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Ver-rückte Welt

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Ver-rückte Welt
Wie wir unser Erdbild zurechtbiegen

Schätzen Sie mal: Welche Stadt liegt südlicher – Berlin oder Montreal? Falsch. San Francisco oder Madrid? Vermutlich wieder daneben. Lissabon oder Tunis? Wahrscheinlich auch nicht richtig. Montreal liegt näher am Äquator als Berlin, San Francisco als Madrid und Lissabon ist tatsächlich – etwas – südlicher als Tunis. Konsultieren Sie Ihren alten Schulatlas, wenn Sie es nicht glauben. Warum irren häufig auch gebildete Menschen bei solchen Fragen? Psychologen nehmen sich dieses Problem immer wieder vor. Denn es verrät viel darüber, wie unser Bild von der Welt aussieht und wie wir es in unserer Vorstellung zusammenpuzzeln. Die nahe liegendste Vermutung wäre, dass wir eine Art kleiner Weltkarte im Kopf speichern. Ein solcher Atlas müsste allerdings ziemlich verzerrt sein, um die obigen Irrtümer hervorzubringen. Für diese Theorie sprechen einige Blamagen, die in Nordamerika beheimatete Versuchspersonen bei einem Test vor 20 Jahren hinlegten: In einer Art Schlichtgeografie wurde Nordamerika genau über Südamerika verortet und schon fand sich das an der US-Ostküste gelegene Miami östlich von Lima an der peruanischen Westküste. In irdischer Wirklichkeit befindet sich Miami jedoch etwas westlicher von Lima, da Nordamerika überwiegend weiter im Westen liegt als Lateinamerika. Doch grobschlächtig neu platzierte Kontinente können nicht das ganze Geheimnis sein. Denn wie neue Experimente zeigen, leistet sich die individuelle Geografie weitere Kapriolen. Auch innerhalb eines Kontinents herrscht Konfusion. Die Psychologin Alinda Friedman und ihr Kollege Norman Brown von der Universität von Alberta ließen kanadische Studenten schätzen, auf welchen Breitengraden verschiedene Städte liegen. Die Befragten teilten Nordamerika in Regionen ein: Im Norden lokalisierten sie zunächst einmal lauter kanadische Orte, dann kam eine Weile nichts, bevor die US-Städte auftauchten. Die wurden dann im Süden – wieder nach einer deutlichen Lücke – von den mexikanischen abgelöst. Dabei liegt die US-Stadt Seattle nördlich von etlichen kanadischen Orten und Miami südlicher als das mexikanische Juarez. Hinter solchen Pannen vermutet das Psychologenteam keine verzerrte Landkarte im Kopf, sondern einen geografischen Kurzschluss. Die Befragten sagten sich wohl: Kanada liegt nördlich von den USA – und übertrugen dies auf alle Städte in diesen Ländern. Besonders kurios denken die Kanadier über Europa und Afrika. Sie unterscheiden zwischen einer nordeuropäischen Region einschließlich Frankreich und dem subjektiv südlicheren Gebiet des Mittelmeeres. Weil Mailand aber zum Mittelmeerland Italien gehört, muss es unterhalb von Nizza liegen, weil das ja französisch und somit in der Gegend von Paris zu suchen ist. Erfahren Probanden etwas über die tatsächliche Geografie, ändern sie ihre Vorstellungen gerade so weit, wie es unbedingt nötig ist. Psychologen nennen dies das „ Trägheitsprinzip“. Als die Testpersonen den Breitengrad von Lissabon und Athen erfuhren und damit klar war, dass beide Städte nördlicher liegen als gedacht, verlagerten die Testpersonen ganz Südeuropa „nach oben“. Afrika ließen sie allerdings fast da, wo es zuvor war – sie dehnten einfach das Mittelmeer aus. In der Neuen Welt funktioniert das nicht. Wurden die Kopf-Touristen belehrt, dass sie den unteren Teil der USA zu weit im Süden lokalisiert hatten, verschoben sie Mexiko mehr in den Norden, wo es hingehört. Da zwischen beiden Ländern kein Meer als Puffer liegt, blieb ihnen kaum etwas anderes übrig. Solche Zugeständnisse an die Logik nennen die Psychologen „Kohärenz“. Gerät sie mit dem Trägheitsprinzip aneinander, gewinnt die Kohärenz, meint Alinda Friedman. Das immerhin ist tröstlich.

Jochen Paulus

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