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SÃO PAULO EIN TOTER FLUSS ALS LEBENSADER

Erde|Umwelt Gesellschaft|Psychologie

SÃO PAULO EIN TOTER FLUSS ALS LEBENSADER
Südamerikas größte Stadt versucht eine stinkende Kloake wiederzubeleben, damit den Bewohnern nicht das Trinkwasser ausgeht.

Man darf sich nicht täuschen lassen von den erstklassigen Restaurants, der blühenden Modebranche und den Spitzen-Universitäten dieser Stadt: São Paulo ist eine Megacity der Dritten Welt. Bei Regen waten ihre 19,6 Millionen Einwohner durchs Wasser. Millionen Autofahrer quälen sich durch überflutete und verstopfte Straßen zwischen 220 000 chaotischen Häuserblocks. Alle Verkehrsadern laufen im überfüllten Herzen der Stadt zusammen, das zwei Flüsse umströmen: der Tietê und der Pinheiros. Doch deren Wasser birgt kaum noch Leben. Die Umweltverschmutzung setzt der Wasserqualität gewaltig zu.

An einem Sommertag können in São Paulo bis zu 100 Millimeter Regen fallen – so viel wie selbst im regnerischen Monat April in vielen Städten Deutschlands nicht. Trotzdem ist in São Paulo das Wasser knapp: Nur 200 Kubikmeter stehen jedem Einwohner im Jahr zur Verfügung – nach internationalen Maßstäben sollen es 1500 Kubikmeter pro Person und Jahr sein. São Paulo grenzt an die Serra do Mar, einen Gebirgszug, der sich an der Atlantikküste entlangzieht. Dort entspringen die beiden Flüsse – der Tietê nur 30 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Sie führen in ihrem Oberlauf zu wenig Wasser, um die fünftgrößte Metropole der Welt mit Trinkwasser zu versorgen. Zwar hat São Paulo in einem 14-Jahres-Programm für mehr als eine Milliarde Euro seine Kanalisation ausgebaut. Dennoch fließen nur 84 Prozent des Abwassers in die Kanalisation, von denen wiederum nur 70 Prozent wiederaufbereitet werden. Im Endeffekt landet fast die Hälfte des städtischen Abwassers noch immer ungeklärt in den Flüssen.

Der Tietê, dessen Name in der einst dominierenden Tupi-Sprache „echtes Wasser“ bedeutet, hat immerhin von einem Dekontaminationsprogramm profitiert: Die sich flussabwärts ziehende Schmutzfahne hat sich um 120 Kilometer verkürzt. In diesem Jahr soll die Schmutzlast noch einmal verringert werden. Dennoch: Im Stadtgebiet von São Paulo bleibt der Tietê ein toter Fluss.

Nicht viel besser steht es um den Pinheiros. Nach 1920 war der Energiehunger der Stadt so groß, dass man den Strom kanalisierte und aufstaute. Das Wasser des Stausees fällt nun 720 Meter hinab durch massive Röhren und treibt die Turbinen eines 889-Megawatt-Kraftwerks an, das damit prinzipiell so leistungsfähig ist wie ein modernes Kohlegroßkraftwerk. 1955 war das System fertig. Der Billings-Stausee – benannt nach einem der Väter dieses Kraftwerks – war nicht als Trinkwasser-Reservoir geplant. Dennoch wird inzwischen einem seiner Arme Wasser entnommen und zum benachbarten Guarapiranga-Reservoir geleitet, das sechs Millionen Bürger mit Wasser versorgt. Dabei ist die Wasserqualität in beiden Reservoirs immer schlechter geworden. Um das zu ändern, will die Regierung des Bundesstaats São Paulo im Pinheiros-Kanal 50 Kubikmeter Wasser pro Sekunde klären. Das Projekt soll 2013 fertig sein und wird rund 130 Millionen Euro kosten.

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Die Ingenieure arbeiten dabei mit einer Technologie, die ursprünglich aus Finnland kommt und inzwischen weit verbreitet ist: der Flotation mit feinverteilter Luft (Dissolved Air Flotation, kurz DAF). Doch anderswo läuft sie nur mit wesentlich kleineren Abwassermengen. Was das brasilianische Projekt vollends zur Pionierleistung macht: Das Abwasser soll nicht in leicht zu steuernden stationären Becken gereinigt werden, sondern im Durchflussverfahren. Der Pinheiros-Kanal gehört zu den ersten Fließgewässern, die so gereinigt werden. Das Grundprinzip: Zunächst fangen flockenbildende Substanzen (Koagulanzien) wie Eisenchlorid und Aluminiumsulfat im Wasser gelöste Feststoffe ein. Dann wird das Wasser vom Boden her bis zur Sättigung mit feinen Luftbläschen von 30 bis 70 Mikrometer Durchmesser angereichert. Auf ihrem Weg nach oben heften sie sich an die Flocken und tragen sie an die Oberfläche. Die dicke Schlammschicht wird dann mit Hilfe eines rotierenden Systems wie Rahm von der Milch abgeschöpft, in große Container gefüllt und mit gebranntem Kalk desinfiziert.

Der Prozess mit dem Namen „Flotflux“ wurde von Brasilianern zum Patent angemeldet und läuft seit September 2007 in einem Pilotversuch, bei dem 10 Kubikmeter pro Sekunde bewältigt werden. Der Test war anfangs für sechs Monate geplant und sollte im Februar 2008 enden. Inzwischen ist klar: Er wird mindestens weitere sechs Monate dauern. Zum einen blockiert schwimmender Müll – von Plastikflaschen bis hin zu Möbeln – immer wieder das Abschöpfsystem. Zum anderen reichen die Daten noch nicht aus, um das Verhalten des ganzen Reservoirs vorherzusagen – Grundlage des Umweltgutachtens, das die Staatsanwaltschaft von São Paulo fordert.

Das Flotationsprojekt stößt auch anderswo auf Kritik. „ Entfernt werden dadurch nur Feststoffe wie Feinstäube und manche Kolloide, teilweise auch Phosphate und weitere Düngemittel“, bemängelt Jorge Rubio, DAF-Experte von der Bundes-Universität in Rio Grande du Sul. „Aber Mikroorganismen und lösliche Chemikalien bleiben im Wasser, wenn sie sich nicht koagulieren oder ausflocken lassen.“ Ganz anders sieht das Pedro Mancuso, Experte für Wasser-Rückgewinnung an der Hochschule für Öffentliche Gesundheit und Koordinator der Messungen für die Staatsanwaltschaft: Die Flotation habe die Wassertrübung in manchen Proben von 100 Punkten (sehr dunkel auf der optischen Skala, die hier benutzt wird) auf 7 erniedrigt: „Das Wasser ist absolut transparent.“ ■

MARCELO LEITE ist Wissenschaftsjournalist, Buchautor und Kolumnist der Tageszeitung Folha de São Paulo. 1989 machte er Station bei bdw.

von Marcelo Leite

São Paulo in Zahlen

Einwohnerzahl: 19,6 Millionen in der Metropolregion

Bevölkerungsdichte: 7000 Einwohner pro Quadratkilometer

Durchschnittsalter: 31 Jahre

Universitäten: 3

Pendler: 38,7 Millionen Fahrten pro Tag, davon 24,5 Millionen motorisiert

Müllproduktion: 14 000 Tonnen pro Tag

Kriminalität: 37 Morde auf 100 000 Einwohner

Stau pro Tag: 128 Kilometer

Trinkwasserverbrauch: 2,4 Millionen Kubikmeter pro Tag

Abwasserproduktion: 27 Kubikmeter pro Sekunde

Trinkwasserverlust durch Lecks: 1 Million Kubikmeter pro Tag

São Paulo für Touristen

Hilton-Hotel (DZ): 164 Euro

1 Liter Benzin: 0,90 bis 1,00 Euro

1 Bier (Restaurant): 2 Euro

1 Souvenir-T-Shirt: 7,10 Euro

10 km Taxifahrt: 13 bis 25 Euro (je nach Verkehr)

Kino: 6,70 Euro

Alle Angaben: Stand Mai 2008

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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