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AUF NEWTONS SCHULTERN

Astronomie|Physik Geschichte|Archäologie

AUF NEWTONS SCHULTERN
Geballte Intelligenz in Cambridge – der berühmteste Lehrstuhl der Welt.

„Ich sitze hier auf Isaac Newtons Lehrstuhl. Aber dieser Stuhl hat sich offensichtlich stark verändert. Er wird jetzt elektrisch betrieben“, sagte Stephen Hawking einmal über seine Professur in Cambridge. Der britische Physiker kapituliert genauso wenig vor seiner schweren Behinderung, die ihn an den elektrischen Rollstuhl fesselt, wie vor den Herausforderungen der Kosmologie. Im Oktober 1979 war Hawking auf den Lucasischen Lehrstuhl für Angewandte Mathematik berufen worden. Zuvor war er Professor für Gravitationsphysik an der Cambridge University und Professorial Fellow am Caius College. Finanziell machte die Berufung kaum einen Unterschied, aber die Ehre war groß: Der Lucasische Lehrstuhl gehört zu den berühmtesten Professuren der Welt.

Newton, der die Gesetze von Schwerkraft und Bewegung entdeckte und die Physik von Himmel und Erde vereinigte, hatte ihn von 1669 bis 1702 inne. Ein anderer Vorgänger Hawkings war Charles Babbage. Er wurde 1828 berufen und entwickelte zwei mechanische Rechenmaschinen, die als Vorläufer des Computers gelten. Zu seinen Lebzeiten wurden sie zwar nicht gebaut. Die Differenzmaschine, die 1991 nach seinen Plänen entstand, funktionierte aber perfekt. Auch Paul Dirac, der 1933 – ein Jahr nach seiner Berufung – den Physik-Nobelpreis erhielt, mehrte den Ruhm des Lehrstuhls gewaltig. Er vereinigte die Quantentheorie mit der Speziellen Relativitätstheorie und war damit eine Art zweiter Newton. Hawking ist sich der Tragweite seines Amts bewusst: „Es ist nett, dieselbe Position wie Newton und Dirac inne zu haben. Aber die echte Herausforderung besteht darin, etwas zu leisten, das auch nur ein Bruchteil so signifikant ist wie ihre Arbeit.“ Der Lehrstuhl war der erste für Mathematik in Cambridge. In London gab es bereits seit 1597 eine Mathematik-Professur am Gresham College. Henry Lucas (1610 bis 1663), der die Universität 1639 und 1640 im englischen Parlament vertrat, hatte ihn 1663 gestiftet. Und King Charles II. setzte ihn am 18. Januar 1664 offiziell in Kraft. Lucas überließ der Universität seine 4000 Bücher und ein Landgut, das 100 Pfund jährlich für die Professur abwerfen sollte. Gefordert wurden vom Lehrstuhlinhaber an zwei Tagen pro Woche zwei Sprechstunden sowie ein wöchentliches Minimum von zehn Vorlesungen, die ausführlich auszuarbeiten und dem Archiv der Universitätsbibliothek zu übergeben waren – andernfalls drohte Gehaltsminderung. Und so finden sich dort heute noch Originalnotizen beispielsweise von Isaac Newton. 1857 wurden die Statuten modernisiert. Auch das Gehalt wurde erhöht und 1914 mit dem anderer Professuren gleichgesetzt.

Lucas hatte gefordert, den Lehrstuhl vom College-Wesen inhaltlich und verwaltungstechnisch weitgehend unabhängig zu halten – trotz der Verbindung mit dem Trinity College – und nicht der Kirche zu unterstellen. Charles II. befreite die Professoren daher von der Anforderung, das Weihesakrament entgegenzunehmen, also ordinierte Kleriker zu sein. „Die Lucasischen Statuten sind ein Schritt bei der Entwicklung der Universität von ihren quasimonastischen, mittelalterlichen Wurzeln in die moderne Form“ , kommentiert dies der bekannte kanadische Mathematiker und Sachbuchautor Ian Stewart.

Freilich war die Säkularisierung nur halbherzig. George Stokes – berühmt durch seine Gleichung der Strömungsmechanik – wirkte als evangelikaler Anglikaner sogar noch Ende des 19. Jahrhunderts. Viele der ersten Professoren verfassten theologische Traktate – Newton allerdings nicht, weil er die christliche Trinitätslehre nicht akzeptierte, was als Ketzerei galt. William Whiston wurde deswegen sogar vom Lehrstuhl entfernt – der einzige Fall einer Entlassung. Alle anderen Professoren bewarben sich entweder auf eine andere Stelle, hörten altershalber auf oder starben.

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HAWKINGS LETZTE UNTERSCHRIFT

„Nachdem ich über ein Jahr lang Lucasischer Professor war, bemerkte man, dass in dem großen Universitätsbuch meine Unterschrift fehlte“, erinnert sich Hawking. „Daher brachte man es mir in mein Büro, und ich unterzeichnete mit einiger Schwierigkeit. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Namen schrieb.“ Und 1998 sagte er: „Ich denke, ich wurde zur Überbrückung berufen. Es tut mir leid, dass ich die Wähler enttäuschen muss: Ich bin Lucasischer Professor seit 19 Jahren und habe die Absicht, weitere 11 Jahre bis zum Pensionsalter zu überleben. Doch selbst dann hätte ich Dirac nicht erreicht, der 37 Jahre lang Lucasischer Professor war, oder Stokes, der es 54 Jahre lang schaffte.“

Hawkings Schaffensdrang ist bis heute ungebrochen. Nächstes Jahr wird er emeritiert. Sein Nachfolger wird es nicht leicht haben, aus Hawkings Schatten – besser: Glanz – zu treten. Doch Cambridge dürfte auch künftig keinen Mangel an hochkarätigen Forschern haben. Im Jahr 2395 wird das erste Kunstwesen den Lehrstuhl besetzen: der Android Data. So zumindest war es in der Science-Fiction-Fernsehserie „Raumschiff Enterprise“ zu sehen. Stephen Hawking hatte darin einen Gastauftritt: Er pokerte mit Isaac Newton, Albert Einstein und Data im Holodeck – und gewann. ■

von Rüdiger Vaas

Die 17 Inhaber des Lucasischen Lehrstuhls seit 1664

Name Lebenszeit Lehrstuhl Forschungen und Verdienste

Isaac Barrow 1630–1677 1664–1669 Mitentwicklung der Infinitesimalrechnung, Berechnung von Tangenten an Kurven

Sir Isaac Newton 1642–1727 1669–1702 Gravitationsgesetz, Bewegungsgesetze; Erfindung des Spiegelteleskop s

William Whiston 1667–1752 1702–1710 (Mehr Theologe als Mathematiker; als Ketzer vom Lehrstuhl entfernt)

Nicolas Saunderson 1682–1739 1711–1739 Rechenmaschine für Blinde

John Colson 1680–1760 1739–1760 Übersetzung von Newtons Schriften aus dem Lateinischen ins Englische

Edward Waring 1736–1798 1760–1798 Polynom-Interpolation, „ Waring’sches Problem“ der Darstellung jeder natürlichen Zahl als Summe von höchstens vier Quadratzahlen

Isaac Milner 1750–1820 1798–1820 Mehr Chemiker als Mathematiker, Oxidation von Ammonium zu Salpetersäure

Robert Woodhouse 1773–1827 1820–1822 Verfechter der mathematischen Schreibweise von Leibnitz gegenüber der von Newton

Thomas Turton 1780–1864 1822–1826 (Mehr Theologe als Mathematiker; hat in dieser Zeit nur religiöse Schriften veröffentlicht)

Sir George Biddell Airy 1801–1892 1826–1828 (Erst danach als Astronomer Royal: Greenwich als Nullmeridian, Berechnung von Planetenbahnen und Dichte der Erde)

Charles Babbage 1792–1871 1828–1839 Entwurf mechanischer Rechenmaschinen, Erfindung des Kuhfängers an Lokomotiven, „ Babbage-Prinzip“ der Aufspaltung von Arbeitsprozessen zur Kostensenkung

Joshua King 1798–1857 1839–1849 (Mitglied in 15 Komitees, aber keine Veröffentlichungen)

Sir George Stokes 1819–1903 1849–1903 Grundgleichungen der Strömungsmechanik, Erklärung der Fluoreszenz, Theorie der Absorption des Lichts

Sir Joseph Larmor 1857–1942 1903–1932 Erstbeschreibung der „ Lorentz-Transformation“ zwischen Koordinaten sich gegeneinander bewegender Systeme

Paul A. M. Dirac 1902–1984 1932–1969 Grundlagen zur Quantenmechanik, Vorhersage des Positrons, Fermi-Dirac-Statistik

Sir M. James Lighthill 1924–1998 1969–1980 Beschreibung von chaotischen Systemen

(Forschungen zur Aeroakustik früher, zur Concorde später)

Stephen W. Hawking geboren 1942 seit 1980 Quantengravitation, Kosmologie, Erforschung Schwarzer Löcher

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Kar|bo|rund  〈n.; –s; unz.; Chem.〉 durch Erhitzen von Koks, Tonerde, Kochsalz u. Quarzsand hergestelltes Siliziumkarbid [<lat. carbo … mehr

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