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Stahlbeton und Arbeitspferde

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Stahlbeton und Arbeitspferde
Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms war ein Kinderspiel im Vergleich zum neuesten Projekt der Zell-Forscher: Sie wollen verstehen, wie alle Eiweiße im menschlichen Körper aussehen und wie sie als Gemeinschaftswerk funktionieren.

„Vergessen wir das Genom“, forderte Prof. Sydney Brenner jüngst auf einer wissenschaftlichen Konferenz. Wie bitte? 250 Bio-Wissenschaftler meinten, sich verhört zu haben, und schauten den Nobelpreisträger verblüfft an. Brenner konnte doch nicht wirklich vom menschlichen Genom gesprochen haben, dessen Sequenzierung gerade erst als Krönung der biomedizinischen Forschung hochgejubelt worden war. Hatte er aber doch. Brenner glaubt nicht, dass man allein aus den Genom-Daten herauslesen kann, wie eine Zelle, geschweige denn ein Organismus funktioniert. Die Gene sind nämlich nur Bauanweisungen für die Proteine, die Eiweiße. Und es sind eben jene Proteine, die wie Mörtel und Steine die Zellen aufbauen, Nahrung in Energie umsetzen, einen Organismus wachsen und altern lassen. Funktionieren Proteine nicht, werden wir krank. Krebs und Alzheimer gehen auf ihr Konto genauso wie Autoimmun- und Herz-Kreislauf-Krankheiten. Man kann zwar anhand von Genom-Daten für viele Eiweiße Funktionen vorschlagen – doch wann eine Zelle welches Protein braucht, wie sie es verwendet, und was passieren würde, wenn das Protein fehlen würde, das alles steht nicht im Genom geschrieben. Genomforscher müssen sich daher vorkommen wie der Patient P., von dem der Neurologe und Buchautor Oliver Sacks berichtet. Herr P. konnte zwar einen Handschuh korrekt als „ durchgehende Oberfläche“ mit „fünf Ausstülpungen“ beschreiben, in die man „etwas hineintun“ kann. Wozu das Objekt aber gut war, blieb ihm verborgen. „Funktionale Genomforschung“ oder „ Proteom-Forschung“ heißen die Projekte, in denen die Forscher herausfinden wollen, was welche Proteine in der Zelle tun. Den Begriff „Proteom“ prägte 1994 der junge australische Forscher Marc Wilkins. Dahinter steckt die komplette Ausstattung eines Organismus mit Eiweißen. Um diesen neuen Forschungsansatz zu unterstützen, gründeten namhafte Protein-Chemiker und Mediziner im Jahr 2001 die Human Proteome Organization (HUPO).

Inzwischen ist auch die wirtschaftliche Jagd auf die Proteine eröffnet. Voller Enthusiasmus wurden in den letzten Jahren unzählige Forscher-Allianzen geschmiedet, neue Firmen gegründet, mit großen Pharma-Unternehmen Multi-Millionen-Dollar-Verträge geschlossen. Proteom-Firmen avancierten zu den Lieblingen der Investoren. Die Firma Myriad Proteomics in Salt Lake City, USA, kündigte vollmundig an, sie werde gemeinsam mit Oracle and Hitachi bis zum Jahr 2004 das gesamte menschliche Proteom analysiert haben.

Unabhängige Forscher halten solche Prognosen für viel zu optimistisch. „Genome sind nahezu ein Kinderspiel gegen Proteome“ , konstatiert Deutschlands erster Professor für Proteom-Forschung Michael Glocker von der Universität Rostock. Und das hat gleich mehrere Gründe. Erstens ist das Proteom eines Organismus keine konstante Größe – wie das Genom mit seinen etwa drei Milliarden biochemischen Buchstaben –, sondern es ist höchst dynamisch. Proteom-Analysen können also immer nur Momentaufnahmen sein. Während in fast jeder Zelle eines Organismus sämtliche Gene immer vorhanden sind, unterliegen Proteine einem ständigen Wechsel. Jeden Moment werden neue Moleküle synthetisiert und überflüssige abgebaut. Dabei bildet jeder Zelltyp nur das für seine Aufgabe nötige Protein-Inventar – dessen Zusammensetzung aber von Alter und Geschlecht, Tageszeit, Ernährungszustand und vielen anderen Bedingungen abhängt. In einer Gehirnzelle wird der Forscher also ein anderes Protein-Muster finden als in einer Muskel- oder Hautzelle. Das Proteom einer Krebszelle ist anders als das einer gesunden Zelle.

Zweitens ist bis heute nicht bekannt, wie viele Proteine eine menschliche Zelle überhaupt hat. Die Datenbank „Human Protein Index“ der Large Scale Proteomics im kalifornischen Vacaville – einer der führenden Firmen in der Proteom- Szene – verzeichnet 115000 Proteine aus 157 Geweben. Etwa 8500 gut untersuchte Eiweiße sind in der Datenbank SWISS PROT dokumentiert. „Aber der Mensch dürfte zwischen 500000 und einer Million Proteine haben“, prognostiziert Glocker. Das wären zehn-, vielleicht zwanzigmal mehr Proteine als Gene. Mit einer solchen Menge hatte noch vor wenigen Jahren kein Forscher gerechnet. Das war die erste Überraschung. Die biologischen Grundlagen dieser Komplexität sind vielfältig. Eine Ursache ist das so genannte differenzielle Splicing: Lange Zeit dachte man, dass von einem Gen nur eine Sorte RNA-Moleküle kopiert wird, die die Zelle als Bauanleitung für nur eine Sorte Proteine benutzt. Diese Annahme war falsch. Inzwischen wissen die Forscher: Mehr als die Hälfte aller menschlichen Gene wird in jeweils mehrere verschiedene RNA-Moleküle umgeschrieben. Ein Gen kann also Konstruktionspläne für gleich mehrere Eiweiße enthalten. Das war die zweite Überraschung für die Proteom-Forscher. Doch damit nicht genug: Die Zahl der Protein-Varianten wird noch dadurch erhöht, dass die Zelle ihre Eiweiße in hundertfacher Weise nach der Synthese verändert. Beispielsweise werden Phosphor-, Zucker- oder Kohlenwasserstoff-Gebilde angehängt und Schwefelverbindungen geknüpft.

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Um diese komplexe Welt zu verstehen, brauchen Proteom-Forscher neue Denkansätze und Techniken. Traditionell versuchen Biochemiker zu verstehen, wie ein Protein in einem bestimmten Prozess, beispielsweise bei der Zellteilung, funktioniert. Der Proteomiker dagegen analysiert mit einem Experiment gleich tausende von Proteinen. Das gelingt ihm nur, weil seine Arbeitspferde, die zweidimensionale Gel-Elektrophorese und die Massenspektrometrie, in den letzten zehn Jahren enorm verbessert wurden.

Wie eine Proteom-Analyse funktioniert, lässt sich am einfachsten an einem Beispiel erklären, etwa an der Bäckerhefe. Sie ist ein beliebtes Modell der Biologen, weil es für etwa ein Viertel der Hefe-Gene beim Menschen verwandte Gene gibt und viele Prozesse sich in menschlichen und Hefe-Zellen ähnlich abspielen.

Eine Proteom-Analyse beginnt in der Regel damit, dass man einen Extrakt mit den Eiweißen eines Zelltyps auftrennt – und zwar auf einem Gel aus Polyacrylamid, das wie ein Sieb wirkt. Allerdings schafft man es nicht, alle rund 6500 Hefeproteine allein nach der Größe voneinander zu trennen, denn viele davon sind ähnlich groß. Deshalb nutzen die Protein-Forscher eine zweite Eigenschaft der Eiweiße, nämlich deren elektrische Ladung. Diese Methode wurde schon vor 30 Jahren im Wesentlichen von Prof. Joachim Klose, Humboldt-Universität Berlin, erfunden und anschließend von Prof. Angelika Görg, Technische Universität München, zur Standardmethode entwickelt. Noch vor 10 oder 15 Jahren waren die Ergebnisse solcher Gel-Experimente kaum reproduzierbar, und man konnte höchstens 200 Proteine damit auftrennen. Heute aber ist es keine große Kunst mehr, sämtliche Proteine der Hefe mit einem oder zwei Experimenten voneinander zu trennen.

Am Ende einer Trennung haben die Forscher ein Gel mit tausenden von Flecken, in denen jeweils ein bestimmter Protein-Typ steckt, den sie nun genauer untersuchen können. Sie schneiden die Eiweiß-Flecken aus, zerkleinern die Proteine mit ausgewählten Enzymen und stecken sie zum Schluss in ein Massenspektrometer. Dieses Gerät schießt die Eiweiß-Schnipsel auf einen Detektor. Nach ihrer Größe und elektrischen Ladung getrennt schlagen sie auf dem Detektor auf. In Sekunden kann die Maschine aus diesen Aufpralldaten die exakte Größe der Protein-Bestandteile berechnen. Der Computer vergleicht schließlich die so gewonnenen Daten mit denen in Datenbanken. Die Forscher finden auf diese Weise heraus, ob es ähnliche Proteine gibt oder in welchem Gen der Bauplan des Eiweißes beschrieben ist.

Unterdessen testen Biochemiker, ob das neu gefundene Eiweiß alleine arbeitet oder zusammen mit anderen Proteinen. Eiweiße werkeln nämlich gerne im Team. Diese Erkenntnis war die dritte große Überraschung für die Wissenschaftler. Sie hatten lange Zeit angenommen, dass Proteine ihre Arbeit weitgehend alleine verrichten würden. Das erwies sich als völlig falsch. So entdeckte Dr. Peter Uetz vom Forschungszentrum Karlsruhe ein Beziehungsgeflecht von 1548 Proteinen in der Bäckerhefe, die über 2350 verschiedene Interaktionen miteinander durchführen.

Die Heidelberger Firma Cellzome und die kanadische Firma MDS Proteomics identifizierten weitere hunderte von Protein-Komplexen in der Hefe. Sie hatten teilweise bis zu 80 Partner – teils dauerhafte Verbindungen, teils „One-Night-Stands“. Dass die Forscher den Proteinen jetzt so große Aufmerksamkeit widmen, liegt vor allem daran, dass sie mehr über Krankheiten lernen wollen. Denn viele Erkrankungen sind die Folge einer fehlerhaften Protein-Produktion:

• Entweder werden zu wenige oder nicht funktionierende Proteine hergestellt, bei Stoffwechselerkrankungen zum Beispiel.

• Oder es gibt zu viele oder überaktive Eiweiße – Krebs kann entstehen.

• Oder die Proteine falten sich falsch. Was fehlgefaltete Proteine bewirken, zeigt sich in drastischer Weise bei BSE und der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung. Diese tödlichen Krankheiten entstehen, wenn sich Prionen falsch verknäulen.

Langfristig versprechen sich die Forscher neue Medikamente und neue Vorsorgemethoden durch die Proteom-Forschung. Besonders wichtig ist dabei der Vergleich der Proteome gesunder und kranker Menschen. Er zeigt, welche Eiweiße bei einer Krankheit entscheidend sind. Gegen sie will man dann neue Medikamente entwickeln oder sie als Früherkennungszeichen benutzen.

Beispiel Blutplasma: Bei der Genfer Firma GeneProt durchforsten 50 Massenspektrometer im Dauereinsatz menschliches Blutplasma. Auch die HUPO initiierte ein Blutplasma-Projekt. Das große Interesse an dem besonderen Saft erklärt Glocker so: „ Vermutlich ist im Plasma jedes Protein vorhanden, das ein Mensch produziert. Jede Krankheit hinterlässt darin ihre eigenen Spuren.“ Während das Proteom-Projekt bei der Entwicklung neuer Medikamente noch am Anfang steht, zeigen sich bei den Diagnostika schon erste Erfolge. „Dieses Forschungsfeld explodiert“, kommentiert Prof. Nicolas Wernert von der Universität Bonn. Sein Team fand Protein-Muster, die verschieden aggressive Arten von Prostatakrebs charakterisieren. Lance Liotta und Emanuel Petricoin, die beide am klinischen Proteom-Programm der US-Gesundheitsbehörden arbeiten, entwickelten einen Test auf Eierstockkrebs. Mit nur einem Tropfen Blut, der Hilfe eines speziellen Protein-Chips und eines Massenspektrometers konnten sie unter 116 Frauen 50 Karzinomträgerinnen identifizieren, sogar welche im Frühstadium. Zurzeit laufen klinische Studien, in denen die Tests ihre langfristige Wirksamkeit beweisen sollen. Die Protein-Diagnostik könnte nicht nur bestehende Vorsorge-Untersuchungen verbessern. Auch Tests für Krebserkrankungen, die man bisher erst im Spätstadium erkennen konnte – wie die der Bauchspeicheldrüse und der Eierstöcke –, rücken nun in greifbare Nähe.

Karin Hollricher

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