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RUHRMETROPOLE DAS DEUTSCHE FLORIDA

Gesellschaft|Psychologie Technik|Digitales

RUHRMETROPOLE DAS DEUTSCHE FLORIDA
Wie zu Bergmanns Zeiten packt man an der Ruhr die Probleme an – auch die Überalterung. Und unversehens wird ein Wirtschaftsfaktor daraus.

Wer ins Ruhrgebiet zieht, erwartet nicht viel – und ist überrascht: Gäbe es nicht hier und da noch rußgeschwärzte Häuser, zu Blumenkübeln umfunktionierte Kohlewägelchen und Fördertürme, die über stillgelegten Zechen aufragen, man würde sich irgendwo in Deutschland wähnen, nur nicht im viel geschmähten Ruhrpott. „ In Hamburg oder München denkt man, es sei hässlich hier“, sagt der ehemalige Intendant des Schauspielhauses Bochum, Matthias Hartmann. „Aber das Ruhrgebiet ist schön. Vielleicht weniger geschmückt. Ehrlich eben.“ Am lebendigsten ist die Kohlevergangenheit in den Bewohnern selbst. Die Stimmung ist geprägt von kumpelhaftem, zupackendem Miteinander.

Dabei ist das Ruhrgebiet mit 5,3 Millionen Einwohnern und einer Ausdehnung von knapp 4500 Quadratkilometern einer der größten europäischen Ballungsräume. Zusammen mit der Rheinschiene Düsseldorf–Bonn umfasst die Region sogar 11,5 Millionen Menschen und wird zu den Megacitys dieser Erde gezählt. Den Einwohnern selbst ist das schnuppe: Sie haben zwar eine gemeinsame Geschichte, aber kein gemeinsames Zentrum. Also sind sie etwa Gelsenkirchener oder Dortmunder. Nur wenn es im Fußball gegen die Bayern geht, stehen sie zusammen. Das Zupacken aber hat die „ Metropole Ruhr“, wie sich das Ruhrgebiet heute offiziell nennt, bitter nötig. Es gilt, einen Strukturwandel zu bewältigen. Doch anders als Lagos oder Delhi, die ihre Bevölkerungsexplosion kaum bewältigen können, hat das Ruhrgebiet seinen Wachstumszenit bereits überschritten: Mit der industriellen Kohlegewinnung und der Stahlverarbeitung ab Mitte des 19. Jahrhunderts war die Einwohnerzahl innerhalb eines Jahrhunderts um das Fünfzehnfache gestiegen: von knapp 400 000 auf 6 Millionen. Seit 1960 nimmt die Bevölkerung ab, bis 2025 wird ein weiterer Verlust von einer halben Million Menschen vorhergesagt.

Es sind vor allem die Jungen, die wegziehen, und die Alten, die bleiben. Der Altersdurchschnitt liegt heute bei 43,5 Jahren (restliches NRW: 42,1), 20,5 Prozent sind älter als 65 (restliches NRW: 18,8). Die Überalterung bringt Probleme mit sich. Noch in den Siebzigerjahren hätten es die Kommunen nicht geschafft, genügend Heimplätze für Senioren bereitzustellen, sagt Ralf Bittokleit vom Fachbereich Soziales der Stadt Herne. Die Alten hätten „ins Umland exportiert“ werden müssen. Arbeitsplätze und der Gewinn aus dem Betrieb der Seniorenheime wanderten mit. Herne, in den Zwanzigerjahren wegen seines Kohlereichtums noch die „Goldene Stadt“ genannt, hatte unter dem Strukturwandel besonders zu leiden: Die Stadt hat die größte Einwohnerdichte des Ruhrgebiets, einen besonders großen Ausländeranteil und die meisten Rentner.

Aber wer zupackt, kann aus einem Problem eine Chance machen: So wird den Alten im Ruhrgebiet heute Einiges geboten. In Herne hat sich allein in den vergangenen fünf Jahren die Zahl der speziell auf die Bedürfnisse von Senioren zugeschnittenen Einrichtungen verdoppelt. 19 über die Stadt verteilte Wohnanlagen bieten verschiedene Annehmlichkeiten für Ältere an. Um auch Senioren von weither anzulocken und so zum „Florida Deutschlands“ zu werden, hat das Ruhrgebiet zwar noch ein Stück zu gehen – trotz vielfältigem kulturellem Angebot, einer hervorragenden öffentlichen Infrastruktur und günstiger Miet- und Lebenshaltungskosten. Aber schon bald könnte aus dem Problem Überalterung ein Markenzeichen, eine spezielle Kompetenz und vielleicht sogar ein Wirtschaftsfaktor werden. So führt die Zeitschrift „Ruhr Review“ unter dem Titel „Bauen für die Grauen – Altersfreundliche Metropole Ruhr“ viele Beispiele für innovative Seniorenprojekte an, von der Demenz-WG bis zum Migrantenheim.

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Einige Initiativen haben das Zeug dazu, überregionale Bedeutung zu erlangen, wie etwa das von der EU und dem Land NRW geförderte Projekt „SmarterWohnen“: Dabei hat sich die traditionsreiche Wohnungsbaugesellschaft HWG 2004 mit zwei Fraunhofer-Instituten zusammengetan, um in einer Deutschlandpremiere 50 ihrer 5000 Mietwohnungen technisch aufzurüsten: mit vernetzten Rauch-, Gas- und Bewegungsmeldern, Fensterkontrollen, einer Wohnungsbedienung per Knopfdruck, intelligenter Heizungssteuerung, serienmäßigem Internet-Anschluss sowie Dienstleistungen, die gerade älteren Bewohnern ein Mehr an Sicherheit, Komfort und Gesundheit bieten. SmarterWohnen befreit seinen Bewohner beispielsweise von der Sorge: Habe ich auch an alles gedacht? Ein einziger Knopfdruck knipst beim Verlassen der Wohnung die Lichter aus, drosselt die Heizung, dreht Herd und Wasserkocher ab, schaltet die Überwachung scharf und aktiviert das Simulationsprogramm, das die Anwesenheit eines Bewohners vortäuscht. Es beantwortet auch die Frage: Was ist, wenn ich hinfalle und mich nicht rühren kann? Bei längerer Inaktivität informiert das System den angeschlossenen Hausservice, der dann nach dem Rechten sieht. Leiter Armin Hartmann ist mit dem Erfolg des Projekts, das Ende Dezember 2007 auslief, sehr zufrieden: Die meisten Bewohner möchten auf die Annehmlichkeiten nicht mehr verzichten und sind bereit, 20 bis 30 Euro monatlich dafür zu bezahlen – zusätzlich zur Miete. Die Kaltmiete kostet rund 350 Euro für eine 65-Quadatmeter-Wohnung.

Die Fraunhofer-Gesellschaft will demnächst eine Firma ausgründen, die SmarterWohnen vermarkten soll. Wolfgang Deiters, stellvertretender Institutsleiter für den Dortmunder Standort des Fraunhofer-Instituts für Software- und Systementwicklung, ist zuversichtlich: „Für uns ist das ein sehr spannender Markt.“ ■

CHRISTIAN WEYMAYR ist vor zwei Jahren von Tübingen nach Herne umgezogen. An der Ruhr gefällt es ihm „überraschend gut“.

von Christian Weymayr

Ruhrmetropole in Zahlen

Einwohnerzahl: 5,3 Millionen, zusammen mit der Rheinschiene: 11,5 Millionen

Bevölkerungsdichte: 1200 Einwohner pro Quadratkilometer

Durchschnittsalter: 43,5 Jahre

Universitäten und Hochschulen: 14

Stadtgebiet insgesamt: knapp 4500 Quadratkilometer

Halden und Abbaugebiet: 85 Quadrat- kilometer

Arbeitslosenquote: 12 Prozent

Wohnräume: rund 10 Millionen

Museen: 200

Ruhrmetropole für Touristen

Hilton-Hotel (DZ): 129 Euro

1 Liter Benzin: 1,48 Euro

1 Bier (Restaurant): 2,50 Euro

1 Souvenir-T-Shirt: 5 bis 10 Euro

10 km Taxifahrt: 16,10 Euro

Kino: 7 Euro

Alle Angaben für Dortmund: Stand Mai 2008

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