von Computersystemen oder die Umorganisation der Arbeitsabläufe, können neue Fehlerquellen schaffen. So weisen der Bostoner Chirurg Atul Gawande und seine Kollegen darauf hin, dass chirurgische Patzer bei übermäßiger Arbeitsbelastung zwar wahrscheinlicher werden. Wenn aber deshalb die Dienstzeiten verkürzt würden, seien auch mehr Personalwechsel nötig – ihrerseits typische Schwachstellen im Behandlungsprozess. Der Effekt unterm Strich wäre möglicherweise gleich null.

Das macht das Problem freilich umso dringlicher. „Es führt gar kein Weg daran vorbei, dass wir uns mit unseren Fehlern auseinander setzen“, bekräftigt Daniel Scheidegger. Natürlich weiß auch er, dass es unter seinen Kollegen nach wie vor viele Widerstände gibt und das zarte Pflänzchen der ärztlichen Fehlerkultur gehegt und gepflegt werden muss.

„Vor allem müssen wir vermitteln, dass es nicht darum geht, Ärzte zu bestrafen oder als Buhmänner hinzustellen, wenn sie Fehler zugeben“, pflichtet Gerlach bei. „Ansonsten ist das Prinzip Offenheit ganz schnell wieder tot.“

 

KOMPAKT

• Pathologische Untersuchungen und Krankenakten zeigen: Viele sterben nicht an ihrer Krankheit, sondern durch falsche ärztliche Behandlung. • Zu den Fehlerursachen zählen störanfällige Arbeitsabläufe, schlechte Organisation und mangelnde Absprachen aller Beteiligten.

Dr. Martin Lindner

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