Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Skalpell aus Schall

Allgemein

Skalpell aus Schall
Akustische Chirurgie macht Operationen ohne Schnitte und Narkose möglich.

Der Patient liegt bequem auf einer Couch im Londoner Royal Marsden Hospital. Er atmet tief ein. Dann führt der Chirurg einen Metallkopf über den Bauch, dort wo die Leber sitzt. In Sekundenabständen drückt er einen Knopf. Nachdem der Patient ausgeatmet hat, sprechen die beiden über das jüngste Spiel des Fußballclubs Arsenal London.

Der Mann hat Leberkrebs und dies ist seine Operation. Mit jedem unsichtbaren Puls aus der Metallsonde schmilzt sein Tumor. Ein Skalpell gibt es nicht. Blut fließt keins. Der Mann spürt keine Schmerzen, folglich gibt es keinen Narkosearzt. Als die Prozedur nach drei Stunden beendet ist, steht er auf und geht nach Hause.

Was anmutet wie Science-Fiction, ist für die „Therapeutic Ultrasound Group“ in der Londoner Klinik Wirklichkeit. Die Ärzte arbeiten mit einer OP-Technik von morgen: mit fokussiertem Ultraschall.

Die hochfrequenten Schallwellen, die bis vor kurzem nur verschwommene Bilder aus dem Körperinneren lieferten oder Nierensteine zertrümmerten, sind zum Präzisionsinstrument der Chirurgen geworden. Die Operateure verschweißen damit gerissene Blutgefäße in der Tiefe des Körpers und zerstören Tumore mit bislang unerreichter Genauigkeit – ohne Schnitte und Verletzung von gesundem Gewebe. „Eine Revolution“, urteilt das britische Wissenschaftsblatt New Scientist.

Anzeige

Das Skalpell der Zukunft arbeitet lautlos, ähnlich einer Ultraschall- Hundepfeife, nur mit noch viel höheren Frequenzen: drei bis vier Millionen Hertz. Das menschliche Gehör kann maximal 20000 Hertz hören. Um das akustische Skalpell zu erzeugen, versetzen oszillierende elektrische Signale einen piezoelektrischen Kristall in rasend schnelle Schwingungen. Der Kristall beginnt, hochfrequente Schallwellen auszusenden, die eine Art Hohlspiegel an einem Punkt bündelt. Wenn dieser Punkt auf Gewebe trifft, wandelt sich seine Schallenergie in sengende Hitze um. „Es ist, als ob man Sonnenstrahlen mit der Lupe auf ein Laubblatt bündelte“, erklärt Mark Allen vom Royal Marsden Hospital. Die Ärzte müssen mit diesem Hot-Spot aber nicht durch die Haut schneiden, sondern fokussieren ihn erst in der Tiefe des kranken Gewebes.

Bei dem traditionellen bildgebenden Ultraschall, wie er zum Beispiel bei Schwangerschaftsuntersuchungen verwendet wird, haben die ausgesandten Wellen nur eine schwache Intensität: rund 1,75 Watt pro Quadratzentimeter. Beim fokussierten Ultraschall erhöht sie sich auf über 17000 Watt pro Quadratzentimeter. Das Prinzip wurde schon in den fünfziger Jahren in den USA ersonnen. Allerdings fehlte es lange an den technischen Möglichkeiten, es praktisch umzusetzen. Erst Fortschritte auf verschiedenen Gebieten der Elektrotechnik bahnten dem Verfahren den Weg in den OP-Saal.

Bioingenieure von der Universität Washington in Seattle verschmelzen mit der Tiefenhitze verletzte Blutgefäße. Mit dem heilenden Schall stoppten sie im Experiment sogar schwere Blutungen von Schweinen aus aufgerissenen Beckenarterien binnen einer Minute. Willkommener Nebeneffekt: Die Hitze setzt schlagartig den Gerinnungsstoff Fibrin im Blut frei, der die Wunde versiegelt.

„Nach Verkehrsunfällen zählt jede Minute“, betont Teamleiter Prof. Shahram Vaezy. Bei inneren Verletzungen pumpt jeder Herzschlag das Blut aus den Adern. Die einzige Hoffnung für das Unfallopfer war bisher ein nahes Krankenhaus. Jetzt entwickelt Vaezys Team die rettende Alternative: einen mobil einsetzbarer Ultraschall-Schweißer für Notärzte – aber auch für die US-Army, die damit Soldaten auf dem Schlachtfeld retten will.

Ein Problem war bisher, während Organ-Operationen scharfe Bilder aus dem Körperinnern zu bekommen. Gewöhnliche Ultraschallbilder sind meist verschattet: Die schwach energetischen Strahlen, vom angepeilten Organ reflektiert, werden durch Knochen oder luftgefülltes Gewebe abgeschwächt und gestreut. Die schlechte Schallortung verhinderte bislang den Einsatz der neuen Technik bei Gehirn-Operationen, am Herzen oder im Bauchraum unter Därmen.

Ein neu entwickelter portabler Ultraschall-Scanner kann nun die Blutung lokalisieren und den heilenden Hitzestrahl dirigieren. Der Trick: Die vom Bildgerät ausgesandten Schallwellen üben Druck auf die Blutflüssigkeit aus. Dadurch schwappen Blutansammlungen an der Austrittsstelle der Wunde gleichsam umher. Das wiederum verändert die Frequenz der reflektierten Schallwellen und macht dadurch den Ort der Verletzung sichtbar.

Ein noch präziseres Peilverfahren, die Computertomographie, liefert zwar gestochen scharfe Bilder. Aber in der engen Röhre, in der der Patient liegt, konnte kein Chirurg operieren. Mediziner der Universität Harvard haben das Problem jetzt gelöst. Sie schieben Patientinnen mit Gebärmutter-Krebs auf einem Schlitten in den Tomographen. Dieser füttert den Ultraschall-Generator, der direkt neben der Patientin an den Schlitten montiert ist, mit den exakten Daten über den Ort des Tumors. Dann wird der „Hot-Spot“ ferngesteuert auf das kranke Gewebe fokussiert, und die entarteten Zellen werden zerstört. Die Patientin spürt nichts. Statt eine schwere Operation mit wochenlangem Klinikaufenthalt hinter sich zu bringen, geht sie noch am gleichen Tag nach Hause.

Mobile Computertomographen, so genannte Open-Access-Scanner, sollen die bisherigen engen Tunnelröhre in Zukunft ganz ablösen. Sie erlauben den Operateuren freien Zugang zum Patienten. Auch bei den Ultraschall-Skalpellen gibt es bereits eine zweite Generation. Flexible Ultraschall-Köpfe ermöglichen verschiedene Eindringtiefen während einer Operation. Außerdem sind sie haltbarer als ihre Vorgänger und verbilligen so die Anwendung. „ Es gibt derzeit einen gewaltigen Entwicklungsschub“, konstatiert Prof. Michael Marberger von der Universitätsklinik Wien.

Sein Urologen-Team hat bereits 250 Patienten mit Prostata-, Nieren- und Hodentumoren mittels akustischer Chirurgie operiert. Für Marberger ist es die ideale Methode: „Der fokussierte Ultraschall erlaubt feinste Linienführung.“ Konventionelle Strahlentherapie zerstört viel umliegendes Gewebe, da die Ärzte auf Nummer Sicher gehen müssen. Denn bleibt nach einer Krebsoperation nur eine einzige entartete Zelle zurück, kann der Tumor wieder neu entstehen. Bei der Ultraschall-Operation wird dagegen gesundes Gewebe um den Tumor nur in einer Dicke von 20 Zellschichten zerstört. Das ist weniger, als das Auge erkennen kann. Trotzdem scheint es nach den ersten Erfahrungen geringere Rückfall-Quoten als bei der konventionellen Strahlentherapie zu geben. „Die lokale Erhitzung stimuliert offenbar das Immunsystem“ , vermutet Marberger. Seine Hypothese: Der Körper erkennt die verschmorten Krebszellen als Fremdgewebe und löst eine Immunabwehr aus, die die überlebenden Krebszellen vernichtet.

Ähnlich gute Erfahrungen hat ein Urologen-Team am Akademischen Lehrkrankenhaus der Universität München gemacht. Die Ärzte operierten bereits 850 an Prostata-Krebs erkrankte Patienten mit dem akustischen Skalpell. Jetzt nehmen Ultraschall-Mediziner das nächste große Ziel in Angriff: die berührungsfreie Operation am Gehirn. „Das ist der Traum der Chirurgen, denn die bisher möglichen Eingriffe bei Hirntumoren zerstören zwangsläufig gesundes Gehirngewebe“, sagt der Londoner Chirurg Mark Allen.

Vor der knöchernen Schädeldecke mussten die Mediziner bislang kapitulieren. „Der Schädel schwächt die Intensität der hochfrequenten Schallwellen auf ein Zwanzigstel ab“, sagt der Ingenieur Kullervo Hynynen von der US-Universität Harvard bei Boston. Einfaches Hochfahren der Energie ist keine Lösung, es würde nur die Kopfhaut versengen.

Hynynen fand einen Ausweg: Sein Team entwickelte einen Spezialhelm mit 64 niederfrequent arbeitenden Schallköpfen. Deren schwache Energie kann problemlos den Schädel passieren. Der hohlspiegelartige Helm bündelt dann die einzelnen Schallwellen in der Tiefe des Gehirns zum sengenden Hot-Spot.

Das geht nur mit Computerhilfe. Weil der Schädel bei jedem Menschen anders ausfällt, ermittelt ein Rechner die Reflexions-Eigenschaften der jeweiligen Schädelpartien und koordiniert die Feuersalven der 64 Schallköpfe, so dass sie gleichzeitig am selben Ort auftreffen. Die Software dazu entwickeln die Harvard-Forscher derzeit anhand von Totenschädeln, die sie von der Medizinischen Hochschule ausgeliehen haben.

Robert Burdick

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Ag|glo|me|ra|ti|on  〈f. 20〉 Anhäufung, Zusammenballung [→ agglomerieren … mehr

Kom|mu|ni|ka|ti|on  〈f. 20〉 1 Beziehung, Umgang, Verständigung (zw. den Menschen) unter Verwendung von Sprache u. Zeichen 2 Gespräch, Unterhaltung … mehr

Ma|ri|en|dis|tel  〈f. 21; Bot.〉 Korbblütler mit milchweiß marmorierten Blättern: Silybum

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige