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MATHE ALS KULT

Astronomie|Physik Gesellschaft|Psychologie

MATHE ALS KULT
Nach Jahrhunderten im Elfenbeinturm wollen Mathematiker jetzt die Öffentlichkeit von der Faszination der Rechenkunst überzeugen.

„Wer ein mathematisches Buch nicht mit Andacht ergreift und es wie Gottes Wort liest, der versteht es nicht”, behauptete der Dichter Novalis vor 200 Jahren. Kurz zuvor hatte er ein Naturkunde- und Mathematikstudium begonnen. Sein Fazit: „Alle göttlichen Gesandten müssen Mathematiker sein.” Mathematik – das klingt nach Elite, Genius und einem direkten Draht zur Chefetage des Universums. Bereits der spätmittelalterliche Theologe Nikolaus von Cues hatte behauptet: „Können wir uns dem Göttlichen auf keinem anderen Wege als durch Symbole nähern, so werden wir uns am passendsten der mathematischen Symbole bedienen, denn diese besitzen unzerstörbare Gewissheit.” Doch seit ein paar Jahren haben viele Mathematiker genug vom Dialog mit den Göttern. Die neuen Pragmatiker gehen in die Öffentlichkeit: 1999 wurde das Rechenmuseum „Arithmeum” in Bonn gegründet. Im selben Jahr initiierte der Mathematik-Professor Ehrhard Behrends an der Freien Universität Berlin „mathematik.de”, ein mathematisches Internet-Angebot für Nichtmathematiker. Drei Jahre später eröffnete der bdw-Kolumnist Albrecht Beutelspacher sein Mathe-Museum „Mathematikum” in Gießen. Und das Jahr 2008 wurde auf Betreiben der Wissenschafts-Community zum „Jahr der Mathematik”, mit Ausstellungen, Schulprogrammen – und einer aktiven Lobbyarbeit in den Medien. „Ich glaube, man kann den Anfang der neuen Sichtweise auf den Beginn der Neunzigerjahre datieren. Wichtig war der Weltkongress der Mathematiker 1998 in Berlin: Damals gab es erstmals Veranstaltungen für die Öffentlichkeit”, erinnert sich Behrends.

Sein Anliegen: „Als ich als Schüler anfing, mich für Mathematik zu interessieren, war es sehr schwierig, an verlässliche Informationen zu kommen, die über den Schulstoff hinausgingen. Heute sollen alle ohne Mühe entsprechende Anregungen erhalten können. Mathematik ist schließlich für die Lösung vieler aktueller Fragestellungen und physikalischer Probleme unverzichtbar.” „Wir brauchen Mathematiker und mathematikverständige Leute, denn das Leben wird immer mathematischer”, ist auch die Journalistin und Mathematikerin Marianne Freiberger überzeugt. „Galileo Galilei sagte, die Mathematik sei die Sprache des Universums, und das stimmt: Sie kann mehr in der Welt beschreiben als jede andere Wissenschaft. Ich finde, jeder sollte wenigstens ein bisschen davon sprechen können – als persönliche Bereicherung, aber auch aus praktischen Gründen.”

Freiberger ist Mitherausgeberin des Plus Magazine, einem aus öffentlichen Mitteln und privatem Sponsoring finanzierten britischen Internet-Magazin, das 1997 an den Universitäten von Cambridge und Keele entstand. Heute ist es Teil des Millenium Mathematics Project, einer Initiative, die die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber Mathematik verändern will – mit Vorträgen an Schulen oder mit Internet-Plattformen, die Schulen und Wissenschaft vernetzen. Hochabstrakte Geometrie oder abstrakter Zahlenzauber ist Freiberger fremd: „Ich glaube, man kann so ziemlich alle wichtigen mathematischen Ideen kommunizieren, wenn man sich nur die Mühe macht”, sagt sie. Der Erfolg gibt ihr recht: Mehr als 3,3 Millionen Besuche verzeichnete die Plus-Webseite im Jahr 2007 – obwohl die dargestellte Mathematik kein leichter Stoff ist: Die Themen reichen von Statistik in den Medien über die Verbindung von Gruppentheorie mit dem Spiel Solitär bis hin zu den philosophischen Konsequenzen der Gödel-Theoreme zu Wahrheit und Beweisbarkeit.

HEILIGER TIEFSINN

Warum haben die Mathematiker so lange gebraucht, den Weg in die Öffentlichkeit zu suchen? Die Gründe sind kaum erforscht. Fest steht: Viele Mathematiker genossen – und genießen bis heute – den Ausblick aus den oberen Stockwerken des Elfenbeinturms. Georg Christoph Lichtenberg traf Ende des 18. Jahrhunderts den Nagel auf den Kopf, als er bemerkte: „Die sogenannten Mathematiker von Profession haben sich, auf die Unmündigkeit der übrigen Menschen gestützt, einen Kredit von Tiefsinn erworben, der viele Ähnlichkeit mit dem von Heiligkeit hat, den die Theologen für sich haben.” Albrecht Beutelspacher, der zu Deutschlands wichtigsten Mathematik-Vermittlern zählt, drückt es so aus: „Mathematiker leiden an Kommunikationsunfähigkeit. Sie sind nicht nur überzeugt, dass ihre Wissenschaft Nichtmathematikern grundsätzlich nicht vermittelt werden kann, sondern sie glauben auch, dass ihre Kollegen nichts davon verstehen.” Doch Arroganz ist nur ein Aspekt. Wissenschaftshistoriker Arne Schirrmacher spricht von „ Transaktionskosten”, die jeder Wissenschaftler zu leisten hat, wenn er Inhalte in die Öffentlichkeit transportieren will. „Dabei handelt es sich insbesondere um die Abwägung von Vermittlungsvorteilen (Ressourcenmobilisierung, öffentliche Geltung) und Nachteilen bezüglich Reputation und Einfluss innerhalb der Wissenschaft.” Einfacher ausgedrückt: Wer als Wissenschaftler in die Öffentlichkeit geht, muss seine Arbeit so beschreiben, dass es nicht nur der enge Kollegenkreis versteht. Das verschafft ihm zwar vielleicht Fördergelder und Ruhm, doch sein Ruf als exakter Forscher bekommt möglicherweise Kratzer.

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„Wer sich dem Populären widmet, der hat angeblich keine Kraft mehr für die ,richtige‘ Mathematik”, fasst Behrends das Vorurteil zusammen – ein ernstes Problem in der exaktesten aller Wissenschaften. Obendrein brauchten Mathematiker Jahrhunderte lang kaum Geld – Tafel und Kreide reichten ihnen im Wesentlichen. „Ich glaube nicht, dass Mathe gefördert werden muss. Wenn es die National Science Foundation nicht gäbe und die Regierung die Mathematik in den USA nicht finanziell unterstützte, dann hätten wir eben halb so viele Mathematiker wie jetzt. Darin sehe ich kein Problem”, wurde der amerikanische Mathematiker Paul Halmos noch 1984 in einem Interview zitiert. Kein Wunder, dass Mathematiker über den Erfolg vereinzelter Mathe-Bestseller staunen – zum Beispiel von Simon Singhs Buch „Fermats letzter Satz”. Dagegen berichten Dutzende Magazine, Bücher und TV-Shows über Technik, Physik und andere Naturwissenschaften – auch deshalb, weil es einen großen Pool an Naturwissenschaftlern gibt, die bereit sind, dort aufzutreten. Physiker, Techniker oder Mediziner sind darin trainiert, in Öffentlichkeitsarbeit zu investieren – schließlich kosten Labors viel Geld. „Für Mathematiker gab es lange genug Ressourcen ohne jegliche Bemühungen”, meint Ehrhard Behrends.

BERECHNETE ATOMBOMBE

Freiberger nennt noch einen Grund für die Zurückhaltung: „Dass andere Wissenschaften sich mit der Öffentlichkeit leichter tun, liegt hauptsächlich an der Natur der Mathematik”, glaubt sie. „ Mathematik ist abstrakt. Sie dreht sich nicht um konkrete Dinge – Dinosaurier, Hieroglyphen oder die Frage nach dem Ursprung des Universums –, sondern um Formen und Strukturen. Es ist der Sinn der Sache, die Strukturen von konkreten Beispielen zu lösen. Strukturen, Formen und Ideen sind in Worten schwer zu beschreiben, deswegen haben Mathematiker ja auch ihre eigene Sprache aus Symbolen erfunden. Diese wieder zurück zu übersetzen, so dass jeder verstehen kann, worum es geht, ist gar nicht so einfach.”

Nicht zuletzt hielt der Rückzug in den Elfenbeinturm auch ethische Diskussionen von der Mathematik fern. „Man sagt, eine Wissenschaft sei nützlich, wenn ihre Entwicklung die Ungleichheiten in der Verteilung von Gütern verstärkt oder wenn sie die Zerstörung menschlichen Lebens fördert”, polemisierte etwa der Zahlentheoretiker Godfrey Hardy 1940 hämisch gegen die Kollegen aus den Naturwissenschaften. Und er behauptete: „ Mathematik spielt für den Krieg keine Rolle. Bislang hat niemand einen kriegerischen Nutzen der Zahlentheorie entdeckt.” Er ignorierte, dass fast gleichzeitig sein Kollege John von Neumann damit begann, den Kalten Krieg mit Mitteln der Mathematik durchzuspielen und die Atombombe durchrechnete. Als „weltferne Hilfswissenschaftler” hatten die Mathematiker Kreidestaub statt Blut an den Fingern. Speziell die deutsche Mathematik trägt obendrein ein Erbe aus dem 19. Jahrhundert: den Kampf um den humanistischen Bildungskanon. Konkurrenten der Mathematik waren Griechisch, Latein und Geschichte. Das führte zu einer immer tieferen Kluft zwischen „reiner Mathematik” mit Standesdünkel und einem Stammbaum bis Euklid auf der einen Seite und angewandter Mathematik auf der anderen Seite, die sich an Technischen Hochschulen und in Ingenieurfächern mit wenig Reputation verbarg. Mathematiker wie Felix Klein versuchten zwar die Kampfhähne für eine Reform der höheren Bildung zu versöhnen, blieben aber Einzelfälle. Klein war nicht nur Organisator, er war auch organisiert – als Mitglied in zahlreichen Vereinen und Mitbegründer der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Die veranstaltete 1893 die erste Mathe-Schau Deutschlands unter der Leitung von Kleins Schüler Walther von Dyck. Zwischen Lorbeerbäumchen und Blumenschmuck platzierte jener in vier Sälen der Technischen Hochschule München die Büsten von Gauß und Leibniz neben Rechenmaschinen und Geometrie-Modellen. Dyck erklärte: „Unsere Vorführungen kennzeichnen an ihrem Teile, wie je länger, je mehr die mathematische Formulierung die gesamten Naturwissenschaften durchdringt, und sie zeigen auch, wie rückwirkend unsere Wissenschaft selbst immer wieder neue Anregungen, neue Fragestellungen, neue Aufgaben aus der Fülle der Erscheinungen schöpft.”

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Es war ein Versuch, angewandte und reine Mathematik zumindest in den Ausstellungsräumen zu versöhnen. Mit über 1000 Besuchern war die Veranstaltung ein voller Erfolg. Eine abgespeckte Version landete dann als Mathezimmer im Deutschen Museum München – und blieb für viele Jahrzehnte die einzige Mathe-Präsentation Deutschlands. Erst 100 Jahre später bringt eine neue Generation von charismatischen und kameratauglichen Mathematikern ihr Fach in die Nachrichten und auf die Bühne: Wissenschaftler wie Beutelspacher, Behrends oder Martin Grötschel, derzeit Generalsekretär der International Mathematical Union, und Günther M. Ziegler, Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung und Mitorganisator des Wissenschaftsjahres. Und die Community spielt mit – bei 3D-Präsentationen und Lasershows vor breitem Publikum. Entscheidend war dabei auch das neue Selbstbewusstsein der angewandten Mathematik, die sich jetzt stolz präsentiert und dabei die Grundlagenforschung mitnimmt. Das Berliner DFG-Forschungszentrum Matheon ist ein Beispiel: 2000 wurde es als Zusammenschluss der drei Hochschulen und zweier Forschungsinstitute in der Stadt gegründet. Es hat sich die Modellierung, Optimierung und Simulation realer Prozesse auf die Fahnen geschrieben. Um ähnliche Anwendungen geht es auch im Bonner Hausdorff-Zentrum für Mathematik – ein frisch aus der Taufe gehobener Exzellenz-Cluster aus vier mathematischen Universitätsinstituten, dem Max-Planck-Institut für Mathematik und dem Institut für Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften. Es befasst sich mit Themen, die von der Spieltheorie an den Finanzmärkten bis zu geometrischen Strukturen in der Quantenmechanik reichen. Und es geht in die Öffentlichkeit. Dass die neuen Forschungscluster die Medien nicht ignorieren, liegt aber auch an veränderten Förderbedingungen – und zwar in ganz Europa. „Heute wird in allen Wissenschaften von vielen Geldgebern – also Regierungen – verlangt, dass Forscher sich mehr um Popularisierung bemühen. Das liegt vielleicht daran, dass heute schnelle und messbare Ergebnisse gewünscht werden”, spekuliert Marianne Freiberger. Weil Qualität sich schlecht messen lässt, muss man gute Stimmung erzeugen – und das geht über die Medien. Obendrein soll die PR Nachwuchs bringen: „Der ,Kampf um Talente‘ spielt seit etwas mehr als zehn Jahren eine Rolle”, bestätigt Behrends.

In Großbritannien gibt es ähnliche Erfahrungen: „Hier ist vor einigen Jahren die Zahl der Mathestudenten drastisch zurückgegangen, und man musste eine neue Generation motivieren”, berichtet Freiberger. In Deutschland zehrt man zwar noch von einem Studentenberg: Mit 5100 Absolventen in Mathematik (davon 54 Prozent Frauen) verzeichnete das Statistische Bundesamt für 2006 so viele Nachwuchsmathematiker wie noch nie zuvor. Doch die Zahl der Studienanfänger in Mathematik sinkt. ■

ANDREAS LOOS arbeitet als Mathematiker und Wissenschaftsjournalist. Die Rechenkunst ist für ihn weder weltfremd noch unvermittelbar.

von Andreas Loos

KOMPAKT

· Lange schotteten sich die Mathematiker vor der Öffentlichkeit ab. Nur Ausstellungen und Knobelaufgaben in Zeitschriften erreichten breite Bevölkerungskreise.

· Doch jetzt arbeitet eine neue Generation von pragmatischen Wissenschaftlern europaweit daran, Mathematik populär zu machen.

MEHR ZUM THEMA

Internet

Webangebote zum Jahr der Mathematik: www.mathematik.de www.plus.maths.org

Ausstellungen

Arithmeum (Bonn): www.arithmeum.de

Mathematikum (Gießen): www.mathematikum.de

Mathema (Berlin): www.mathema.de

Zahlen bitte! (Paderborn): www.hnf.de

Zwölf sind Kult (Bonn): www.rlmb.lvr.de

Forschungszentren

Matheon: www.matheon.de

Hausdorff-Center: www.hausdorff-center.uni-bonn.de

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