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Urzeit-Meer unter dem Eis

Allgemein

Urzeit-Meer unter dem Eis
Unter kilometerdickem antarktischen Eis liegt ein Süßwassermeer. Forscher wollen das Naturwunder anbohren. Sie vermuten Leben.

Auf der Suche nach einem unberührten Fleckchen Erde klettern Menschen auf die höchsten Berge, schleppen sich durch öde Wüsten – und stolpern doch immer wieder über eine Cola-Dose oder Kippenreste. Beim Wostok-See, (russisch: Ozero Wostok, englisch: Lake Vostok) der 36-mal mehr Wasser enthält als der Bodensee, ist das anders. Dieses Gewässer hat nie ein Mensch mit eigenen Augen erblickt. Kein Tropfen verschmutzter Abwässer und kein Hauch Zivilisationsluft hat je seine Oberfläche gekräuselt. „Der Wostok-See ist das letzte größere Gewässer dieser Erde, das von Menschen nicht verändert wurde”, sagt Roland Psenner, Spezialist für zugefrorene Alpenseen von der Universität Innsbruck. Der See liegt am kältesten Ort der Erde mitten im antarktischen Kontinent unter vier Kilometer Eis begraben. Vor 15 Millionen Jahren schloss sich die Eisdecke über dem See für immer. Für die Lebewesen darin war das eine Katastrophe. Abgeschnitten vom Sonnenlicht verhungerten die meisten Mikroorganismen und mit ihnen die Rädertierchen, Fadenwürmer und Kleinkrebse. Einige Mikroben jedoch überlebten. Sie ernährten sich von organischem Material, das durch den Eispanzer sickerte und fraßen die Leichen der Katastrophe. Doch dann folgte der zweite Schlag. Die Eisdecke über dem See war bereits auf mehrere Kilometer angewachsen. Plötzlich war der Druck so groß, dass sich der Sauerstoff aus dem abschmelzenden Eis nicht mehr wie bisher im See löste, sondern in Käfigen aus Wassermolekülen, so genannten Clathraten, eingeschlossen wurde. Damit war er für die Organismen unerreichbar. Viele erstickten. Einige aber lernten, die Käfige aufzubrechen, so vermuten Forscher. Die letzten Organismen leben an Stellen, an denen die Nährstoffe und der Sauerstoff etwas reichlicher sind als im übrigen See. Abgeschirmt durch den dicken Eispanzer – der Partikel von der Oberfläche erst eine halbe Million Jahre später in den See entlässt –, haben diese noch nichts vom geschäftigen Treiben der Menschen über dem Eis bemerkt. Dort planen Forscher die Expedition in die Zeitblase. „ In fünf Jahren sind wir drin”, schätzt Psenner. Im größten See unter dem antarktischen Eis suchen die Wissenschaftler vor allem nach Organismen, die auf der restlichen Welt ausgestorben sind. Eine Frage interessiert Psenner besonders: „Gibt es im See Nahrungsnetze?” Bilden die Organismen ein lebendiges Ökosystem – oder vegetieren sie nur so vor sich hin? Auch die NASA-Forscher haben diese Fragen in die Antarktis getrieben. Die amerikanische Weltraumbehörde betrachtet das Unternehmen am Wostok-See als Training zur eigentlichen Mission: Die Suche nach Leben auf dem vereisten Jupitermond Europa – auch dort entdeckten Astronomen unter der Eisschicht ein Meer. Dass im Wostok-See Leben existiert, davon ist Psenner überzeugt. Zwar ist der See nach seinen Modellrechnungen rund hundertmal nährstoffärmer als Wasser im Bodensee, doch für Bakterien reiche es immer noch. Bis zum Beweis dieser These bleibt noch viel zu tun. Erst müssen die Antarktisforscher ihre Regierungen vom Projekt überzeugen. Das Abenteuer wird schätzungsweise 100 Millionen US-Dollar kosten. Auch die technischen Probleme sind nicht gelöst. Wie kommen die Forscher in den See hinein, ohne ihn mit Oberflächen-Bakterien oder Brennstoff zu verschmutzen? Das ist nicht nur eine Frage des Naturschutzes. „Wenn wir nicht sauber eindringen, ist das ganze Unternehmen sinnlos”, meint Psenner. Denn die Forscher erwarten so wenige Organismen und organische Moleküle, dass jede Verschmutzung durch die Bohrung die Messresultate erheblich verfälschen würde. Mehrere Forscherteams entwickeln deshalb hochreine Systeme. Noch kann aber niemand eine saubere Bohrung garantieren. Wegen verschmutzter Bohrkerne liegen sich zwei Forscherfraktionen in den Haaren. Die umstrittenen Kerne stammen aus der tiefsten Eisbohrung überhaupt. 3623 Meter tief hatten sich russische Forscher gewagt. Erst 120 Meter über dem Wostok-See stoppten sie. In den tiefsten Abschnitten des Eiskerns machten französische Forscher eine Entdeckung: Unterhalb von 3539 Metern änderten sich die Größe der Eiskristalle und die Isotopen-Zusammensetzung schlagartig. „Das muss gefrorenes Seewasser sein”, schlossen die Wissenschaftler. Die Mikrobiologen David Karl von der Universität Hawaii und John Priscu von der Universität Montana entdeckten unterhalb dieser Marke im Eis nicht nur atmende Bakterien, sondern auch so viel organischen Kohlenstoff, dass sie meinten, der könne ein lebendiges Ökosystem im See am Leben erhalten. Doch Dietmar Wagenbach von der Universität Heidelberg hält die Resultate für „amerikanische Hüftschüsse”. Erstens hätten die Amerikaner den Kohlenstoffgehalt mit einer Methode gemessen, die bei so geringen Mengen versage. Zudem seien die Eisblöcke derart mit Kerosin verschmutzt, dass sich keine exakte Analyse anstellen lasse. Kerosin verhindert bei Eiskernbohrungen das Zufrieren des Bohrloches. Mit Jean Robert Petit vom Staatlichen Forschungszentrum in Saint Martin d’Hères bestimmte Wagenbach nochmals den Kohlenstoffgehalt von gefrorenem Wostok-Seewasser – mit einer neuen Messmethode. Und siehe da: „ Unsere Werte betragen ein Zehntel bis ein Hundertstel der amerikanischen”, so Petit. Ihre Kritik und ihre Ergebnisse sandten die beiden Forscher an das Wissenschaftsmagazin Science, das die spektakulären Bakterienfunde im Eis des Wostok-Sees veröffentlicht hatte. Für Bedenken gab es dort jedoch keinen Platz. „Das ist eben kommerzieller Wissenschaftsbetrieb”, schimpft Wagenbach. Da werde Wissenschaft verkauft und nicht mehr unabhängig veröffentlicht. Streitet man sich nur um den Verschmutzungsgrad der Eiskerne, so lässt sich die Frage lösen – man nimmt neue Proben. Würde aber der Wostok-See mit Chemikalien oder dort lebensfähigen Bakterien von der Oberfläche verunreinigt, „wäre ein Unikat zerstört”, fürchtet Ricardo Roura, Leiter der Antarctic and Southern Oceans Coalition, eines Zusammenschlusses von 240 nichtstaatlichen Organisationen (NGO). Roura stört die Eile, mit der insbesondere die NASA in den See möchte: „Die Wissenschaftler haben sich entschieden, den Wostok-See anzubohren, sobald dies technisch sauber möglich ist. Um den wissenschaftlichen und ökologischen Wert des Sees zu erhalten, wäre es aber am besten, das Anbohren zu verschieben.” Vielleicht seien die Techniken erst in mehreren Generationen wirklich sicher. Am liebsten wäre es ihm, man würde sich entschließen, diesen letzten unberührten Ort der Welt nicht anzutasten. Auch Roland Psenner fragte seine Kollegen vor kurzem bei einem Meeting: „Warum lassen wir den Wostok-See nicht in seiner mythischen Dunkelheit?”

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