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Wenn das Gehirn am Steuer sitzt

Allgemein

Wenn das Gehirn am Steuer sitzt
Die Augen können gleichzeitig Bewegungen in verschiedene Richtungen wahrnehmen. Um bei Ablenkungen – zum Beispiel beim Autofahren – nicht vom Kurs abzukommen, sorgen Nervenzellen im Bewegungs- zentrum des Gehirns für schnellen Ausgleich.

Ein Moment der Unachtsamkeit im Straßenverkehr kann schwerwiegende Konsequenzen haben. Neurowissenschaftliche Experimente haben gezeigt, wie intelligente Zellen im Gehirn den Menschen vor den Folgen der Ablenkung schützen können.

Irgendwo im tropischen Regenwald. Akrobatisch schwingt sich ein Affe von Baum zu Baum, auf der Suche nach essbaren Früchten. Rasch taxiert er mit seinem Blick den nächsten Ast, bevor er sich erneut durch die Luft gleiten lässt. Eine derartige Situation stellt das Gehirn des Affen vor eine Herausforderung: Die Distanz zum nächsten Ast muss exakt bestimmt und dessen Eigenschaften müssen eingeschätzt werden, um Bewegungsabläufe entsprechend zu planen.

Obwohl sich der Mensch zur Nahrungssuche nicht von Ast zu Ast hangelt, muss auch er Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit von Objekten einschätzen, um sich sicher durch seine Umwelt bewegen zu können. Wie entscheidend Bewegungswahrnehmung für den Alltag ist, wird besonders deutlich, wenn diese Fähigkeit verloren geht. So berichtet der deutsche Neuropsychologe Josef Zihl in einer 1983 erschienenen Falluntersuchung von einer Patientin, die infolge einer Durchblutungsstörung im Gehirn Bewegungen nicht mehr wahrnehmen konnte, also „bewegungsblind“ war. Goss die Patientin Kaffee in eine Tasse, konnte sie das Ansteigen der Flüssigkeit nicht wahrnehmen und brachte so die Tasse regelmäßig zum Überlaufen. Das Überqueren einer Straße war ihr kaum möglich, da sie die Geschwindigkeit von Fahrzeugen nicht einschätzen konnte. Ebenso fühlte sich die Patientin im Gespräch mit anderen Personen unsicher, da sie Veränderungen in deren Mimik und Gestik nicht erfassen konnte. Die Forscher schlossen aus diesen Beobachtungen, dass der geschädigte Gehirnbereich der Patientin eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung von Bewegungsinformation spielen müsse. Ein Problem allgemein gültiger Schlussfolgerungen aus Patientenstudien ist allerdings, dass in den meisten Fällen nicht nur ein spezifischer Gehirnbereich geschädigt wurde, sondern mehrere Bereiche zerstört sind. Um herauszufinden, wo genau im Gehirn das „Bewegungszentrum“ liegt, sind Untersuchungen am gesunden Sehsystem notwendig. Solche Untersuchungen wurden an Affen durchgeführt, deren Gehirn dem des Menschen strukturell sehr ähnlich ist.

Der amerikanische Neurobiologe William Newsome und seine Kollegen fanden 1989 heraus, welche Zellen im Gehirn von Affen für die Wahrnehmung der Bewegungsrichtung eines Objektes verantwortlich sind. Weiter konnten sie belegen, dass die gleichen Zellen im Bewegungszentrum aktiv waren, wenn die Affen mit ihren Augen ein sich bewegendes Objekt verfolgten. Diesen spannenden Befund – nämlich dass dieselben Gehirnzellen für Bewegungswahrnehmung und Ausführung der Augenbewegungen verantwortlich sind – machen sich nun Forscher zunutze, um auch bei Menschen den Vorgang der Verarbeitung von Bewegungsinformation zu analysieren. Dazu werden Augenbewegungen von Testpersonen während der Betrachtung sich bewegender Objekte gemessen. Die Eigenschaften der Augenbewegungen lassen dann Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden Verarbeitungsprozesse im Gehirn zu. Typischerweise sitzt die Testperson bei einer solchen Untersuchung im Labor vor einem Computerbildschirm, auf dem sich ein Lichtpunkt bewegt, und hat die Aufgabe, den Lichtpunkt möglichst genau mit den Augen zu verfolgen. Dabei werden die Augenbewegungen der Person mittels einer hochsensitiven Videokamera erfasst.

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Bei der anschließenden Auswertung wird die Augenposition zu jedem Zeitpunkt mit der Position des Objektes auf dem Bildschirm in Übereinstimmung gebracht, sodass sich eine Aussage über die Genauigkeit der Augenbewegung machen lässt. Augenbewegungen erlauben also einen direkten Einblick in das Bewegungszentrum im Gehirn. Bisherige Untersuchungen dieser Art gehen von dem einfachsten Fall aus, bei dem eine Person mit einem einzigen sich bewegenden Objekt konfrontiert wird. Das ist im Alltag allerdings selten der Fall. Vielmehr nehmen wir häufig eine Vielzahl von visuellen Objekten wahr, die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in verschiedene Richtungen bewegen. In ihrer Doktorarbeit hat sich Miriam Spering an der Justus-Liebig-Universität Gießen daher mit der Frage auseinander gesetzt, wie unser visuelles System reagiert, wenn es mehrere sich bewegende Objekte gleichzeitig erfassen muss. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für unser motorisches Handeln? Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass wir in der Regel problemlos in der Lage sind, bei dichtem Verkehr auf der Autobahn die Spur zu wechseln oder den Ball im Fußballspiel an einen mitlaufenden Spieler abzugeben. Aber warum gelingt uns das eigentlich so gut? Was sind die Verarbeitungsprozesse, die der Integration mehrerer visueller Bewegungssignale aus dem Umfeld zugrunde liegen? Zur Untersuchung dieser Fragen erhielten Testpersonen die Aufgabe, einen Lichtpunkt, der sich auf einem Computerbildschirm entlang der Horizontalen bewegte (das „Target“ ), mit den Augen zu verfolgen. Zu einem nicht vorhersehbaren Zeitpunkt spaltete sich aus dem Target ein weiterer Lichtpunkt ab, der sich entlang der Vertikalen bewegte (der „Distraktor“). Diesen Distraktor sollten die Testpersonen ignorieren und weiter das Target verfolgen. Während des Experiments wurden die Augenbewegungen der Testpersonen aufgezeichnet. Verschiedene Verhaltensweisen der Augen sind dabei vorstellbar: Zunächst ist denkbar, dass Testpersonen dem Distraktor „widerstehen“ und mit den Augen weiterhin das Target verfolgen. Alternativ könnten die Augen in Richtung des Distraktors abgelenkt werden. Ein solches Verhalten wird als Mittelung von Bewegungsvektoren bezeichnet und stellt nach Annahme einiger Forscher einen verbreiteten Algorithmus zur Berechnung von Bewegung im Gehirn dar. Im hier untersuchten Fall würde das bedeuten, dass sich die Augen der Testpersonen nach Auftauchen des Störeinflusses kurzzeitig in eine diagonale Richtung (gemittelt aus horizontaler Targetrichtung und vertikaler Distraktorrichtung) bewegen.

In der Tat berichteten die Testpersonen nach dem Experiment, dass sie sich von dem Distraktor „angezogen“ fühlten, und nur schwer weiterhin dem Target folgen konnten. Eine Auswertung der Augenbewegungen erbrachte aber dem subjektiven Empfinden der Testpersonen sowie den Erwartungen entgegengesetzte Befunde: Die Testpersonen reagierten auf den Distraktor, allerdings bestand ihre Reaktion darin, dass die Augen zum Zeitpunkt des Auftretens des Distraktors in die entgegengesetzte Richtung ausgelenkt wurden. Die Personen wichen dem störenden Objekt also aus, und bewegten den Blick kurzzeitig von diesem weg! Dass die Testpersonen selbst die Auslenkung in die Gegenrichtung nicht wahrnahmen, ist nicht verwunderlich, denn die gemessene Positionsveränderung des Auges ist klein und dauert nur etwa 200 Millisekunden an. Für das Gehirn sind 200 Millisekunden aber eine lange Zeit, bedenkt man, dass ein visuelles Signal vom Auge bis zum Bewegungszentrum gerade mal 70 Millisekunden benötigt.

In einer aufwendigen Serie von Experimenten wurde als Nächstes gezeigt, dass es sich bei der Reaktion auf den Distraktor nicht um einen reinen Reflex, also eine Art Schreckreaktion des Auges handelt, sondern dass die Bewegung kontrolliert und willentlich ausgeführt wird. Wie lässt sich aber der Impuls für dieses „ Ausweichmanöver“ der Augen erklären, und wozu dient er? Da die Testpersonen berichteten, von dem Distraktor beeinflusst worden zu sein, muss der störende Lichtpunkt die Aufmerksamkeit der Personen auf sich gezogen haben. Weitere Untersuchungen belegten diese Annahme. Eine plausible Erklärung wäre nun, dass der Distraktor als plötzlich auftauchender Lichtpunkt die Aufmerksamkeit kurzzeitig vom Target ablenkt. Ein Objekt, das unsere Aufmerksamkeit beansprucht, zieht häufig auch unseren Blick auf sich. Die Testpersonen waren jedoch instruiert, weiter den Blick auf dem Target zu halten. Die Auslenkung des Auges in die dem Distraktor entgegengesetzte Richtung könnte also eine Ausgleichsbewegung des Auges sein, um die Ablenkung der Aufmerksamkeit zu kompensieren und um eine zusätzliche Ablenkung des Auges in Richtung des Störeinflusses zu vermeiden.

Dieser Kompensationsmechanismus könnte zum Beispiel zum Einsatz kommen, wenn wir trotz Konzentration auf eine motorische Handlung – wie etwa das Lenken eines Fahrzeugs – von einem Ereignis in der Umgebung abgelenkt werden. Dass der Ablenkung der Aufmerksamkeit nicht unmittelbar das Fahrzeug folgt, haben wir vermutlich Zellen im Bewegungszentrum im Gehirn zu verdanken, die blitzschnell für Ausgleich in die Gegenrichtung sorgen. Eine solche Kompensationshandlung kann offenbar, wie im beschriebenen Experiment der Fall, unbewusst ausgeführt werden.

Das motorische System programmiert also auf eine visuelle Ablenkung hin eine Kompensationsbewegung in die Gegenrichtung zum störenden Objekt. Dieses Verhalten deutet darauf hin, dass Gehirnzellen im Bewegungszentrum neben einer Mittelung von Bewegungsvektoren noch andere Algorithmen verwenden. Die hier gewonnenen Erkenntnisse tragen somit zum grundlegenden Verständnis unserer visuellen Wahrnehmung und der Steuerung unseres Verhaltens bei, haben darüber hinaus aber auch ganz praktische Konsequenzen. Schon jetzt können auf dieser Grundlage Trainingsprogramme für Patienten mit Bewegungsblindheit entwickelt werden. Langfristig könnte Wissen über die Funktionsweise der Bewegungswahrnehmung auch in der Sensorentwicklung für die automatische Fahrzeugführung zum Einsatz kommen. Es ist vorstellbar, dass Autos in Zukunft nicht nur mit Einpark- und Navigationshilfen, sondern auch mit Kollisionswarnsystemen mit automatischer Gegenlenkung ausgestattet werden. Bis diese Systeme jedoch ein unfallfreies Fahren erlauben und ebenso sensitiv und angepasst reagieren wie der Mensch, ist wohl noch eine Reihe von Probefahrten notwendig. ■

Text: Miriam Spering

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