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Ein Labyrinth zum Kugeln

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Ein Labyrinth zum Kugeln
Ein Bremer Forschungsteam schickt Menschen in virtuelle Welten – mithilfe einer riesigen Kugel aus dem Vergnügungspark.

Finns erste Schritte in der fremden Umgebung sind unsicher und zögernd. Langsam setzt er Fuß vor Fuß. Mit jedem Schritt verändert der Boden unter ihm seine Lage, kippt nach vorn, gerät ratternd ins Rollen. Finn ist Student an der Universität Bremen, heute aber spielt er Versuchskaninchen. Oder sollte man besser sagen: Versuchshamster? Denn der schlaksige junge Mann wirkt wie ein Hamster in seinem Hamsterrad, während er in einer 2,80 Meter großen Kugel aus einem durchsichtigen Plexiglas-Gitter die Füße voreinander setzt und das Gebilde so in Bewegung bringt. Die Kugel, die auf ein stabiles Radlager montiert ist, dreht sich langsam.

Es dauert nur wenige Minuten, dann hat Finn die Kugel im Griff. Nun heißt es für ihn, sich in einer fremden Welt zurechtzufinden: Auf dem Kopf trägt Finn eine Art Helm, daran ist ein „Visor“ montiert, eine Art Guckkasten, der seine Augen bedeckt. Darin sieht er via Funk eine dreidimensionale Computerwelt. Sie besteht aus Gängen und Zimmern mit Teppichen, Möbeln und Bildern – vertrauten Gegenständen, zwischen denen er sich frei bewegen kann. Jeder Schritt, den Finn in der Kugel macht, wird mittels Sensoren registriert und in den virtuellen Raum übertragen. So kann der Student mithilfe der Kugel in Echtzeit in den künstlichen Räumen vor seinen Augen herumlaufen.

Beobachtet wird er dabei von Tim Hantel und Thorsten Kluß vom Sonderforschungsbereich Raumkognition der Universität Bremen. Die beiden Informatiker haben sich auf einer Empore postiert und verfolgen auf einem Monitor genau, was ihr Proband in der virtuellen Welt gerade sieht und tut. Zusammen mit der Professorin Kerstin Schill, der Leiterin der Arbeitsgruppe Cognitive Neuroinformatics der Universität, haben sie sich den ungewöhnlichen Versuchsaufbau ausgedacht – um der Lösung des Rätsels auf die Spur zu kommen, wie Menschen es eigentlich schaffen, sich in Räumen zurechtzufinden.

IM ALLTAG KEIN PROBLEM

Jeden Tag bewegen wir uns durch Küche, Wohnzimmer und Büro, ohne gegen Wände zu laufen, ein Schienbein an der Kommode zu stoßen oder die Blumenvase vom Regal zu fegen. Wir finden den Weg zur Bushaltestelle, zum Büro oder zum Supermarkt ohne Probleme. Selbst auf freier Flur bekommen wir dank markanter Wegpunkte wie einer alten Buche oder einer verfallenen Scheune schnell eine Orientierung. Doch wie genau uns dies gelingt, wie Menschen überhaupt Räume wahrnehmen und sich in ihnen orientieren, ist wissenschaftlich noch nicht grundlegend geklärt.

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„Wie repräsentieren wir räumliche Umgebungen in unserem Gehirn? Und wie können wir mit räumlichem Wissen schlussfolgern?“ , so formuliert Kerstin Schill ihre Forschungsfragen. Kaum jemand fragt sich das im Alltag. Es funktioniert einfach. Kerstin Schill aber ist kognitive Neuroinformatikern und versucht, Roboter zu entwickeln, deren Funktionsweise denen von Lebewesen ähnelt – und bei diesen Versuchen hat sie schnell gemerkt, wie komplex die Fähigkeiten des Menschen sind. „Ein technisches System hat derzeit keine Chance, sich so sicher in Räumen zu bewegen wie wir“ , sagt sie. Dies will die Forscherin ändern. Doch um den Robotern beibringen zu können, wie ein Mensch im Raum zu navigieren, muss man erst einmal wissen, wie wir das überhaupt anstellen.

„Eine Grundannahme ist, dass es so etwas wie eine kognitive Karte gibt, die wir uns im Kopf anlegen und die irgendwelche metrischen Abbildungen der Umgebung zeigt“, erklärt Kerstin Schill. Die Idee stammt vom englischen Hirnforscher John O’Keefe vom University College of London, der schon 1978 vermutete, dass der Hippocampus im Gehirn eine solche Karte erschafft. Inzwischen gibt es einige Hinweise aus der Hirnforschung, die die These stützen (siehe Kasten unten, „Neuronen für die Raumwahrnehmung“ ).

Schill und ihre Kollegen jedoch sind angetreten, die Theorie zumindest in ihren Grundzügen zu widerlegen. „Wir glauben nicht, dass eine solche metrische Karte die Grundlage unserer Orientierung ist“, sagt Kerstin Schill, „sondern vermuten, dass die Sensomotorik eine große Rolle dabei spielt, wie wir uns im Raum orientieren.“ Nicht eine festgelegte Metrik im Kopf, sondern die Schritte, die wir gehen, die Gerüche, die wir riechen, die Dinge, die wir sehen, wären also die entscheidenden Grundlagen der Orientierung. Das will die Wissenschaftlerin mithilfe der überdimensionierten Hamster-Kugel beweisen.

Wissenschaft statt Monsterjagd

Finn hat sich inzwischen mit seiner virtuellen Umgebung vertraut gemacht. Er ist durch Flure gelaufen, um Ecken gebogen. Er hat sich den Standort von Stühlen und Stehlampen eingeprägt – und wo an der Wand ein Gemälde hing. Nun bekommt er von Tim Hantel erste Instruktionen: „Gehe den kürzesten Weg zum Bild“, sagt der Forscher. Finn verharrt kurz, überlegt. Dann geht er los. Mit ihm bewegt sich ratternd die Kugel.

„Virtusphere“ heißt das Gerät. Es stammt aus den USA, wo es seit einigen Jahren in Spielhallen und Vergnügungsparks eingesetzt wird, um Computerspiele-Fans besonders realitätsnahe Ballerspiele oder Monsterjagden zu ermöglichen. Das Team um Kerstin Schill erkannte das Potenzial der Virtusphere für die wissenschaftliche Forschung – und ließ sich 2010 ein eigenes Modell in das kleine Labor am Rande des Bremer Universitätscampus bauen, als erste Forschergruppe weltweit. 220 000 Euro hat die Kugel gekostet, je zur Hälfte finanziert von der Universität Bremen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Inzwischen arbeiten auch einige Universitäten in den USA mit dem Gerät.

„Die Virtusphere eignet sich ideal für unsere Fragestellung“, sagt Tim Hantel, „weil wir mit ihr die Erkundung einer virtuellen Realität erstmals mit realistischer Bewegung kombinieren können.“ Finns Erkundungsgänge gehören zu ersten Studien mit dem neuen Gerät. Etwa zwei Stunden lang durchquert der Student unter den Augen der Forscher einen virtuellen Flur nach dem anderen.

Die meisten Probanden schlagen sich redlich – und dennoch bleibt vielen von ihnen der Clou des Versuchs lange verborgen: Hantel und seine Kollegen haben in der virtuellen Welt ganz besondere Räume konstruiert – solche mit nicht möglichen Winkeln, solche mit Wegen, die sich kreuzen müssten, es aber nicht tun, und einen quadratischen Gang, bei dem man nach dem Durchschreiten von drei Ecken bereits wieder am Ausgangspunkt steht. „ Physikalisch sind diese Räume unmöglich“, erklärt Kerstin Schill. „Deshalb lassen sie sich auf einer metrischen Karte auch nicht darstellen.“ Und deshalb sollten sie, so glauben die Forscher, die Probanden bei ihren virtuellen Spaziergängen ziemlich irritieren – sofern wir Menschen uns wirklich mithilfe von metrischen Karten im Gehirn orientieren.

Fast alle finden den kürzesten Weg

Doch nichts dergleichen passiert. „Nach ersten Versuchen zeichnet sich ab, dass die Probanden bei ihrer Navigation in nicht möglichen Welten nicht schlechter sind als in möglichen Welten“, sagt Tim Hantel. Fast alle finden den kürzesten Weg, den meisten fällt die physikalische Veränderung der Umgebung gar nicht auf. Erst wenn die Forscher sie hinterher bitten, eine Karte der Räume zu zeichnen, wird vielen bewusst, dass das nicht geht. Daraus lässt sich ableiten, dass ihre Orientierung nicht auf metrischen kartenähnlichen Repräsentationen beruhen kann.

Dennoch bedeutet das Ergebnis nicht automatisch, dass die Hypothese des Teams richtig ist und dass Menschen sich eher über die Informationen ihrer Sinne und ihres Körpers im Raum orientieren. „Die Frage ist, wie man das experimentell überprüfen kann“, erklärt Schill.

Die Verknüpfung von Sensorik und Motorik lernt man im Laufe seines Lebens: Kinder erkunden krabbelnd ihre Umgebung, schieben sich Gegenstände in den Mund und erfassen dadurch Oberflächenstruktur und Festigkeit. Raum und Körperlichkeit sind vom ersten Lebenstag an eng miteinander verknüpft. „Wollte man einen idealen Versuch aufbauen, der diese Einflüsse ausklammert, bräuchte man im Grunde einen Menschen, der sich in seinem ganzen Leben noch nie bewegt hat“, nennt Schill das Problem.

WAS ROBOTER NOCH NICHT KÖNNEN

Noch sind Kerstin Schill und ihre Kollegen ganz am Anfang. Fünf Jahre wird das Projekt laufen. Die Forscher haben zahlreiche Versuche geplant, um zu klären, welche Aspekte für unsere Orientierung im Raum besonders wichtig sind: Wohin schauen Menschen in virtuellen Welten, wenn sie sich orientieren? Welche Hirnareale sind beim Gang durch die künstlichen Räume aktiv? Was dabei herauskommen könnte, ist noch völlig offen. „Ich glaube nicht, dass wir nur eine einzige Repräsentation der Welt haben“, sagt Schill, „sondern denke, dass wir mit vielen heterogenen Repräsentationen arbeiten. Manche sind vielleicht hierarchisch, andere kausal, dritte ganz anders. Unsere Klugheit als Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass wir je nach Situation die richtige Repräsen- tation aussuchen.“ Eine Fähigkeit, die Roboter erst lernen müssen. ■

Tanja Krämer, bdw-Autorin in Bremen, hat sich selbst in die Virtusphere getraut – und gestaunt, wie schnell sie sich an die Situation gewöhnte.

Text von Tanja Krämer, Fotos von Kay Michalak und Nikolai Wolff

Kompakt

· Mithilfe einer riesigen Plastikkugel und virtuellen Welten wollen Forscher der Universität Bremen die räumliche Orientierung erforschen.

· Zur Debatte steht, ob der Mensch sich anhand von metrischen Karten im Kopf orientiert oder sich eher durch die Informationen seiner Sinne und seiner Bewegung im Raum zurechtfindet.

· Erste Versuche zeigen, dass sich Probanden auch in unmöglichen physikalischen Räumen zurechtfinden – was gegen eine Orientierung mit metrischen Karten spricht.

Neuronen für die Raumwahrnehmung

Wie kommt es, dass sich Menschen und Tiere so gut in ihrer Umgebung zurechtfinden? Eine mögliche Antwort lieferten im Jahr 1971 John O’Keefe und Jonathan Dostrovsky vom University College London. Die Hirnforscher entdeckten damals die sogenannten Ortszellen im Hippocampus von Mäusen. Der Hippocampus ist ein Teil des Cortex und eine zentrale Struktur des limbischen Systems. Neben der Steuerung der Affekte ist er vermutlich für das Erinnern mit zuständig. O’Keefe und sein Kollege stellten fest, dass der Hippocampus spezialisierte Neuronen beherbergt, die immer dann feuern, wenn eine Maus an einer bestimmten Stelle eines Labyrinths ankommt.

Sieben Jahre später entwickelte O’Keefe aus dieser Entdeckung die Theorie der kortikalen Karten, der zufolge der Hippocampus auch Informationen über Entfernungen und Richtungen enthält, die er zu einem Gesamtbild der Umgebung verknüpft. Diese Theorie schien sich zu bestätigen, als in den folgenden Jahren bei Mäusen weitere auf Raumerkundung spezialisierte Neuronen im Hippocampus und seinen angrenzenden Hirnregionen gefunden wurden: Kopfrichtungs-Zellen feuern, wenn ein Tier seinen Kopf in eine bestimmte Richtung hält, andere werden aktiv, wenn das Tier an eine Begrenzung kommt. Die sogenannten Rasterzellen wiederum reagieren auf verschiedene Orte und scheinen die Umgebung in eine Art Raster einzuteilen, was eine metrische Einordnung erlaubt.

Ob auch Menschen solche spezialisierten Zellen im Gehirn haben, ist nicht bekannt. Bildgebende Verfahren konnten jedoch zeigen, dass der Hippocampus stärker aktiviert wird, wenn sich ein Mensch im Raum orientiert.

„Ein Bild links, eins rechts“

Herr Pfeiffer, Sie erschaffen virtuelle Welten. Ist räumliches Vorstellungsvermögen für Ihre Arbeit wichtig?

Absolut wichtig. Wir müssen mit unseren Bildern die Realität treffen. Der Zuschauer ist unglaublich sensibel dafür, wenn etwas mit der Perspektive oder der Belichtung nicht stimmt. Meiner Erfahrung nach trainiert man das räumliche Vorstellungsvermögen aber mit der Zeit. Man bekommt ein Gefühl dafür, ob etwas optisch passt. Allerdings: Ich kenne einen Mitarbeiter, der mit unseren 3D-Programmen arbeitet und der von Kindheit an auf einem Auge blind ist. Das heißt, räumliche Wahrnehmung konnte sich bei ihm nie entwickeln, er kann gar nicht dreidimensional sehen. Trotzdem leistet er hervorragende Arbeit!

Was hat sich in Zeiten von 3D-Filmen für die Erschaffung virtueller Welten geändert?

Der Aufwand ist erheblich größer geworden. Um dreidimensionale Tiefe zu erzeugen, braucht man für eine Filmsequenz doppelt so viele Bilder wie früher: Eins für das rechte Auge und eins um ein paar Zentimeter versetzt für das linke Auge. Besonders schwierig wird es bei halbtransparenten Texturen wie Rauch oder Glas: Hier muss die räumliche Tiefe zusätzlich für das Bild hinter der Textur stimmen.

Haben Sie schon einmal von einem virtuellen Raum geträumt, den sie zuvor selbst entworfen hatten?

Das ist mir bis jetzt nur bei Computerspielen passiert.

Haben Sie einen guten Orientierungssinn?

Ich sag’s mal so: Für mich wurden Navigationssysteme erfunden.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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