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Komponist der Quantensymphonie

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Komponist der Quantensymphonie
Die Entdeckung der Quantenmechanik in den zwanziger Jahren hat das Weltbild der Physik radikal verändert. Einer ihrer geistigen Väter, der deutsche Physiker Werner Heisenberg, würde am 5. Dezember 100 Jahre alt.

„Die Bahn entsteht erst dadurch, daß wir sie beobachten.“ So fasste der 25-jährige Werner Heisenberg 1927 eine der wundersamsten Wendungen der modernen Wissenschaft zusammen: die Revolution der Physik namens Quantenmechanik. Elektronen als punktförmige Elementarteilchen, die in Atomen auf festen Bahnen einen im Vergleich zu ihnen mächtigen Atomkern umlaufen – so stellte man sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts den innersten Aufbau der Materie vor. Atomkerne hatten demnach von Natur aus einen Ort, Elektronen bewegten sich auf einer Bahn, und beide galt es, möglichst genau zu berechnen. Heisenberg merkte früher als andere Physiker, dass den Atomen mit diesen Mitteln der klassischen Physik nicht beizukommen war und völlig neue Lösungen gebraucht wurden.

Im Frühjahr 1925 brachte der 24-Jährige genug Entdeckermut auf, um die physikalischen Traditionen aufzugeben. Er betrat einen Raum, wo es nur unanschauliche und sogar unwirkliche – „ imaginäre“ – Größen gab. Wer nur oberflächlich zur Kenntnis nimmt, was Heisenberg fertig brachte, hat vielleicht den Eindruck, hier hätte einer lediglich eine mathematische Gleichung, die nicht ganz stimmig für die behandelten Probleme war, durch eine Bessere ersetzt. Doch Heisenberg leistete entschieden mehr: Er stellte eine ganz neue Art von Gleichung auf – und gab mit ihr der mathematischen Beschreibung der Natur eine neue, imaginäre Dimension. Das Erschließen dieser bis dato unbekannten Dimension stellt den Geniestreich der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts dar.

Heisenberg war für die Physik so etwas wie Leonardo da Vinci für die Malerei: Vor Leonardo bemühten sich die Maler darum, die Konturen einer Gestalt oder eines Gesichts möglichst genau zu zeichnen – Leonardo überließ die Wahrnehmung der Formen und das damit verbundene Erkennen dem Betrachter selbst.

Da sich Heisenberg neben der Physik ausgiebig mit Musik beschäftigte, liegt auch hier ein Vergleich nahe: Die für Heisenberg zeitgenössische Musik, etwa von Claude Debussy oder Maurice Ravel, bietet das Phänomen des Farbklangs, der in der eher rhetorischen Barockmusik nicht zu finden ist. Auf dem Weg von Bach über Beethoven bis Berg wurden nicht nur neue Melodien, sondern auch neue Musikgattungen und Harmonien kreiert. Die Musik wurde sprachähnlicher, sie individualisierte sich. Heisenberg fand in der Physik eine ähnlich neue Art der Komposition. Während die klassische Physik wie ein Konzert von Bach klingt, hört man bei ihm den späten Beethoven und den frühen Schönberg.

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Vor Heisenbergs Begründung der modernen Quantenphysik ging es bei jeder mathematischen Formulierung eines physikalischen Problems um reale, messbare Größen, die wie Zahlen zu behandeln waren. Die Gleichungen enthielten etwa Geschwindigkeiten, Massen und Volumina, und niemand erwartete, dass sich das jemals ändern würde. Was sollten Naturgesetze anderes sein als Verbindungen zwischen Größen aus der Natur?

Nach Heisenbergs Durchbruch sah die Welt anders aus. Seine Gesetze – wie später die Gleichungen von Erwin Schrödinger – handeln davon, was ein Wissenschaftler über die Welt wissen kann. Und die mathematische Fassung dieses Vorhabens gelingt mit Gebilden, die mehr als eine reale Dimension haben. Heisenberg entdeckte, dass die grundlegenden Gesetze der Natur in Abhängigkeiten zwischen Größen bestehen, die in der für die Wahrnehmung zugänglichen Natur nicht existieren. Unsere Wirklichkeit entsteht nicht aus dem Raum unserer Anschauung, sondern aus einer Sphäre, die zwar – über wenigstens eine Dimension – mit unserer Lebenswirklichkeit Kontakt hält, darüber hinaus aber ihre eigene Dimension hat.

Heisenberg selbst stellt sein Erlebnis in seiner Autobiografie dar, deren entscheidende Passagen im Mai 1925 beginnen, als er in Göttingen als Assistent bei Max Born arbeitete. Der 23-Jährige litt in diesen Tagen unter Heufieber, und die Schwellungen in seinem Gesicht nahmen so stark zu, dass er um Befreiung von seinen Dienstpflichten bitten musste. Auf ärztlichen Rat reiste er für 14 Tage auf die Insel Helgoland, um sich hier zu erholen. Auf Helgoland gelang ihm seine Großtat.

„Geschlafen hab‘ ich eigentlich gar nicht“, erzählte er seinem baldigen Freund und späteren Schüler Carl Friedrich von Weizsäcker, „ein Drittel des Tages habe ich die Quantenmechanik ausgerechnet, ein Drittel bin ich in den Felsen herumgeklettert und ein Drittel hab‘ ich Gedichte aus dem ‚Westöstlichen Divan‘ auswendig gelernt.“ Vielleicht hatte Heisenberg die wohl berühmteste Zeile aus dem Divan – „Dieses: Stirb und werde!“ – im Sinn, als er alles riskierte, um die Atome zu verstehen. Er musste die alte Theorie endgültig sterben lassen, um Platz für die neue zu schaffen. In den ersten Monaten des Jahres 1925 hatte sich bei Heisenberg nach langen Diskussionen mit Wolfgang Pauli die Vorstellung gefestigt, „dass man gar nicht nach den Bahnen der Elektronen im Atom fragen dürfe“, um eine Theorie der Materie zu bekommen. Denn erstens lassen sich Teile des Atoms gar nicht beobachten, und zweitens prallen bei den im damaligen physikalischen Gedankengut fest verankerten Elektronenbahnen das klassische Denken ohne Quanten und das unklassische Denken mit Quanten aufeinander. Es galt, das Beobachtbare in eine angemessene Form zu bringen: Frequenzen und die Intensität des Lichts, das Atome aussenden und das in Form von Spektrallinien messbar ist. Als sich Heisenberg daran machte, geschah Folgendes:

„In Helgoland gab es außer den täglichen Spaziergängen auf dem Oberland und den Badeunternehmungen zur Düne keinen äußeren Anlaß, der mich von der Arbeit an meinem Problem abhalten konnte, und so kam ich schneller voran, als es mir in Göttingen möglich gewesen wäre. Einige Tage genügten, um den am Anfang in solchen Fällen immer auftretenden mathematischen Ballast abzuwerfen und eine einfache mathematische Formulierung meiner Frage zu finden. In weiteren Tagen wurde mir klar, was in einer solchen Physik, in der nur die beobachtbaren Größen eine Rolle spielen sollten, an die Stelle der [alten] Quantenbedingungen zu treten hätte. Es war auch deutlich zu spüren, daß mit dieser Zusatzbedingung ein zentraler Punkt der Theorie formuliert war, daß von da ab keine weitere Freiheit mehr blieb.

Dann aber bemerkte ich, daß es ja keine Gewähr dafür gäbe, daß das so entstehende mathematische Schema überhaupt widerspruchsfrei durchgeführt werden könnte. Insbesondere war es völlig ungewiß, ob in diesem Schema der Erhaltungssatz der Energie noch gelte, und ich durfte mir nicht verheimlichen, daß ohne den Energiesatz das ganze Schema wertlos wäre. Andererseits gab es in meinen Rechnungen auch viele Hinweise darauf, daß die mir vorschwebende Mathematik wirklich widerspruchsfrei und konsistent entwickelt werden könnte, wenn man den Energiesatz in ihr nachweisen könnte.

So konzentrierte sich meine Arbeit immer mehr auf die Frage der Gültigkeit des Energiesatzes, und eines Abends war ich so weit, daß ich daran gehen konnte, die einzelnen Terme in der Energietabelle durch eine nach heutigen Maßstäben reichlich umständliche Rechnung zu bestimmen. Als sich bei den ersten Termen wirklich der Energiesatz bestätigte, geriet ich in eine gewisse Erregung, so daß ich bei den folgenden Rechnungen immer wieder Rechenfehler machte. Daher wurde es fast drei Uhr nachts, bis das endgültige Ergebnis der Rechnung vor mir lag. Der Energiesatz hatte sich als gültig erwiesen und – da dies ja alles von selbst, sozusagen ohne jeden Zwang herausgekommen war – so konnte ich an der mathematischen Widerspruchsfreiheit und Geschlossenheit der damit angedeuteten Quantenmechanik nicht mehr zweifeln.

Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken. Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir fast schwindlig bei dem Gedanken, daß ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte.“

Es ist dramatisch, was Heisenberg schildert. Und es fällt auf, dass er zweimal ausdrücklich nicht von „einem“, sondern von „ seinem“ Problem spricht, das er lösen will. Die Fragestellung kam aus ihm selbst und diese Verinnerlichung erlaubte es ihm, den mathematischen Ballast abzuwerfen, der das Erbe der alten Physik darstellt. Dass er sich danach in einer Lage wiederfand, in der ihm „keine weitere Freiheit mehr blieb“, verwirrte zwar den Wissenschaftler, nicht aber den Künstler Heisenberg. Was jetzt feststand, war die Form, der sich jeder Künstler unterwirft – etwa die Sonatenform in der Musik oder das Bildformat in der Malerei.

Heisenberg machte eine ähnliche Erfahrung wie der zeitgenössische Komponist Arnold Schönberg, der eine neue Harmonielehre für die Musik aufstellte – die Zwölftonmusik – und den Augenblick anstrebte, in dem es keine freie Note mehr gab. Schönberg hatte zwölf gleichberechtigte Töne, die er nach den Gesetzen der Harmonie anordnen musste. Wenn er das Gesetz kannte, blieb ihm keine Freiheit – im Sinne von Willkür – mehr.

Was für Schönberg die Noten, waren für Heisenberg die mathematischen Symbole. Indem er das physikalische Naturgesetz sah, blieb seinen theoretischen Tönen keine Freiheit mehr. Er musste ihre Raumanweisung ausführen und die „Melodie“, die dabei entstand, war das Gesetz der Atome. Damit hatte Heisenberg sein Ziel, eine Theorie der Atome zu formulieren, in der nur beobachtbare Größen vorkommen, erreicht. Dies gelang, indem er den Messvorgang in die Gleichung einbaute.

Damit verflüchtigte sich der Traum der Wissenschaft, es könne eine objektive Beschreibung der Wirklichkeit geben. Mit der Quantentheorie wird deutlich, dass auch in der Naturwissenschaft nicht vom Einfluss des Beobachters abgesehen werden kann. Im Innersten der Atome findet man keine objektiven Fakten, sondern sein eigenes Wirken. Die Physik handelt mehr vom menschlichen Wissen von Atomen und weniger von diesen selbst – und Heisenberg war einer der Ersten, der dies erfahren hat: „Die Bahn entsteht erst dadurch, daß wir sie beobachten.“

Ernst Peter Fischer

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